Die älteste Polin

Am 7. Januar 2015 starb Łucja Sobolewska.

Sie wurde knapp 114 Jahre alt.

Łucja Sobolewska wurde 1901 im Dorf Kosobuszczyzna in der Nähe von Wilno/ Wilna geboren. Damals befand sich der Ort im russischen Teilungsgebiet Polens. Wilno und das Wilnaer Land, wo die Polen in jener Zeit bis zu 70% der Bevölkerung ausmachten, wurde nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918, nach 123 Jahren der Teilungen, ein Bestandteil des polnischen Staates.

Frau Sobolewska erlebte 1939 die Besetzung ihrer Heimat durch die Sowjets, einige Wochen später die Übergabe des Gebietes an Litauen, im Juni 1940 die Einverleibung in die Sowjetunion, den deutschen Einmarsch im Juni 1941, die Rückkehr der Sowjets im Sommer 1944. Dass sie den Massenmorden und Deportationen der Sowjets und der Deutschen entkam, betrachtete sie als ein Wunder. „Einige Male mussten wir tagelang im Wald übernachten“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet wieder sowjetisch, war Bestandteil der Litauischen Sowjetrepublik.

Das kleine Gut, auf dem sie mit ihren Eltern und zwei Schwestern damals wirtschaftete, nahmen die Sowjets ihnen weg und machten es zum Bestandteil einer Kolchose. Dort mussten die Sobolewskis arbeiten. Ab 1945 wurden etwa 200.000 Polen, die den Krieg überlebt hatten, über die Grenze abgeschoben. Łucja Sobolewska kam 1957, mit der zweiten Ausweisungswelle (etwa 50.000 Polen waren davon betroffen), aus Sowjet-Litauen nach Szczecin.

Bis zu ihrem 80. Lebensjahr arbeitete sie als Aushilfskraft, sie hatte nie geheiratet und wohnte nach dem Tod der Schwestern alleine. Im Mai 2014 feierte sie ihren 113. Geburtstag. Szczecins Oberbürgermeister Piotr Krzystek gratulierte persönlich mit einem Blumenstrauβ und einem Präsentkorb. Die Jubilarin sagte damals den zahlreich in ihrer Wohnung erschienen Medienvertretern, das schönste Geschenk seien die Menschen in ihrer Umgebung, die sich um sie kümmern.

In Polen leben gut viertausend Menschen, die älter als einhundert Jahre sind. Nach Frau Sobolewskas Tod ist der älteste Pole 109 Jahre alt.

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Solidarność-Legende

Am 30. Dezember 2014 starb Marian Jurczyk.

Er war kein Volkstribun, eher ein Macher mit Kanten, an denen sich viele gestoβen haben, und einer der ganz Groβen in der Gründergeneration der „Solidarność“. Jurczyk, der Mann der ersten Stunde, wurde gefeiert, geachtet, gefürchtet. Er war aber auch ein Getriebener, von Ereignissen über die er die Kontrolle verloren hatte und von Herausforderungen, die ihn als einen Politiker der nachkommunistischen Zeit manchmal überfordert haben.

Mann der ersten Stunde

Marian Jurczyk wurde 1935 im Dorf Karczewice bei Częstochowa/Tschenstochau geboren. In dieser waldreichen Gegend gab es im Zweiten Weltkrieg eine rege Partisanentätigkeit. Am 8. September 1944 gelang es in der Nähe des Dorfes einer Kampfeinheit der Heimatarmee (Armia Krajowa) eine knapp 20 Mann zählende Patrouille der deutschen Gendarmerie zu beseitigen, die auf dem Weg zu einer Strafaktion war.

Auf der Suche nach Partisanen drangen kurz darauf deutsche Gendarmen in das Haus der Jurczyks ein. Marian sollte einen Strick holen, damit sie seinen Vater hängen konnten. Dazu kam es nicht, aber die tiefe Abneigung gegen Deutsche und Deutschland konnte er sein Leben lang nicht überwinden.

Wie Zehntausende andere Bauernsöhne suchte Jurczyk in der Zeit der forcierten, oft brutalen, kommunistischen Nachkriegsindustrialisierung sein Glück in der Groβstadt. Er kam 1954 ins ferne Szczecin/Stettin und ging zur Werft, war Kranführer, Schweiβer, Lagerverwalter.

