15.10.2022. Polen aushungern, Deutschland erlösen

Am 16. Oktober 2022 jährt sich die Ermordung der Enthüllungsjournalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta zum fünften Mal. Das Europäische Parlament widmete diesem Mord bisher nur eine Debatte. Eine zweite soll in diesen Tagen, am Jahrestag des Todes von Galizia, stattfinden. In einem anderen EU-Land, der Slowakei, wurden im Februar 2018 der Enthüllungsjournalist Jan Kuciak und seine Verlobte ermordet. Auch diese Tat war dem Europaparlament nur eine einzige Debatte wert.

Derweil widmete sich dieselbe Institution zwischen Januar 2016 und Dezember 2021 in 27 Debatten Polen. Hinzu kommen unzählige Ausschusssitzungen. Im Durchschnitt also wurde Polen in dieser Zeit alle zwölf Wochen von der linken Mehrheit im EP-Plenum durch Resolutionen an den Pranger gestellt. Länder, in denen politische Morde begangen werden, wurden dagegen mit Einzeldebatten „bestraft“.

Und da ist da noch Bulgarien, das seit seinem EU-Beitritt vor 15 Jahren die Liste der Länder mit der höchsten Korruption und einer gigantischen Verschwendung von EU-Geldern anführt. Zudem handelt es sich um ein Land, das so instabil ist, dass es dort innerhalb von eineinhalb Jahren bereits vier Parlamentswahlen gab. Und das alles ist lediglich einmal im Jahr, jeweils im Herbst, Thema einer EP-Debatte, die völlig folgenlos bleibt. Von Sanktionen gegen Bulgarien redet niemand.

Für Brüssel ist Polen das Problem schlechthin, und die Folgen sind gravierend. Was auf den ersten Blick wie ein groteskes Paradoxon aussieht, ist in Wirklichkeit die brutale Realität der europäischen Politik.

Und die sieht so aus, dass Russland, das in sein Nachbarland einmarschiert ist und dessen Bevölkerung tötet, und Polen, das riesige Anstrengungen zugunsten der Ukraine unternimmt, von Brüssel mit vergleichbar großen Sanktionen belegt werden. Polen wird die Auszahlung von knapp 36 Milliarden Euro aus dem sogenannten Wiederaufbaufonds verweigert, der im Februar 2021 aufgelegt wurde, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in den Mitgliedsstaaten einzudämmen und zu mildern. Der Wert der bisher von der EU geschnürten russischen Sanktionspakete beläuft sich in etwa auf dieselbe Summe.

Auch der Mechanismus, mit dem die EU Druck auf Moskau und Warschau ausübt, ist recht ähnlich. Ihre Institutionen wiederholen: Erfüllt unsere Forderungen und wir werden die Sanktionen aufheben. Nur dass es im Falle Russlands darum geht, Aggression und Mord zu stoppen, während es sich im Falle Polens, im Kern, längst nicht mehr um die Justizreform, sondern um die Erzwingung eines Machtwechsels an der Weichsel handelt.

Zudem gibt Brüssel der Opposition bewusst das Wahlargument in die Hand: „Wählt uns, dann kommt das EU-Geld!“

Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Die Nichtauszahlung der riesigen Summen aus dem Wiederaufbaufonds kann Ratingagenturen leicht dazu veranlassen, die Kreditwürdigkeit des Landes herabzustufen. Heute befindet sie sich auf dem erfreulichen Niveau „A-“ (stabil). In Zeiten der Hochinflation und Energiekrise könnte eine Herabstufung an den Grundfesten der Wirtschaft rütteln, die Unzufriedenheit schüren und der EU-ergebenen Opposition, angeführt von Brüssels Liebling, dem deutschlandhörigen Donald Tusk, zum Wahlsieg verhelfen.

Das weite Entgegenkommen Warschaus in Sachen Justizreform im Frühjahr 2022, zuerst akzeptiert und gelobt, wurde jedenfalls sehr schnell als „unzureichend“ abgelehnt. Neue Forderungen kamen hinzu, deren Erfüllung das polnische Justizwesen vollends ins Chaos stürzen würde. So sollten die vor der Reform ernannten Richter in zweiter Instanz Urteile von Richtern, die nach der Reform berufen wurden (und derer gibt es inzwischen etwa eintausend), nur aufgrund ihres Ernennungsdatums aufheben dürfen. Letztere seien „keine Richter“. Das wäre ein Zustand, in dem sich niemand in Polen mehr eines Gerichtsurteils sicher sein kann.

Die Forderung ist so gefährlich und zugleich absurd, dass sich Brüssel und Berlin gewiss sein können, dass die jetzige polnische Regierung sie auf keinen Fall akzeptieren kann. Und darum geht es auch. Das verspricht eine langwierige Pattsituation und die provokative Verhängung immer höherer Geldstrafen gegen Polen, deren Summe jetzt bereits 250 Millionen Euro übersteigt und sich immer weiter erhöht. Der Sanktionsdruck soll bis zu den polnischen Wahlen im nächsten Herbst wachsen. Nicht von ungefähr sprach die SPD-EU-Politikerin Katharina Barley vom „Aushungern“ Polens, während „Der Spiegel“ zum „Daumenschrauben anlegen“ riet.

Vor allem für Berlin, das hinter den Kulissen diese Vorhaben anregt und steuert, steht viel auf dem Spiel. Endlich, nach acht Jahren, eine ungehorsame und undankbare osteuropäische Regierung loszuwerden, die sich vehement der von Olaf Scholz geforderten „Führungsrolle“ Deutschlands in der EU widersetzt. Die kein zentralisiertes Europa, sondern ein Europa der Nationalstaaten will. Die Reparationen von Deutschland fordert. Die durch die Zusammenarbeit der ostmitteleuropäischen Staaten ein Gegengewicht zu Deutschland aufbauen möchte. Die, die, die…

Während im Falle der russischen Sanktionen Krieg, Tod und Zerstörung auf dem Spiel stehen, geht es bei den polnischen Sanktionen um nackte Macht.

RdP




8.10.2022. L’Europe au menu allemand. Berlin diniert à la carte

Seit einiger Zeit genehmigt die Europäische Kommission am laufenden Band nationale Hilfsprogramme, die Unternehmen und Bürgern bei der Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Energiekrise helfen sollen. Diese für Brüssel unüblich unbürokratische Vorgehensweise ist erfreulich, wäre da nicht das gigantische Ungleichgwicht zugunsten Deutschlands, das den Europäischen Binnenmarkt zu sprengen droht.

Nach Artikel 107 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, darf die Europäische Kommission staatliche Beihilfen genehmigen. Sie sind mit dem gemeinsamen Binnenmarkt vereinbar, wenn sie zur Beseitigung von Schäden dienen, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse in den Mitgliedsstaaten entstanden sind. Es handelt sich um Lohnkostenzuschüsse, die Aussetzung von Steuern bzw. Sozialversicherungsbeiträgen oder direkte Beihilfen für Firmen und Verbraucher.

So erreichte Warschau in diesen Tagen die freudige Nachricht, dass Brüssel einen großen Teil des Finanzschirms in Höhe von umgerechnet gut 15 Milliarden Euro bewilligt hat, mit denen die polnischen Behörden Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen in der Pandemie unter die Arme gegriffen haben. Auf die Freigabe aus Brüssel wartet noch der Teil für Großunternehmen mit mehr als 249 Beschäftigten.

Alles in allem hat Polen in Brüssel drei große nationale Hilfsprogramme zur Akzeptanz vorgelegt. Sie belaufen sich insgesamt auf umgerechnet gut 67 Milliarden Euro. Das macht in etwa 12 Prozent des polnischen Bruttoinlandproduktes (BIP) aus.

