Das Wunder des Abschiednehmens

Vom Umgang mit todkranken ungeborenen Kindern.

Gespräch mit Tisa Żawrocka-Kwiatkowska, der Begründerin der Gajusz-Stiftung in Łódź/Lodsch.

Wie viele Kinder haben Sie gemeinsam mit deren Eltern auf dieser Welt in Empfang genommen und wie viele verabschiedet?

Die Gajusz-Stiftung gibt es seit mehr als zwanzig Jahren. Sie hilft unheilbar kranken Kindern, indem sie sie hospizmäßig zu Hause oder stationär betreut. Unser stationäres, pränatales, also vorgeburtliches, Hospiz besteht seit sieben Jahren. Inzwischen bin ich bei knapp zwanzig Geburten dabei gewesen, aber das sind beileibe nicht alle. Wir haben oder hatten insgesamt etwa einhundert Familien in Betreuung.

Tisa Żawrocka-Kwiatkowska.

Können Sie sich an alle erinnern?

Ich erinnere mich sehr gut an Vornamen und an die Geschichten. Ich lösche die Fotos auf meinem Handy nicht. Gemeinsam haben wir die schwierigsten und wichtigsten Augenblicke erlebt. Das verbindet, und zwar, das wird mir jetzt bewusst, über Jahre.

Welche Geschichte hat sich Ihnen am tiefsten eingeprägt?

Es waren viele. Zum Beispiel diese. Sie passierte kurz vor Ausbruch der Corona-Epidemie. Die Mutter war unter zwanzig, schön wie eine Madonna und ungewöhnlich erwachsen. Sie gebar einen Sohn, auf den sie sehnsüchtig wartete. Das ungeborene Kind war schwer krank und starb sofort nach der Niederkunft. Sie sagte zu ihm, als sie ihn im Arm hielt: „Wie gut, dass du nicht lebst, dass du nicht leidest. Ich hatte solche Angst davor. Ich habe für dich alles getan, was ich tun konnte.“

Und der erste Patient?

Er hieß Mieszko. Seine Mutter hatte zuvor zwei Fehlgeburten. Deswegen entschied sie sich dafür eine vorgeburtliche Untersuchung durchzuführen. Sehr schnell hatte sich herausgestellt, dass der Junge, der unter ihrem Herzen heranwuchs, einen genetischen Defekt aufwies. Die Diagnose wurde mehrere Male bestätigt. Man legte ihr die vorgeburtliche Tötung des Kindes nahe. Sie hat abgelehnt.

Es war eine Monosomie des 13. Chromosoms. Neunzig Prozent der ungeborenen Kinder mit diesem Defekt sterben daran bis zum dritten Schwangerschaftsmonat. Die verbleibenden zehn Prozent leben höchstens bis zum siebenten Monat. Etwa 0,4 Prozent kommen auf die Welt. Das am längsten lebende Baby mit diesem Defekt starb nach 29 Tagen.

Wie hat sich die Mutter entschieden?

Sie wollte es auf die Welt bringen. Sie genoss jeden Moment der Schwangerschaft. Sie freute sich über die Schwangerschaft, wie jede Frau, die ein Kind erwartet. Sie wollte die Zeit so gut es geht nutzen, denn ihr war klar, dass die Zeit umso knapper wurde, je näher die Geburt rückte. Der Tag der Geburt konnte zugleich der Todestag sein.

Also verbannte sie alle Kalender und alle Uhren aus ihrem Leben. Sie betete, dass Mieszko lebend geboren wird. Sie wollte, dass die Großeltern ihn sehen, dass er getauft wird, dass er die Liebe der Familie erfährt. Die Familie wollte von ihm Abschied nehmen.

„Ich hatte einen schönen Traum. Er währte 40 Wochen und 4 Tage lang. Ich will ihn bis in die kleinsten Einzelheiten in Erinnerung behalten. Mein Traum, mein Wunsch, mein allerliebster Sohn ist heute im Himmel und schaut von dort auf mich. Er umsorgt mich von dort, »mein kleiner Familienheiliger«. Er gab uns etwas Besonderes: den Glauben daran, dass es Wunder gibt, dass die Liebe siegt, dass die Menschen gut sind“, so hat sie ihre Geschichte beschrieben. Wir haben sie später veröffentlicht.

Hat sie es geschafft, Abschied zu nehmen?