Der miserable Lebensstandard, die kargen Löhne und die kurz vor Weihnachten, am 12. Dezember 1970, eingeführte beträchtliche Lebensmittelpreiserhöhung lösten in den polnischen Küstenstädten eine Arbeiterrevolte aus. An den Generalstreik in Szczecin schlossen sich mehrtägige schwere Unruhen an, bei denen das Parteigebäude in Flammen aufging. Es gab 16 Tote und knapp 180 Verletzte. In Gdańsk/Danzig starben 6 Menschen, in Gdynia/Gdingen 18, in Elbląg/Elbing kam 1 Person ums Leben. 5000 Polizisten und 27.000 Soldaten waren an der Küste im Einsatz. An diesem 20. Dezember 1970 musste Parteichef Władysław Gomułka zurücktreten, an seine Stelle trat Edward Gierek.

Jurczyk war damals Mitglied des Streikkomitees der Werft und blieb der Belegschaft als guter Redner und Mann der Tat in Erinnerung.

Zehn Jahre später, im Sommer 1980, waren die meisten Streikführer vom Dezember 1970 tot. Bogdan Gołaszewski hatte man bald nach dem Streik in seiner Wohnung tot aufgefunden. Todesursache: Gasvergiftung. Adam Ulfik wurde von zwei Unbekannten in seiner Wohnung überfallen. Sie betäubten ihn mit Chloroform und drehten die Gashähne auf. Ulfik wachte noch rechtzeitig auf und konnte das Fenster öffnen. 1976 kam er unter mysteriösen Umständen ums Leben. Die Todesliste umfasst noch weitere Namen. Der Chef des Streikkomitees von 1970, Edmund Bałuka, überlebte wahrscheinlich nur deswegen, weil er nach Skandinavien flüchten konnte.

Als Chef des Überbetrieblichen Streik-Koordinationskomitees (Międzyzakładowy Komitet Strajkowy – MKS), in dem 340 streikende Betriebe aus Szczecin und Umgebung vertreten waren, hegte Jurczyk im Sommer 1980 ein grundsätzliches Misstrauen, sowohl gegen oppositionelle Warschauer Intellektuelle, die sich als Berater anboten, als auch gegen westliche Journalisten. Beide Gruppen wurden im August 1980 in die Szczeciner Werft, wo sich der Sitz des MKS befand, nicht hinein gelassen, während sie in Gdańsk, wo Lech Wałęsa das Sagen hatte, hochwillkommen waren.

Am 30. August 1980, einen Tag früher als Wałęsa in Gdańsk, unterschrieb Jurczyk im Namen des MKS Szczecin Vereinbarungen mit Vertretern der kommunistischen Regierung. In dem Szczeciner Dokument, das u.a. die Gründung der „Solidarność“ zulieβ, war keine Rede von der „führenden Rolle der Partei“, die die freie Gewerkschaft respektieren werde. In den Danziger Vereinbarungen hingegen war das der Fall.

Hierin lag der Grund für die erste Missstimmung zwischen Jurczyk und Wałęsa.

Der Szczeciner galt als der Hardliner, scheute, wenigstens in Worten, die Konfrontation mit den Kommunisten nicht. Den Kult um Wałęsa betrachtete er als einer demokratischen Gewerkschaft unwürdig. Die Intellektuellen Berater Wałęsas: Jacek Kuroń, Adam Michnik, Bronisław Geremek, Tadeusz Mazowiecki u.e.m. waren, seiner Meinung nach, politische Intriganten, die die „Solidarność“ den Arbeitern entreiβen und sie für sich benutzen wollten.

Jurczyk fühlte sich Wałęsa ebenbürtig und war sein wichtigster Gegenspieler. Während des I. Landesweiten Delegiertenkongresses der „Solidarność“ im Herbst 1981 verzeichnete er bei der Vorsitzenden-Wahl das zweitbeste Ergebnis (201 Stimmen = 24,01%) nach Wałęsa (462 Stimmen = 55,2%).

Haft und Schicksalsschlag

Nach Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde Jurczyk zunächst interniert und anschlieβend, im Dezember 1982, vorläufig festgenommen. Zusammen mit einigen anderen „Solidarność“-Aktivisten sollte ihm, einem „Extremisten“, der angeblich die kommunistische Staatsordnung „gewaltsam beseitigen“ wollte, der Prozess gemacht werden. Dazu kam es nicht, Jurczyk fiel im Juli 1984 unter eine Amnestie und kam frei.