Das ist für polnische Verhältnisse sehr viel, aber geradezu ein Klacks im Vergleich zu dem was Deutschland auffährt. Die bisher genehmigten staatlichen deutschen Corona- und Energiebeihilfen belaufen sich auf 990 Milliarden Euro (28 Prozent des BIP). Jetzt soll noch ein weiterer deutscher 200-Milliarden-Schutzschirm für Verbraucher und Firmen, „Doppel-Wumms“ genannt, hinzukommen.

Zum Vergleich: In Frankreich belaufen sich die von der EU genehmigten staatlichen Beihilfen auf 319 Milliarden Euro (13 Prozent des BIP), in Italien auf 204 MIliarden Euro (11,5 Prozent des BIP), in Belgien auf 53 Milliarden Euro (10,5 Prozent des BIP,) in Österreich auf 24 Milliarden Euro (6 Prozent des BIP) und in Spanien ebenfalls auf 24 Milliarden Euro (2 Prozent des BIP).

Das zeigt, was sich die einzelnen Mitgliedstaaten, je nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Spielraum für eine Erhöhung der Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, leisten können und wollen.

Schon jetzt macht das deutsche Paket 50 Prozent aller von der Kommission genehmigten EU-Beihilfen aus, das französische Paket 19 Prozent, das italienische Paket 12 Prozent, das polnische 4 Prozent, das belgische 3 Prozent und die übrigen Pakete belaufen sich jeweils auf nicht mehr als 1,5 Prozent.

Wenn die Kommission bereits jetzt so große Unterschiede in der Höhe der von den einzelnen Mitgliedsstaaten gewährten staatlichen Beihilfen zulässt, stellt sich die Frage, wie es dann mit dem Europäischen Binnenmarkt weitergeht, auf dem die so großzügig geförderten deutschen Unternehmen mit denjenigen konkurrieren werden, die sehr viel weniger oder überhaupt keine staatliche Unterstützung erhalten haben.

Das reiche Deutschland versucht seine Haushalte und Firmen vor den steigenden Energiepreisen zu schützen, offensichtlich ohne sich darum zu scheren, dass staatliche Beihilfen in solch riesigem Umfang gegen die Wettbewerbsbedingungen im gemeinsamen Markt der EU verstoßen. Wie ist das möglich?

Ganz einfach. Ebenso diskret wie wirksam macht Deutschland seinen gewaltigen Einfluss in Brüssel geltend, um sich die eigene Vorgehensweise als „europäisch“ absegnen zu lassen. Derweil geben sich die deutsche Politik und die deutschen Medien nach Außen überrascht und ahnungslos. Kritik wird generell als „Neid“ abgetan und wenn sie aus Warschau kommt, ist das, wieder einmal, nur „nationalistische antideutsche Propaganda“.

Die Berliner Parole des Tages lautet: „Rette sich wer kann“. Solidarität als europäische Tugend ist dieses Mal nicht gefragt. In der Stunde der Not ist das deutsche Hemd viel näher als die üblicherweise so gern zur Schau getragene europäische Tracht. Ein gemeinsames Europa? Gerne, aber bitte nur à la carte.

RdP




28.09.2022. Die Italo-Schelte oder das Elend der Arroganz

Polens Staatspräsident Andrzej Duda hat es auf Twitter auf den Punkt gebracht: „Wie viel Überlegenheitsgefühl, Hochmut, Arroganz und Verachtung für demokratische Regeln muss man in sich tragen, um über das Ergebnis der Wahlen in einem anderen Land zu sagen: „Es gewannen nicht die, die gewinnen sollten! Es wurde falsch gewählt! Jetzt muss man dieses Land und seine Behörden an der Kehle packen!“?

Die vielen alarmistischen, oft geradezu hysterischen Reaktionen auf den Ausgang der italienischen Parlamentswahlen am 25. September 2022 waren vorhersehbar. Schließlich wiederholt sich seit Langem dieses Ritual jedes Mal, wenn sich irgendwo in Europa die Mehrheit der Bürger in einer demokratischen Wahl für konservative Parteien entscheidet. Und dennoch darf man danach nicht gleich zur Tagesordnung übergehen.

Schon wenn sich eine konservative Mehrheit anbahnt, beginnt mittlerweile das Ritual mit Einschüchterungsversuchen. Einen solchen Übergriff gestattete sich dieses Mal EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Auftritt in der Princeton Universität in New Jersey. Drei Tage vor der Italien-Wahl drohte sie präventiv mit Rechtsstaatsverfahren gegen das Land: „Wir werden sehen, wie die Abstimmung in Italien ausgeht. Auch in Schweden fanden Wahlen statt. Wenn sich die Dinge in eine schwierige Richtung entwickeln, haben wir die Instrumente, wie im Fall von Polen und Ungarn.“

Die Wählerstimmen waren noch nicht ganz ausgezählt, da meldeten sich schon Politiker in Deutschland und in Frankreich (dort gleich die Premierministerin) zu Wort und verlangten die Beachtung von Menschenrechten und Demokratie. Es gibt jedoch keine Hinweise, dass solche Appelle berechtigt seien. Die Koalitionsregierung ist noch nicht einmal gebildet und es war bisher nicht vernehmbar, welche Menschenrechte sie einzuschränken gedenkt.

In Wirklichkeit ist die angeblich „ultrarechte“ „Postfaschistin“ und Wahlsiegerin Giorgia Meloni mit einem gemäßigt nationalen Programm angetreten. Dennoch wirkte es wie ein rotes Tuch auf die sich im Lauf der Jahre immer weiter radikalisierenden Linksliberalen in Berlin, Paris, in der Brüsseler EU-Zentrale und anderswo. Glauben sie wirklich, in Italien entsteht bald ein faschistisches Regime, oder tun sie nur so?

Dabei fordert Meloni weder den EU-Austritt noch will sie sich Putin an den Hals werfen. Ihr eindeutig transatlantischer Kurs in Richtung auf einen Schulterschluss mit Amerika und ihre Unterstützung für die Ukraine-Sanktionen sind, gerade in Italien, alles andere als selbstverständlich. Eigentlich müssten sie in der EU, besonders in der jetzigen, kritischen Phase des Krieges willkommen sein.

Meloni äußerte auf ihren Kundgebungen, sie sei eine Frau, eine Mutter, eine Italienerin und eine Christin. Solche Bekundungen passen eindeutig nicht in die Vorstellungen von einer modernen Gesellschaft, die dem heute meinungsführenden linken und linksliberalen Lager in Europa vorschweben. Wer sich so definiert, ist kein politischer Gegner mehr. Er ist ein Feind.

Dieser Begriff wird inzwischen ausgedehnt auf alle, die ihre nationale Identität wichtig finden, die die Wichtigkeit der traditionellen Familie betonen, aber auch die des Schutzes des ungeborenen Lebens, der Begrenzung der überbordenden Migration, einer solidarischen Sozialpolitik, die auch in Italien sehr vonnöten ist. Es sind Themen, die, als Auftrag formuliert, einst zum Grundsatzprogramm solcher Parteien, wie der CDU/CSU in Deutschland, gehörten. Damals galt das noch nicht als „populistisch“, „extrem rechts“ oder „postfaschistisch“.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Die einst christlich-demokratischen Parteien in Europa haben längst diese politischen Positionen verlassen und sich weltanschaulich dem linksliberalen Lager ganz und gar angepasst. Solche Themen, wie sie heute Giorgia Meloni anspricht, sind für sie nur noch eine heiße Kartoffel, die sie nicht mehr anfassen wollen.

Doch die Themen sind geblieben. Sie bewegen Millionen von Menschen, die, wie gerade jetzt in Italien, damit leben müssen, u. a. als die Epigonen Mussolinis diffamiert zu werden.