Ja. Sie konnte einige Augenblicke mit ihrem Sohn verbringen. Ihn begrüßen und verabschieden. Die nächsten Angehörigen haben ihn kennengelernt. Er wurde getauft. Die Taufpaten haben ihn im Arm gehalten. Die Großeltern haben seine Händchen gestreichelt. „Ich bin stolz, dass ich einen solchen Sohn gehabt habe. Niemals würde ich anders handeln. Ich habe auf Dich nicht verzichtet, mein kleiner Sohn. Ich liebe Dich für immer. Deine Mutter“, schrieb sie später in ihrem Brief.

Einmal haben wir Zwillinge in unserer Obhut gehabt. Der Junge kam gesund und kräftig zur Welt, seine Schwester ohne ein Händchen und ohne Nieren. Die Eltern wollten sie würdig verabschieden, und so ist es geschehen. Das Mädchen lebte acht Stunden lang. Als es starb, weinte der Bruder eine Stunde lang so heftig, dass man ihn auf keine Weise beruhigen konnte.

Polens First Lady Agata Kornhauser-Duda besuchte die Gajusz-Stiftung im November 2015.

Da war auch Janek, der kurz vor Weihnachten geboren wurde. Er lebte zwanzig Minuten lang. Er hat es geschafft, sich an die Mutter anzuschmiegen, an seinem Fäustchen zu nuckeln. Er wurde getauft. Vater und Oma konnten ihn im Arm halten. Der Fotograf machte wunderschöne Bilder. Für die Eltern sind sie von unschätzbarem Wert, weil sie die Erinnerungen wachhalten. Janek starb im Arm der Mutter, angeschmiegt, still, ohne Schmerzsymptome. Er hörte auf, an seinem Fäustchen zu nuckeln. Jedes Kind ist eine andere Geschichte.

Halten Sie Kontakt zu den Müttern?

Ja. Jahrelang. Ich weiß, was sie machen. Einige nähen für uns wunderschöne Kleidchen und Steckkissen, in denen Kinder bestattet werden können. Von keiner der Mütter habe ich jemals gehört, sie würde es bereuen, ihrem Kind ermöglicht zu haben, auf die Welt zu kommen. Im Gegenteil, sie wähnen sich glücklich, weil sie ihre Kinder kennenlernen konnten.

Warum nehmen die Eltern das alles auf sich?

Ihnen ist die Gewissheit wichtig, alles was möglich war, und manchmal mehr als das, für ihr krankes Kind getan zu haben. Je schwieriger es am Anfang ist, umso leichter ist es danach, damit fertig zu werden. Sie haben ihr Kind gesehen, von ihm Abschied genommen und es, wie es sich für einen Menschen gehört, bestattet. Es tut furchtbar weh, aber sie sind mit sich im Reinen. Das verleiht Kraft. Sie können am Grab ihres Kindes trauern und irgendwann zum normalen Leben zurückkehren.

Ihr Kind wurde nicht wie medizinischer Abfall, zusammen mit amputierten Gliedmaßen und herausoperierten krebskranken Organen, entsorgt. Es ist nicht, nach Einnahme von Abtreibungspillen, die Toilette hinuntergespült worden. Mit diesem Trauma werden viele Frauen ihr Leben lang nicht fertig.

Gab es Eltern, die es bereut haben?

Sicher kann man nie sein. Ich habe von einer der Mütter gehört, dass sie ihr erstes ungeborenes Kind beseitigen ließ, als sie von seiner schweren Krankheit erfuhr. Das habe bei ihr sehr tiefe seelische Wunden hinterlassen, die die Zeit nicht heilen kann. Deswegen hat sie ihr zweites unheilbar krankes Kind bei uns auf die Welt gebracht.

Schrecken die Entstellungen der Kinder die Eltern nicht ab?

Manche sehr. Auf diesen Anblick muss man sich vorbereiten. Mit einer der Mütter haben wir Fotos solcher Kinder angeschaut. Sie wollte sich abhärten. Es war sehr schwierig.

Nach der Geburt habe ich die Kleine angezogen, sie in eine Decke gehüllt und habe sie erst dann der Mutter gegeben. Sehr langsam, in ihrem Tempo hat sie ihr Töchterchen enthüllt.

Manche Kinder kommen wirklich sehr entstellt zur Welt, aber für die Frauen, die sie geboren haben, sind sie ihre allerliebsten Schätze. Eine der Mütter hatte sehr große Angst, ihr Kind anzuschauen. Sie nahm es mit geschlossenen Augen in den Arm und begann ihm ein Wiegenlied zu singen, das sie während der ganzen Schwangerschaft gesungen hatte. Irgendwann öffnete sie die Augen, sah ihr Kind und sagte: „Mein Sohn, was bin ich für eine Mutter! Ich hatte Angst, dich anzuschauen, und du bist so schön“. Eine andere Mutter bat mich, allen Frauen in dieser Situation zu sagen, dass am Ende die Liebe stärker sein wird als die Angst.