RdP




20.09.2022. Frau von der Leyen und die polnischen Russlandversteher

Späte Reue ist besser als keine. In ihrer Rede „Zur Lage der Union“ am 14. September 2022 in Straßburg hat sich die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einer Selbstkritik durchgerungen, die einigen von uns in Polen Momente der Genugtuung beschert hat. Sie sagte:

„Wir hätten auf die Stimmen hören sollen, die innerhalb unserer Union erhoben wurden: in Polen, in den baltischen Staaten und in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Diese Stimmen sagten uns schon seit Jahren, dass Putin nicht aufhören wird.“

Doch was Polen angeht, hat von der Leyen geflissentlich darauf verzichtet, auch nur mit einem Halbsatz zu erwähnen, welche Polen jahrelang beharrlich vor Putin gewarnt haben. Ihre politischen Freunde waren es nicht.

Es war nicht Donald Tusk, der scheidende Vorsitzende, den Frau von der Leyen am 1. Juni 2022 beim Kongress der Europäischen Volkspartei in Rotterdam mit dem klaren Brüsseler und Berliner Auftrag verabschiedete: „Donald, vergiss nicht, wenn wir uns wiedersehen, wollen wir Dich als den (neuen polnischen – Anm. RdP) Ministerpräsidenten begrüßen“. Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt.

Als polnischer Ministerpräsident (2007 bis 2014) hat Donald Tusk, der politische Ziehsohn Angela Merkels, deren Russlandpolitik auf internationalem Parkett nach Kräften unterstützt und in Polen selbst mit beispiellosem Eifer nachgeahmt. Knapp drei Monate im Amt, ignorierte er demonstrativ Kiew und flog im Februar 2008 als Erstes zu Putin nach Moskau. Die polnische Wende hin zu Russland nahm ihren Lauf.

Einer Einladung nach Warschau folgend, belehrte Russlands Außenminister Lawrow am 2. September 2010, beim alljährlichen Treffen, die polnischen Botschafter aus aller Welt in Sachen Russlandpolitik. Ein Erdgaslieferabkommen sollte Polen bis 2037 zu horrend hohen Preisen an Russland fesseln. Nur durch eine Intervention Brüssels konnte die Laufzeit im letzten Augenblick auf 2022 verkürzt werden.

Tusks Polen ernannte sich durch seinen Außenminister Sikorski gar zum Wegbereiter der russischen Nato-Mitgliedschaft. Die Zentralen Wahlausschüsse, die Nationalen Sicherheitsräte, sogar die Auslandsspionagedienste u. v. a. polnische und russische Institutionen mehr pflegten, auf Tusks Geheiß, einen intensiven „freundschaftlichen“ Austausch. Nach dem russischen Einfall in Georgien im August 2008, genauso wie nach der russischen Besetzung der Krim im Februar 2014, lag Tusks Polen ganz auf der deutschen „Business as usual“-Linie und er selbst wurde nicht müde zu bekunden, dass eine „normale Zusammenarbeit mit Russland gerade jetzt“ notwendiger sei denn je. Im April 2010 legte Tusk, der einen herzlichen Umgang mit Putin und Medwedew pflegte, vertrauensvoll die Untersuchung der Smolensk-Flugzeugkatastrophe vollends in die Hände der Russen.

Für all das, und noch vieles mehr, belohnte ihn Frau Merkel mit dem Posten des EU-Ratsvorsitzenden (2014-2019) und dem Vorsitz der Europäischen Volkspartei (2019-2022).

Bis zu seinem tragischen Tod durch die Smolensk-Flugzeugkatastrophe am 10. April 2010 begleitete Staatspräsident Lech Kaczyński drei Jahre lang das Tun des Regierungschefs Tusk und sparte nicht mit Kritik.

Es war Lech Kaczyński, der im August 2008 die Staatschefs der drei baltischen Staaten und der Ukraine bat, mit ihm nach Tiflis zu fliegen, in die georgische Hauptstadt, auf die russische Panzerkolonnen vorrückten. Er hielt dort, vor Zehntausenden von Menschen, eine denkwürdige Rede über den Willen Russlands zu imperialer Ausdehnung. „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und dann ist vielleicht auch mein Land, Polen, an der Reihe.“ Damals kehrten die russischen Panzer um. Diese Worte muten 14 Jahre später fast prophetisch an. Tusk und seine Leute hatten für sie nur beißenden Spott übrig.

Erstarrt und missmutig lauschten Tusk, Putin und Frau Merkel, als derselbe Staatspräsident am 1. September 2009, auf der Westerplatte, bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, vom Sowjetimperialismus und seinem Anteil (Hitler-Stalin Pakt) am Entfachen des Krieges sprach.

Im September 2010 veröffentlichte sein Bruder, Jarosław Kaczyński, damals Oppositionsführer, einen viel beachteten Artikel, in dem er dringend vor der „neoimperialistischen“ Politik Russlands warnte. Tusks Außenminister Sikorski, heute EVP-Europaabgeordneter und, wie Frau von der Leyen, EVP-Mitglied, fragte daraufhin höhnisch, welche Drogen der Autor des Artikels denn wohl genommen haben muss. Tusks Sprecher Nowak forderte Jarosław Kaczyński auf, den Artikel „sofort zurückzuziehen, denn er widerspricht der polnischen Staatsräson“.

All die jahrelangen Warnungen vor Russlands aggressiver Politik, alle Appelle und Vorschläge, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden, die Nato-Ostflanke zu stärken, die aus dem polnischen nationalkonservativen Lager kamen, wurden in den Wind geschlagen. Sie ernteten bei Tusk und seinen deutschen Förderern Hohn und Spott, wurden als „russophob“ gebrandmarkt.

Hätte es 2015 keinen Regierungswechsel von Tusk zu den Nationalkonservativen gegeben, wäre das heutige Polen, wie Ungarn, wie Deutschland, energiepolitisch extrem abhängig von Russland. Die polnische Regierung würde bei weitem nicht so effektiv wie jetzt mithelfen, Putin zu zähmen, sondern gemeinsam mit Deutschland die Hilfe für die Ukraine auf Sparflamme halten und, wie ihre deutschen Gönner, auf Telefondiplomatie mit dem Kreml setzen.

Heute zollt Frau von der Leyen den polnischen Warnern, ohne sie beim Namen zu nennen, ihre Anerkennung. Gleichzeitig tut sie alles in ihrer Macht Stehende, um deren politischen Sturz herbeizuführen. Sie behauptet im Namen der EU, die Ukraine mit aller Kraft unterstützen zu wollen, und bekämpft eine polnische Regierung, die wie kaum eine andere der Ukraine beisteht. Sie verurteilt Putin und wünscht sich die alten Russlandversteher in Warschau zurück an die Macht. So gesehen war ihr Lob schlicht unaufrichtig.

RdP




12.09.2022. EU-Reform. Mehrheitsentscheidungen. Scholzes falsche Lehren

Der deutsche Bundeskanzler wünscht sich noch mehr Mehrheitsentscheidungen in der EU und beschwört damit Geister herauf, die eines Tages deren Untergang besiegeln könnten.

Als eine der Lehren, die aus dem Ukrainekrieg zu ziehen seien, so Scholz in einer Grundsatzrede in Prag am 29. August 2022, gelte es, die Einstimmigkeit in der EU, allen voran in der Außenpolitik, abzuschaffen. Die EU erweist sich nicht nur in seinen Augen umso stärker, je mehr Macht die nationalen Regierungen an die Brüsseler Institutionen abgeben. Dass dort vor allem Berlin in allererster Reihe die Register zieht, wird von den selbstlosen deutschen EU-Enthusiasten dabei gerne unterschlagen.

Im EU-Ministerrat, um den es hier geht, werden schon seit Jahren in vielen Politikfeldern Entscheidungen mit Stimmenmehrheiten getroffen, vor allem wenn es um den Außenhandel oder die Agrarpolitik handelt, wo die meisten Zuständigkeiten ohnehin in Brüssel liegen. Das geschieht entweder mit einfacher (14 Mitgliedsstaaten stimmen mit Ja) oder mit qualifizierter Mehrheit (55 Prozent der EU-Länder, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, geben ihre Zustimmung).

In der viel beschworenen „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“, wie sie amtlich heißt, hat Brüssel hingegen nicht viel zu vermelden. Die wichtigsten Instrumente halten weiterhin die Mitgliedsstaaten. Es gibt zwar einen Auswärtigen Dienst der EU, aber der kann nicht einmal Visa ausstellen. Und eine europäische Armee existiert schon gar nicht.

Anders als Scholz es darstellt, ist das kein überkommenes Festhalten an nationalem Eigensinn, sondern eine vernünftige Regelung. Auf keinem Politikfeld ist der Einsatz so hoch wie in der Außenpolitik. Letztendlich geht es um Krieg und Frieden, wie gerade wieder in der Ukraine zu beobachten ist. Die Vorstellung, man könne die Regierung eines oder mehrerer Mitgliedsländer bei Fragen von solcher Tragweite einfach überstimmen, ist befremdlich. Die Folgen eines solchen EU-Beschlusses müssen alle tragen.

Das gilt auch für die Sanktionspolitik, die Scholz im ersten Schritt in eine Mehrheitsentscheidung überführen möchte. Wenn die EU zum Beispiel mehrheitlich für die Einstellung des Handels mit einem Drittstaat stimmen sollte, dann müssten auch die Mitgliedsstaaten ihre Geschäftstätigkeit beenden, die dagegen waren. Eine Vergeltung träfe wiederum alle 27 EU-Länder. In einem gar nicht mehr so undenkbaren Szenario ist es vorstellbar, dass ein Land wie Russland auf europäische Sanktionen militärisch reagiert. Kann die EU solche Risiken wirklich eingehen, ohne dass alle Regierungen zugestimmt haben? Und wo soll das enden? Sollen eines Tages auch Militäreinsätze per Mehrheit beschlossen werden? In der NATO gibt es das aus gutem Grund nicht.

Was in solch zugespitzten Lagen passieren kann, kennt man aus der Innen- und Justizpolitik der EU. Dort gibt es keine Einstimmigkeit mehr. Im Jahr 2015 beschloss der Ministerrat mit Mehrheit, Flüchtlinge in der gesamten EU zu verteilen. Obwohl es sich um einen rechtskräftigen Beschluss handelte, weigerten sich mehrere osteuropäische Staaten erfolgreich, ihn umzusetzen, weil er bei ihnen innenpolitisch nicht durchsetzbar war. Auch in der Außenpolitik wäre das, bei starken Auffassungsunterschieden im Rat, eine wahrscheinliche Folge. Und der Schaden wäre sicherlich größer als der bei den manchmal unbefriedigenden Kompromissen, die heute in Brüssel eingegangen werden müssen.

Da die Einwohnerzahl berücksichtigt wird, begünstigen die Mehrheitsregeln im Rat die Großen. Scholz (und Macron) geht es letztlich darum, kleineren EU-Ländern das Vetorecht zu nehmen. Der deutsche Kanzler begründet seinen Vorschlag ausdrücklich mit künftigen Erweiterungen in Richtung Süden und Osten (Balkan sowie Ukraine), auch wenn niemand weiß, ob diese in absehbarer Zeit stattfinden werden.

Das ist genau die falsche Lehre, die aus den vielen politischen Fehlentscheidungen, die in Europa vor dem Krieg gefallen sind, gezogen wird. Es lag nicht an den Abstimmungsregeln, dass die Brüsseler Institutionen Putins Überfälle (Georgien, Krim, Donbass) immer wieder hingenommen haben und dass vor allem Westeuropa in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von russischem Gas geraten ist. Es lag daran, dass Deutschland seine vermeintlichen Wirtschaftsinteressen mit harter Hand, gegen den Willen vor allem der östlichen EU-Mitglieder durchgesetzt hat.

Der Rückschluss daraus darf nicht sein, dass Deutschland, unterstützt von seinen treuen Satelliten (Frankreich, die Benelux-Länder, Österreich u. e. a. m.) diese Staaten künftig nach Lust und Laune überstimmen kann, sondern dass man deren Argumente ernst nimmt und ihre Belange berücksichtigt, so schwer das oft fallen mag.

Ein Konsens, der auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruht, bringt die EU allemal weiter als der große Dissens in Folge von Kampfabstimmungen, nach denen die Überstimmten rebellieren. Deutschland muss nicht nur so tun als ob, sondern tatsächlich einvernehmlicher werden im Umgang mit Osteuropa. Es ist ernüchternd zu sehen, dass das nach siebzig Jahren „europäischer Einigung“ immer noch keine Selbstverständlichkeit ist.

RdP




27.08.2022. Vier Millionen Kriegsflüchtlinge in Polen. Wir haben es geschafft

Auch in Warschaus ältester und schönster Grünanlge, dem Łazienki (Bäder)-Park mit seinem Wasserschloss und dem schwungvollen Chopin-Denkmal, an dem im Sommer jeden Sonntag Pianisten die Musik des Meisters darbieten, hat der Krieg im Osten seine Spuren hinterlassen. Man trifft hier keine Japaner mehr, die, wie alle ausländischen Touristen in diesem Jahr, Polen wegen seiner Nähe zu den Kriegsschauplätzen meiden. Sattdessen wird der Park bevorzugt von ukrainischen Müttern besucht, die mit ihren Kindern im Schatten der alten Bäume Abkühlung finden. Sie füttern Eichhörnchen, bewundern die Schwäne, begleitet von Großmüttern, Tanten, älteren Geschwistern, eher selten von Männern, die zumeist in der Heimat, oft an der Front, geblieben sind. Es geht familiär und fröhlich zu.

Man denkt sofort an Kommentatoren, die sich selbst als „Realisten“ bezeichnen, und die im März, April, Mai stirnrunzelnd vorrechneten, „wie viel uns die Flüchtlinge kosten“, und warnten, dass „selbst das reiche Amerika sich nicht Millionen von Migranten leisten kann“. Sie sollten ihre ominösen Berechnungen bei Seite legen und einen Moment lang darüber nachdenken, wieviel Gutes, angesichts der offensichtlichen demografischen Krise, in der Polen steckt, dieser Zustrom junger Menschen aus einem uns nahen Land bewirken kann.

Die Bevölkerungszahl Polens ist im letzten halben Jahr von knapp 38 Millionen auf fast 42 Millionen angestiegen. Düsteren Prognosen zufolge würde der plötzliche Zustrom von Flüchtlingen nach dem 24. Februar 2022 unser Sozialsystem, in das sie aufgenommen wurden, überfordern. Die Plage der Massenarbeitslosigkeit würde aufleben. Schulen und Kindergärten würden überlastet sein. Der Wohnungsmarkt sollte zusammenbrechen und das nach der Pandemie schwer gestörte Gesundheitssystem würde einen tödlichen Schlag erleiden. Am Ende sollte sich unsere Hilfsbereitschaft verflüchtigen und das Land im Chaos versinken. Nichts dergleichen ist geschehen, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es geschehen wird.

Auf den Straßen der polnischen Städte hört man heute Russisch und Ukrainisch fast so oft wie Polnisch, aber die Sonne scheint wie früher, die Straßenbahnen fahren und die Lehrer und Krankenschwestern sind so unzufrieden wie immer. Die Ukrainer leben sich gut ein. Massenkonflikte bleiben aus. Es gibt Probleme, aber das ist nicht der Weltuntergang.