Der Anblick ist manchmal kaum zu verkraften. Kann man die Mutter auf eine solche Begegnung vorbereiten?

Man kann, aber nicht immer. Für mich ist der Anblick eines schwer kranken Kindes nicht abstoßend. Unsere Hospiz-Mitarbeiter bereiten die Mutter auf das vor, was sie erwartet. Sie erfährt, wie ihr Kind aussehen wird, wie man ihm helfen kann, was und wie man es der Familie und den Geschwistern sagen soll, und ob sie ihre kranke Schwester oder ihren kranken Bruder zu sehen bekommen sollen. Was nicht heißt, dass die Mütter nicht leiden. Sie leiden, aber sie wissen, was sie erwartet, und haben Menschen um sich, die ihnen helfen.

Haus der Gajusz-Stiftung in Łódź.

Wann beginnt die Hilfe des pränatalen Hospizes?

Sie sollte gleich nach der Diagnose einsetzen. Zuallermeist jedoch passiert das später oder zu spät, weil der Arzt die Patientin nicht darüber informiert hat, dass es unsere Einrichtung gibt. Nur wenige Frauen erfahren von uns im Sprechzimmer. Der Rest gelangt zu uns über Facebook oder weil es ihnen jemand gesagt hat.

Dabei sollte die Standard-Verfahrensweise der Ärzte sein, einfach zu sagen: „Wir überweisen Sie in die Obhut des Pränatal-Hospizes. Die wissen dort, wie man verfährt. Sie haben Psychologen, Genetiker, Gynäkologen, Neonatologen, Kinderärzte und werden sich Ihrer professionell annehmen. Alles ist umsonst, es gibt keine Wartezeiten. Soll ich für Sie einen Termin vereinbaren?“ Leider passiert das sehr selten, auch wenn die Frau das kranke Kind auf die Welt bringen will.

Und was dann?

Die Folge dieser ärztlichen Nachlässigkeit und des fehlenden Prozedere sind große Tragödien. In einem der Krankenhäuser in Łódź gebar eine Mutter, die ihr krankes ungeborenes Kind nicht abtöten lassen wollte, ein hirnloses Baby. Leider hatte sie niemand darauf vorbereitet, was sie erwartet, niemand mit ihr geredet. Die Frau bekam Weinkrämpfe, schrie, wollte niemanden sehen, verfiel in Depression.

Uns ist so etwas niemals widerfahren, weil wir professionell und genau auf solche Fälle vorbereitet sind. Ein pränatales Hospiz ist nicht einfach nur eine Einrichtung. Das ist vor allem eine Art, darüber nachzudenken, wie zu verfahren ist, um den Eltern zu helfen, die auf die Geburt eines schwer kranken Kindes warten. Wir betreuen Schwangerschaften, an deren Ende keine glückliche Entbindung stehen wird.

Zu uns kommen zumeist Eltern, die bestürzt und betäubt sind vor  seelischem Schmerz, die nicht weiterwissen. Es gilt, mit dem riesigen Unterschied fertig zu werden, wie Frauen und Männer mit einer solchen Situation umgehen. Der Psychologe muss versuchen, eine schwere Ehekrise abzumildern oder zu verhindern. Unsere Ärzte müssen bereit sein, sich manchmal sehr viel Zeit für die Eltern zu nehmen, weil Menschen, die einem solchen Stress ausgesetzt sind, große Probleme haben, sich zu konzentrieren, sich zu merken, was ihnen vermittelt wird.

Es geht darum, eine fortwährende medizinische, psychologische und soziale Hilfe zu gewährleisten von der Diagnose an, während der ganzen Schwangerschaft bis zur Niederkunft, die von uns organisiert wird. Das geborene kranke Kind wird im Hospiz oder, wenn es möglich ist, zu Hause von uns betreut.

Kommt es vor, dass Fehldiagnosen gestellt werden und die Kinder gesund geboren wurden?

In den sieben Jahren hatten wir fünf solcher Fälle. Vier Mal wurden Kinder geboren, die nicht schwer, sondern nur leicht oder sehr leicht geschädigt waren. Ein Kindlein war völlig gesund. Wie man sieht, können sich Ärzte irren, können auch die modernsten Geräte für pränatale Untersuchungen irreführende Diagnosen herbeiführen. Es sind jedoch absolute Ausnahmen.

Kam es vor, dass trotz aller gutgemeinten Beratung, die Eltern sich dennoch für die Abtreibung entschieden haben?