Zur Überraschung der Skeptiker besteht Polen den Praxistest der sozialen und institutionellen Improvisations- und Anpassungsfähigkeit außerordentlich gut. Das ist eine ermutigende Nachricht, denn die Fähigkeit, neue Mitglieder in die Gesellschaft zu integrieren, kann sich auf das Wirtschafts- und Wohlstandswachstum nur positiv auswirken.

RdP

 




21.08.2022. Russen, EU, deutsche Willkommenskultur à rebours

Als Monogenese bezeichnet man eine ungeschlechtliche Vermehrung, bei der die Nachkommen als identische Kopien der Vorfahren entstehen. Laut Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich Wladimir Putin diese Fortpflanzungsmethode im gigantischen Ausmaß zu eigen gemacht. Zehntausende von Putins rauben, morden, stürmen und sterben seitdem in der Ukraine. Es ist ja, so Scholz, „ein Krieg Putins und nicht des russischen Volkes“. Folglich gibt es keinen Grund, den Russen die Freude am Bummeln durch das Berliner KaDeWe und am Geldverprassen an den Spieltischen von Baden-Baden zu verderben.

Deutschland ist dagegen, russischen Touristen fortan keine (Schengen) Einreise-Visa in die EU auszustellen. Angesichts der Tatsache, dass in Russland bisher größere Proteste gegen den Krieg ausgeblieben sind und man die spontane Unterstützung für die Aggression auf Schritt und Tritt erleben kann, ist die Behauptung von „Putins Krieg“ mehr als gewagt.

Das zweite deutsche Argument, man wolle Dissidenten und Fluchtwilligen die Ausreise nicht erschweren, wirkt überdies mehr als gekünstelt. Niemand schlägt vor, das Asylrecht ausgerechnet für Russen außer Kraft zu setzen. Wer an der Außengrenze der EU um Asyl bittet, hat ein Recht auf Einreise; dazu braucht er kein Touristenvisum.

Nach dem Eiertanz um Waffenlieferungen, geplatzen Ringtauschen, dem Veto Berlins Warenlieferungen von Russland in die Enklave Kaliningrad über EU-Gebiet (Litauen) zu unterbinden, lässt die deutsche Politik wieder einmal Umsicht im Umgang mit dem Aggressor walten. Argumente, wie das des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba, lässt sie nicht gelten. „Die Russen unterstützen mit überwältigender Mehrheit den Krieg gegen die Ukraine. Ihnen muss das Recht genommen werden, internationale Grenzen zu überschreiten, bis sie lernen, sie zu achten.“

Seitdem die Luftverbindungen zwischen Europa und Russland im Rahmen der Sanktionen größtenteils gekappt sind, führt der Weg nach Westen für russische Reisende größtenteils über die Landgrenzen Russlands zur EU, also über Finnland, Lettland oder Estland. Es sind nur in den allerwenigsten Fällen Menschen, die Probleme mit Putin haben. Sie kommen, um sich mit Waren einzudecken, die sie aufgrund westlicher Boykottmaßnahmen in Russland nicht mehr kaufen können.

Die betroffenen Staaten wollen das nicht länger hinnehmen. Estland stellt vom 18. August an keine Schengen-Visa für russische Staatsbürger mehr aus. Lettland und Litauen wollen sich anschließen. Finnland kündigte an, die Zahl seiner Touristenvisa für Russen auf zehn Prozent zu drosseln.

Russen jedoch, die an der estnischen Grenze das Schengen-Visum (Gebühr 35 Euro) eines anderen EU-Landes vorweisen, etwa ein von Deutschland ausgestelltes, dürfen nicht abgewiesen werden. Darum drängen die Staaten mit einer Landgrenze zu Russland, unterstützt von Polen und Dänemark, auf europäische Solidarität. Sollte es keinen verbindlichen Beschluss europäischer Gremien geben, so die Vorpreschenden, müssten sich so viele einzelne Mitgliedsländer wie möglich dem Boykott anschließen.

Polen hat seine Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad bis auf wenige Ausnahmen komplett geschlossen. Zudem gehört das Land zu den wenigen, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine keine Touristenvisa für Russen ausstellen. Trotzdem sind zwischen dem 24. Februar und Mitte August knapp 65.000 russische Staatsbürger nach Polen eingereist. Etwa ein Drittel von ihnen besaß ein nichtpolnisches EU-Schengen-Visum.

Gewiss, eine im Vergleich zur russischen Gesamtbevölkerung sehr kleine Gruppe hat sich in der Vergangenheit Demonstrationen und Protesten gegen Putin angeschlossen oder diese unterstützt und befindet sich seither in einer Art fortwährender innerer Emigration.

Doch die meisten haben ihren Frieden mit einem Regime gemacht, das Ordnung schuf, sie ihre Geschäfte machen ließ, Löhne und Renten pünktlich zahlte und im Gegenzug lediglich politische Enthaltsamkeit verlangte. Diejenigen, die es sich leisten können, frequentieren gern Luxusläden in Berlin, Paris und London oder mondäne Ski- und Badeorte im Westen, den sie gleichzeitig zumeist als naiv, dekadent, käuflich und russlandfremd verachten.

Es liegt auf der Hand, dass es sinnvoll wäre, sie spüren zu lassen, dass die Loyalität zu Putin ihren Preis hat. Erst wenn die Einkaufstour auf der Kö in Düsseldorf oder, weniger fein, in den gut bestückten Supermärkten an der finnisch-russischen Grenze nicht mehr möglich ist, könnte sich bei dem einen oder anderen Putin-Freund die Frage regen, ob der Preis für den Ukraine-Krieg nicht doch zu hoch ist.

In Deutschland sieht man das anders.

RdP




15.08.2022. Populismus als Alibi

Sollen wir wirklich daran glauben, dass das Grundproblem in Europa
heute wieder die soziale Unzufriedenheit und der Rechtspopulismus sind und nicht etwa unfähige oder einfach nur korrupte Politiker?

Die Aussicht auf schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Probleme durch die von Russland verursachte Energiekrise, hat in einigen europäischen Medien das Gespenst einer populistischen Revolte aufkommen lassen. In der deutschen öffentlichen Debatte, die sich sowieso zumeist aus dem Thema Angst speist, warnen Vertreter staatlicher Institutionen bereits vor sozialen Unruhen, die
natürlich von rechtsradikalen Kreisen ausgehen werden.

Solche Katastrophen-Fantasien werden auch durch die
instabile Lage in Italien beflügelt. Dort ist nach dem Zusammenbruch der Regierungskoalition von Mario Draghi die Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) der Favorit bei den anstehenden Wahlen. Von ihren hysterischen Kritikern wird sie mit Adjektiven, wie „postfaschistisch“, „rechtsnational“, „rechtsextrem“, „populistisch“ und „souveränitistisch“, bedacht. Mit der Wirklichkeit hat das, weiß Gott, nicht viel zu tun.

Berücksichtigt man zudem die wachsende soziale Unzufriedenheit in Frankreich nach der Wiederwahl von Staatspräsident Emmanuel Macron, ergibt sich, aus der Sicht der Populismus-Beschwörer, ein sehr besorgniserregendes Bild von Europa.

Doch haben wir es nicht vielleicht mit einem Versuch zu tun, zu der
sattsam bekannten Strategie des letzten Jahrzehnts, dem „Unternehmen Angst“, zurückzukehren? Der ausgesprochen kluge dritte US-Präsident Thomas Jefferson hat einmal gesagt, dass es nichts gibt, was die Menschen so sehr schmerzt und wovor sie sich mehr fürchten als all die schlimmen Dinge, die nie geschehen werden.

Die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens in den europäischen Ländern ist zweifellos ein sehr wichtiges Thema. Das andere ist die Neigung von Politikern und Medien, Emotionen, vor allem Angst, zu schüren. Dahinter verbirgt sich der Wunsch, sich aus der eigenen Verantwortung zu stehlen und sich den politischen und geistigen Machterhalt zu sichern.

Es kann sein, dass der kommende Winter für viele europäische Nationen sehr schwierig wird, aber für die Ukrainer wird er unvergleichlich schwieriger werden. Doch warum sollten wir glauben, dass das Grundproblem in Europa heute wieder einmal die soziale Unzufriedenheit und der Rechtspopulismus sind, und nicht inkompetente oder einfach nur korrupte Politiker?

Seit Jahren betreiben einige von ihnen eine leichtsinnige
Finanzpolitik und stürzen ihre Staaten in Schulden. Andere wiederum haben in ihrer Unverantwortlichkeit ihre Länder komplett vom russischen Gas abhängig gemacht. Und wer hat die meisten Armeen in der EU kaputtgespart? Wer hat mit Erfolg den Glauben verbreitet, mit Sonne, Wind und russischem Erdgas könne man riesige Volkswirtschaften problemlos am Laufen halten?

Sie haben versagt und dennoch sollen wir uns erneut um sie scharen, aus Angst vor dem Populismus, dessen Gespenst sie wieder einmal an die Wand malen. Man kann sich zudem des Eindrucks nicht erwehren, dass das Schüren von Ängsten vor einer Energiekrise im Winter dazu dienen könnte, die Öffentlichkeit für eine schnelle Einigung mit dem Kreml, auf Kosten der Ukraine, zu gewinnen.

RdP




9.08.2022. Wie der gute Wolfgang Schäuble Polen zu zähmen gedenkt

Im Prinzip lag Wolfgang Schäuble richtig und doch lag er falsch, als er vor Kurzem in einem „Welt am Sonntag“-Interview sagte: „Polen muss endlich als gleichberechtigter und gleich wichtiger Mitgliedsstaat wie Frankreich und Deutschland in die Führungsrolle der europäischen Integration aufgenommen werden. Polen sollte so schnell wie möglich so behandelt werden, das hat es immer verdient. Diese Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“

Wolfgang Schäuble ist kein mächtiger Innen- bzw. Finanzminister und kein Bundestagspräsident mehr, er ist heute ein MdB und ein Oppositionspolitiker, dessen Ruhestand kurz bevorsteht. Doch er genießt Ansehen, weil sich seine persönlichen Überzeugungen, Maßstäbe, Wertvorstellungen und seine Charakterstärke stets in seinem Verhalten ausdrücken. Integre Persönlichkeiten, wie Schäuble, die oft gegen den Strom andenken und Debatten mit gesundem Menschenverstand bereichern, sind rar geworden in der europäischen Politik. Deswegen hört man auch heute noch mit Interesse hin, was er zu sagen hat.

Das Interview ist am 23. Juli 2022 erschienen, aber dieses Mal verhallten Schäubles Worte ohne Echo. Die Ansicht, dass die politische Architektur Europas von den drei großen Ländern in dessen Mitte: Deutschland, Frankreich und Polen getragen werden sollte, ist zwar nicht neu, aber inzwischen fast völlig in Vergessenheit geraten. Das 1991 gegründete, fruchtlose Weimarer Dreieck, ein loses Gesprächs- und Konsultationsforum der drei Staaten zur Stärkung der europäischen Integration, wurde auf dieser Idee aufgebaut.

Doch angenommen, das Angebot käme von offizieller Seite aus Paris und Berlin, und das heutige Polen würde dieses Angebot ernst nehmen? Das müsste bedeuten, dass Polen die europäische Politik mitgestaltet und dass seine Vorstellungen in dieser europäischen Politik einen angemessenen Platz finden würden, so wie die französischen und die deutschen. Als Frankreich mit seinen vielen AKWs die Kernenergie als nachhaltig eingestuft haben wollte, wurde Paris dieser Wunsch erfüllt. Ebenso im Bereich des Urheberrechts haben die Franzosen von der EU das bekommen, was sie wollten.

Die polnischen Anschauungen sind sattsam bekannt: härtester Widerstand gegen den russischen Neoimperialismus, eine auf christlichen Werten basierende EU, eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen EU-Institutionen und den Mitgliedsstaaten, eine Einschränkung der Zuständigkeiten von EU-Institutionen, Gleichheit der Mitgliedsstaaten vor dem Gesetz, ein Verbot der Einmischung der Europäischen Kommission in Bereiche, die in den Verträgen eindeutig und allein den Nationalstaaten vorbehalten sind, wie Justiz, Familie oder Kultur. Eine Neubewertung der Energiepolitik, eine kritische Überarbeitung des Green Deal, Beibehaltung der fossilen Energieerzeugung.

So sollte eine echte Beteiligung Polens an der Führung der EU aussehen. Warschau würde ein solches Angebot sicher nicht ablehnen. Es will Einfluss auf die europäische Politik nehmen, Europa mitgestalten.

Nur ist leider zu befürchten, dass Wolfgang Schäuble etwas anderes im Sinn hatte. Er schlug genau das vor, was im Weimarer Dreieck geschah. Ja, tretet bei, aber ihr müsst tun und sagen, was wir wollen. Unser Auf-die-Schulter-Klopfen ist euch gewiss, aber Sonderwünsche sind unerwünscht.

Wie damals, als Polen vorgeschlagen hatte, sich am Bau eines neuen europäischen Panzers zu beteiligen. Es wurde abgelehnt. Oder als es gefordert hat, Nord Stream 1 und dann Nord Stream 2 aufzugeben. Es wurde nicht beachtet. Oder als es mahnte, dass der fast sofortige Verzicht auf Kohle und Atomstrom zugunsten von Wind, Sonne und russischem Erdgas gefährlich sei. Man hat es überhört.

Das Problem liegt also nicht bei Polen. Schäubles Angebot, so ist zu befürchten, bedeutet keine echte Partnerschaft. Es ist der Versuch, ein Land, das sich gegen die Verwandlung der EU in einen föderalen Staat sperrt, auf eine andere Art zu zähmen als normalerweise üblich: mit Abmahnungen, Drohungen und Geldentzug.

Oder glaubt jemand im Ernst, dass man in Berlin, Paris oder Brüssel bereit wäre, sich aufrichtig auf eine von Polen gewünschte Diskussion über eine EU, die auch christliche Werte respektiert, einzulassen? Schwer vorstellbar in einer Zeit, in der sich das Europäische Parlament und die EU-Kommission bemühen, die Tötung ungeborener Kinder als ein „Menschenrecht“ auszulegen, die immer weiter um sich greifende und enthemmte Euthanasiepraxis in Holland und Belgien stillschweigend als richtungsweisend befürworten, ebenso wie die Begleitung beim Selbstmord. Die Zivilisation des Todes kommt in die EU-Fahne gehüllt daher.

Diskutieren über ein Europa der Vaterländer? Wie soll das geschehen, wenn der aktuelle deutsche Koaltionsvertrag die Verwandlung der EU in einen europäischen Bundesstaat zwingend vorschreibt?

Sich ernsthaft aussprechen über freiwillige und nicht erzwungene Solidarität? In einer Zeit, in der die EU-Kommission, sobald Deutschland, durch eigenes Verschulden („Wir schaffen das“ 2015 und Putins Gasstop 2022), in Bedrängnis gerät, sofort zu Zwangsmaßnahmen bei der Migrantenverteilung und beim Gassparen greift, ohne auch nur nachzufragen,?

Die Polen haben ein Beispiel für echte Solidarität mit Millionen von tatsächlichen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine gegeben. Niemand musste sie dazu zwingen. Das Land hat auch gezeigt, dass es bereit ist, seine Sicherheit zu riskieren, indem es der Ukraine uneingeschränkt mit eigenen Waffenlieferungen hilft und sein Territorium für den Waffentransit aus der ganzen Welt zur Verfügung stellt.

Es wäre gut, wenn eine solche Haltung, ein solches Politikverständnis, zu einem Grundsatz der europäischen Politik würde. Zweifellos wäre die EU dann in einem besseren Zustand.