Alles, was wir machen, ist auf die Erhaltung des Lebens ausgerichtet. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, ein Leben, das ihm vergönnt ist. Egal ob es zwanzig Minuten oder hundert Jahre lang währen soll. Wir sagen, wie wir helfen können, und wir sagen, dass wir helfen wollen. Aber wir missionieren nicht. Das ist nicht die Aufgabe eines pränatalen Hospizes. Von den etwa einhundert Familien, die zu uns kamen, haben zwei die Abtreibung vorgezogen.

Was muss einhergehen mit dem durch das Verfassungsgerichtsurteil am 22. Oktober 2020 auf kranke, ungeborene Kinder ausgeweiteten Schutz des ungeborenen Lebens?

Dieser ausgeweitete Schutz ist wichtig. Abtreibungen waren möglich, wie es hieß, aufgrund einer schweren Schädigung eines ungeborenen Kindes. Zu mehr als neunzig Prozent aber handelte es sich dabei aber um Kinder mit dem Down- und dem Turner-Syndrom. Lebensfähige ungeborene Menschen wurden aufgrund ihrer Behinderung getötet. Es gibt inzwischen Länder in Europa, die mit Stolz darauf verweisen, dass bei ihnen praktisch keine Kinder mit diesen beiden Krankheiten zur Welt kommen. Das soll bei uns nicht so sein.

Wir sprechen hier aber die ganze Zeit von diesen etwa fünf bis sechs Prozent der Fälle, in denen die Kinder nur geringe Überlebenschancen haben. Was wir jetzt brauchen, ist die Entstehung eines funktionierenden Systems. Die Ärzte überweisen nicht an pränatale Hospize, die Krankenhäuser arbeiten mit ihnen zusammen, mehr schlecht als recht. Das Personal ist nicht geschult im Umgang mit Müttern schwer kranker ungeborener Kinder. Die Mütter leiden sehr darunter, weil sie keine Ahnung davon haben, dass sie fachgerechte Hilfe in Anspruch nehmen können.

Woran mangelt es den pränatalen Hospizen in Polen?

Wir haben knapp fünfzig davon im Land. Es mangelt vor allem an einer guten Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern.

Tisa Żawrocka-Kwiatkowska mit Sohn Gajusz.

Wie entstand die Gajusz-Stiftung?

Sie entstand in einer unruhigen Winternacht des Jahres 1997. In der zweiten Etage des Krankenhauses in der Spornastraße in Łódź. Sie entstand aus Liebe und Angst. Mein mehrmonatiges Kind hatte keinen kompatiblen Knochenmarkspender und die Befunde wurden immer schlechter. Die Ärzte bereiteten mich auf das Schlimmste vor.

Damals kam mir die Idee, eine Stiftung zu gründen, die so heißen sollte wie mein drittes Kind, mein Sohn: Gajusz-Stiftung. Sie sollte kranken Kindern und ihren Familien helfen. Ich habe an ein Wunder geglaubt. Nach gut zehn Tagen wurden die Befunde besser. Gajusz wurde gesund. Er ist inzwischen 24 Jahre alt, fast zwei Meter groß, hat sein Studium in England abgeschlossen.

Kurz nach seiner Genesung habe ich bei Gericht die Registerunterlagen der neu gegründeten Gajusz-Stiftung abgeholt. Seitdem tue ich alles, damit kranke Kinder nicht allein bleiben, so wie das Mädchen aus dem Waisenhaus, das im Isolierzimmer gegenüber dem meines Sohnes starb, festgeklammert an die Hand der Stationshilfe.

Wie entwickelt sich die Tätigkeit der Stiftung?

Zu dynamisch. Wir betreuen mehr als fünfhundert Kinder. Wir lieben sie und wir versuchen mit dem lieben Gott ins Gespräch über eine Verlängerung von Tag und Nacht auf mindestens sechsunddreißig Stunden zu kommen.

Was haben Sie noch vor?

Auf keinen Fall noch größer zu werden. Wir brauchen schon jetzt mehr Mitarbeiter.

Als ich vor vier Jahren bei Ihnen war, habe ich Ania kennengelernt, ein schwer geschädigtes Mädchen, dessen Eltern die Kraft fehlte, es zu pflegen und zu erziehen. Was ist mit ihr passiert?

Es war wichtig, die Eltern zu unterstützen und darin zu bestärken, dem Kind das Leben zu schenken. Sie gaben es anschließend zur Adoption frei. Ania lebt heute in einer Pflegefamilie und ist glücklich. Wunder geschehen bei uns am laufenden Band.

Das Gespräch, das wir, mit freundlicher Genehmigung, leicht gekürzt wiedergeben, erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 8. November 2020.

RdP