RdP




1.08.2022. Führungsmacht Deutschland sollte sich schonen

Jahrzehntelang haben sich Frankreich und Deutschland als die natürlichen Führer der europäischen Integration betrachtet. Um diese Stellung zu behaupten, haben sie sich oft einer Politik bedient, die die Mitsprache und Mitwirkung der Vereinigten Staaten in europäischen Belangen in Frage stellte, und es wurden enge wirtschaftliche Allianzen mit Russland und China geschmiedet.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Glaubwürdigkeitsverlust der beiden Staaten zu einem wichtigen Bestandteil der europäischen Politik geworden. Sie haben, unbekümmert um die russsische Gefahr, nach 2008, also seit dem russischen Angriff auf Georgien, die EU-Sicherheits- und Energiepolitik geprägt. Die Folgen sind, wie wir es gerade erleben, katastrophal: für Europa und für die beiden Staaten selbst.

Wie wird das heute in Berlin wahrgenommen? Von echter Demut ist kaum eine Spur erkennbar. Man übt sich in Selbstmitleid, behauptet stets das Beste gewollt zu haben, gibt sich bemitleidenswert ahnungslos und hintergangen und flüchtet sich in liebgewonnene, aufgewärmte Wunschträume, will das Ruder nicht aus der Hand geben.

So Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem kürzlich erschienenen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Nach der bewährten deutschen „kohl-merkelschen“ Methode: Einsicht vortäuschen, im Kern hart bleiben, aussitzen und möglichst weitermachen wie bisher, tut Scholz so, als wäre nichts gewesen.

Er will die EU „festigen, effizienter machen“. Doch die Gedanken an eine strategische Souveränität der EU, an Sicherheitsgarantien aus Paris und Berlin oder der Vorschlag, die Einstimmigkeit in der europäischen Sicherheitspolitik durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen und so das französisch-deutsche Entscheidungsmonopol zu stählen, klingen heute aus dem Munde eines deutschen Politikers wie ein schlechter Scherz. Niemand in Polen und in ganz Mittel- und Osteuropa sollte sich davon täuschen lassen.

Ohne Glaubwürdigkeit gibt es keine echte Führung. Und es dauert Jahre, bis die verlorene Glaubwürdigkeit wiederhergestellt ist.

Deutschland steht diesbezüglich heute ein langer Weg bevor. Mindestens drei Dinge sind dafür notwendig: Erstens eine ehrliche Analyse der eigenen Fehler, allen voran des Nord Stream-Projektes. Zweitens der Wiederaufbau der eigenen militärischen Fähigkeiten. Eine schlagfertige Bundeswehr muss ein fester Bestandteil der Verteidigung der Ostflanke der NATO sein und den Verdacht ausräumen, im Ernstfall den Russen lieber eine gemeinsame Therapie in „Konfliktmanagement und Deeskalation“ anzubieten. Drittens, eine echte Wende in der Energieabhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Russland. Ohne diese Voraussetzungen kann man nicht von der Glaubwürdigkeit der deutschen Politik in Europa sprechen.

Ein vierter Punkt kommt inzwischen hinzu. Die Schwankungen der deutschen Politik im Ukraine-Krieg zwischen bombastischen Versprechungen („Zeitenwende“) und einer Wirklichkeit, die von mehr als schleppenden Waffenlieferungen, geplatzten „Ringtauschen“, Scholz-Putin Telefonaten und mit aller Konsequenz durchgesetzten Sanktionsaufweichungen zu Gunsten Russlands (Beispiel: Transit nach Kaliningrad) geprägt wird, untergraben diese Glaubwürdigkeit noch weiter.

Und leider kann man mit jedem weiteren, raren, Medienauftritt von Altkanzlerin Angela Merkel sehen, wie die Chancen deutscher Politiker, die Fehler in den Beziehungen zu Russland ehrlich aufzuarbeiten, schwinden.

Wir in Polen können das nur zur Kenntnis nehmen und versuchen daraus unsere Schlüsse zu ziehen. Der wichtigste ist: Es ist an der Zeit, das paternalistische Modell der EU, die französisch-deutsche Bevormundung, auch „Führung“ genannt, die, europäisch verpackt, vor allem der Pflege eigener Interessen dient, abzulegen. Sein Fortbestehen wäre fatal.

Der Niedergang dieser Art von Führung, den wir gerade erleben, wird unweigerlich zu einem neuen Kräftemessen zwischen den Mitgliedstaaten der EU führen. Eine demokratischere EU der Nationalstaaten sollte das Resultat sein.

RdP




26.07.2022. »Schmuddelkind« Polen bleibt bei der Kohle

Dieses Ereignis darf man, gerade aus polnischer Sicht, nicht einfach so, kommentarlos verstreichen lassen. Angesichts der von Putin ausgelösten Energiekrise und der Befürchtung von Engpässen bei der Gasversorgung besinnen sich Deutschland, Holland, Österreich, die größten Eiferer des Klimatismus, der Kohle.

Ja, sagen sie, das ist aus klimapolitischer Sicht schmerzhaft, aber notwendig. Schließlich können wir nicht riskieren, unsere Industrie zu beschädigen, wir können keinen wirtschaftlichen Zusammenbruch, keinen sinkenden Lebensstandard, keinen Winter ohne Heizung hinnehmen.

Es ist eine verständliche Haltung. Als jedoch Polen, wo immer noch drei Viertel der Energie aus Stein- und Braunkohle gewonnen werden, jahrelang das Argument der Kosten der Energiewende vorbrachte, wurde nur mit den Schultern gezuckt. „Das ist euer Problem“, hieß es, und es wurde die Nase gerümpft. „Nehmt euch ein Beispiel an uns. Kaum Kohle, kaum Kernkraft. Bald werden wir unsere Wirtschaft, die drittgrößte der Welt, nur noch klimaschonend mit Wind, Sonne und russischem Erdgas am Laufen halten“, tönte es aus Deutschland.

Die Schrittmacher des Klimatismus hörten nicht hin, als sie aus Polen darauf hingewiesen wurden, dass das nicht so einfach geht, dass die Wirtschaft zusammenzubrechen und die Lebenshaltungskosten in die Höhe zu schießen drohen. Das „Kohle-Schmuddelkind“ Polen wurde von seinen europäischen Erziehern in die Ecke geschickt und sollte sich schämen. Seine Probleme waren nicht ihre Probleme und so sahen die Klimaverfechter keine Notwendigkeit, die Energiewende zu verlangsamen, um sie mit den tatsächlichen Möglichkeiten der einzelnen Länder in Einklang zu bringen. Es galt das Prinzip: Am liebsten CO2-Nullemission, sofort!

Doch in Wirklichkeit geht es hier um viel mehr, um ein grundsätzliches Problem. Ob Klimapolitik, Genderismus, Asyl- und Flüchtlingspolitik oder Energie. Es ist der Westen, mit Deutschland an der Spitze, der in all diesen Fragen, in seinem Sinne, „die europäischen Interessen und Werte“ vorgibt. Anschließend werden sie an die ohnehin durch die westlichen Staaten beherrschten EU-Institutionen „weitergegeben“.

Diese wiederum, gut geübt in der Finanzpolitik von „Zuckerbrot und Peitsche“, zwingen die „Neuerungen“ allen anderen Mitgliedern der „Gemeinschaft“, als die angeblich „gemeinsame und notwendige »europäische« Position“, auf. Sie setzen sich dabei, wenn nötig, rücksichtslos durch, indem sie den ärmeren, oft von EU-Geldern abhängigen Nationen, solche Lasten wie den Emissionshandel mit seinen horrend teuren CO2-Zertifikaten aufbürden.

Wenn aber plötzlich den Klimavorreitern, wie Deutschland, das Wasser bis zum Halse steht, dann stehen all die angeblich noch so unumstößlichen EU-Prinzipien der Klimapolitik sofort zur Disposition. Ohne auch nur anstandshalber in Brüssel nachzufragen, baut Deutschland holterdiepolter Flüssiggasterminals in Stade und Lubmin, wo das noch vor Kurzem so verfemte amerikanische Fracking-Gas angeliefert werden soll. Die geradezu diabolisierte Kernkraft, die verpönte Braun- und Steinkohle werden wieder kleinlaut zugelassen. Legionen von Klimaaktivisten, auch die Fanatiker, die sich aufopferungsvoll auf den Autobahnen festkleben, erkennen, wie naiv sie waren, und fühlen sich für dumm verkauft.

Deswegen muss man den Augenblick, in dem die Masken so unmissverständlich fallen, unbedingt festhalten. Auch, um sich in der Zukunft vom Sofortismus und der Hysterie der Klimaideologen nicht mehr einschüchtern zu lassen.

Kohle ist und bleibt eine wertvolle Energiequelle. Sie kann schon heute, dank modernster Technologien, äußerst umweltschonend verstromt werden. Polen mit seinen enormen Kohlevorkommen darf sich in Zukunft kein zweites Mal den Verzicht auf Kohle in einem für das Land desaströsen Hauruckverfahren aufdrängen lassen.

Erneuerbare Energien, die heute bereits etwa 18 Prozent des polnischen Energiemixes ausmachen, sind gut, aber warme Wohnungen im Winter und funktionierende Industrieanlagen sind noch besser. Eile mit viel Weile, dieses Prinzip muss beim Umstieg auf erneuerbare Energien absoluten Vorrang haben.

Deshalb ist es einerseits notwendig, den polnischen Bergbau ständig zu modernisieren und zu schützen, und andererseits große Vorräte an Kohle bereitzuhalten, die in schwierigen Zeiten eingesetzt werden können. Der russische Überfall auf die Ukraine und seine Folgen bestätigen eine Binsenwahrheit: Was man hat, das hat man. Alles andere sind ideologische Wolkenschiebereien.

RdP




20.07.2022. Für Polen liegt Sri Lanka zwischen Brüssel und Amsterdam

Vor einigen Tagen gingen Bilder aus Colombo um die Welt, die zeigten, wie ein verzweifelter Mob den Palast von Präsident Gotabaya Rajapaksa stürmte, dem es in letzter Minute gelang, mit dem Flugzeug auf die Malediven zu entkommen. In Sri Lanka herrscht Chaos. Die Inflation hat 54 Prozent überschritten, es gibt keinen Treibstoff an den Tankstellen, der Strom wird nur ab und an eingeschaltet, in den Geschäften fehlen Lebensmittel und in den Apotheken Medikamente. Der Staat hat Konkurs angemeldet, kann seine Schulden von mehr als 50 Milliarden Dollar nicht begleichen.

Bei der Beschreibung der Ereignisse in Sri Lanka wird in den Medien weltweit eine der Hauptursachen der derzeitigen Krise geflissentlich ausgelassen oder nur vage angesprochen. Es geht um die Entscheidung von Präsident Rajapaksa im Jahr 2019, Sri Lanka innerhalb von zehn Jahren zu einem der weltweit führenden Länder in der ökologischen Landwirtschaft zu machen. Rajapaksa hielt Wort: Im April 2021 verbot er die Einfuhr und den Gebrauch von chemischen Düngemitteln.

Das Ergebnis war dramatisch. Entgegen der Behauptung, dass mit ökologischen Methoden vergleichbare Erträge wie in der konventionellen Landwirtschaft erzielt werden können, ging die heimische Reiserzeugung in den ersten sechs Monaten um 20 Prozent zurück. Sri Lanka, das sich bis dato selbst mit Reis versorgen konnte, war gezwungen, Reis im Wert von 450 Millionen Dollar zu importieren. Die Inlandspreise für dieses Grundnahrungsmittel stiegen dadurch um etwa 50 Prozent.

Durch das Verbot wurde auch die Teeernte vernichtet, ein wichtiges Exportgut und damit eine wichtige Devisenquelle. Die aufgrund des Rückgangs der Teeproduktion verursachten wirtschaftlichen Verluste werden auf 425 Millionen Dollar geschätzt.

Vor dem Ausbruch der Pandemie war Sri Lanka stolz darauf, den Status eines halbwegs wohlhabenden Landes erreicht zu haben. Heute ist eine halbe Million Menschen wieder in die Armut abgestürzt. Die rasant ansteigende Inflation und die rapide Schwächung der Währung zwangen Sri Lanka, die Einfuhr von Lebensmitteln und Treibstoff einschneidend zu drosseln.

Obwohl die Insel im Indischen Ozean weit von uns entfernt liegt und ihre Wirtschaft sich von der europäischen unterscheidet, bringen die Erfahrungen des Landes wichtige Lehren mit sich.

Das ökologische Ziel, gesunde Lebensmittel zu erzeugen, ist an sich lobenswert. Das Problem beginnt, wenn dieses Ziel ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Realitäten umgesetzt wird. Wenn diese als unerheblich angesehen werden, weil sie ideologischen Annahmen im Wege stehen.

Vielleicht wäre die Verwirklichung des Planes zur Schaffung einer ökologischen Landwirtschaft in Sri Lanka möglich, aber er würde eine längere Übergangszeit und die Suche nach ebenso wirksamen, natürlichen Ersatzstoffen für Kunstdünger erfordern. Das ist bisher nicht gelungen. Stattdessen wurde ein ehrgeiziges Ziel rücksichtslos in Angriff genommen. Und ausgerechnet während der Wirtschaftskrise, die die Pandemie verursacht hat. Das musste mit einer Katastrophe enden.

Ein Vergleich mit dem New Green Deal, der von der Europäischen Kommission verbissen vorangetrieben wird, bietet sich an. Die geplanten oder bereits eingeleiteten brachialen Maßnahmen können in den Ländern Mittel- und Südeuropas zu einer echten wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe führen. In Polen, einem bedeutenden Agrarproduzenten, werden sie mit Sorge und Zorn beobachtet und kommentiert.

Man könnte meinen, dass die Pandemie, die Inflation, der Krieg in der Ukraine und die Energieengpässe, die Europa inzwischen heftig zusetzen, Grund genug seien, den New Green Deal zu verschieben. Doch Frans Timmermans, der bei der EU-Kommission für das Programm „Fit for 55“ zuständig ist, hat nicht die Absicht, das Tempo zu drosseln.

Derweil zeigt die Entschlossenheit, mit der die holländische Regierung ihren radikalen „Stickstoffplan“ in die Tat umsetzt, dass der Zweck die Mittel heiligt, wie z. B. auch die Keulung von 30 Prozent des holländischen Viehbestandes, das Schießen auf protestierende Landwirte oder die Androhung der Zwangsenteignung derjenigen, die sich der Politik der Behörden widersetzen. Premierminister Mark Rutte scheint Präsident Gotabaya Rajapaksa in nichts nachzustehen.

Auch im Energiebereich geht die EU einen ähnlichen Weg wie Sri Lanka in der Landwirtschaft. Sie gibt bewährte und effiziente Methoden als umweltschädlich auf und ersetzt sie durch umweltfreundlichere, aber unerprobte und unsichere Versorgungssysteme. Sie tut das ohne ausreichende Übergangsfristen, in denen eine tragfähige Alternative zum aufgegebenen Modell hätte geschaffen werden können. Darüber hinaus führt sie radikale Veränderungen in einer denkbar ungeeigneten Zeit durch.

Wer weiß, ob Timmermans und Rutte nicht gut beraten sind, sich rechtzeitig um Fluchtflugzeuge zu kümmern.

RdP