Während der Haftzeit, am 5. August 1982, begingen sein 23jähriger Sohn Adam und die Schwiegertochter Dorota Selbstmord. Die Vater-Sohn-Beziehung soll von gegenseitiger Kälte geprägt gewesen sein. Als Jurczyk sich von seiner ersten Frau scheiden ließ, war sein Sohn noch ein Kleinkind. Nicht einmal zur Hochzeit Adams soll der Vater erschienen sein.

Adam sei eine labile Persönlichkeit gewesen, alkoholabhängig verkehrte er in der Drogenszene. Dorota lernte er während einer Entziehungskur in der Psychiatrie kennen, wo sie als suizidgefährdet in Behandlung war. Die beiden stritten pausenlos miteinander, trennten sich, um sich dann wenig später ewige Liebe zu schwören.

Während eines Streits sprang Dorota um ca. 1.30 Uhr in der Nacht aus dem Fenster der gemeinsamen Wohnung und starb einige Stunden später im Krankenhaus. Adam sprang am Abend des selben Tages aus der Wohnung seines Freundes, der sich gerade in der Küche aufhielt, um Tee zu machen. Er nahm sich das Leben, weil er sich den Tod seiner geliebten Frau nicht verzeihen konnte.

Zu diesem Ergebnis kam eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung aus dem Jahr 2007. Beweise oder Indizien für einen, womöglich politisch motivierten Mord der Staatssicherheit, fand man nicht.

1982 jedoch lag dieser Verdacht sehr nahe. Jurczyk wurde zur Beerdigung in Handschellen gebracht. Mit Mühe und Not gelang es der Polizei ihn wieder vom Friedhof abzutransportieren. Schwere Ausschreitungen erschütterten Szczecin bis spät in die Nacht.

Erzrivale, Senator, Bürgermeister

Seinem Hardliner-Image treu, lehnte Jurczyk die Verhandlungen des Runden Tisches die von Februar bis April 1989 stattfanden, ab. Ebenso die damals ausgehandelte Neuzulassung der „Solidarność“. Der damit verbundene „Neuanfang“ beseitigte die 1981 existierenden Gremien und machte Wałęsa, bis zu einem Kongress (der jedoch erst im April 1990 stattfinden sollte), zu einem Quasi-„Alleinherrscher“, der über die Zusammensetzung der provisorischen Gremien entschied. Für den Erzrivalen Jurczyk war da natürlich kein Platz.

Jurczyk gründete mit Gleichgesinnten ein „Übereinkommen für Demokratische Wahlen in der »Solidarność«“ und später eine neue Gewerkschaft, die „Solidarność 80“, deren Chef er bis 1994 war. Trotz mehrerer Abspaltungen, hat sie heute noch etwa 100.000 Mitglieder.

Jurczyk wurde 1997 für die Woiwodschaft Westpommern in den Senat (eine der beiden Kammern des polnischen Parlaments) gewählt. Der damaligen Wahllosung auf seinen Plakaten („Nur er hat sich nicht verkauft“) vermochte er jedoch nicht treu zu bleiben, als er ausgerechnet eine Allianz mit den Postkommunisten einging, um sich im November 1998 vom Szczeciner Stadtrat zum Oberbürgermeister wählen zu lassen. Dieses Amt bekleidete er zweimal: von November 1998 bis Januar 2000 (das Verfassungsgericht entschied damals, dass ein Parlamentsmandat und ein kommunales Mandat gleichzeitig von ein und derselben Person nicht ausgeübt werden dürfen; Jurczyk verlieβ daraufhin das Rathaus) und von November 2002 bis Dezember 2006 (seit 2002 werden die Oberbürgermeister in Polen direkt gewählt).

In seine erste Amtsperiode als Oberbürgermeister fiel seine umstrittene Entscheidung, den von seinem Vorgänger unterzeichneten Vertrag mit der deutschen Firma „Euroinvest Saller“ über den Bau eines Handelszentrums, mit sofortiger Wirkung aufzulösen. Die Firma ging vor Gericht und bekam ihre erbrachten Vorleistungen samt Zinsen zurück. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin gegen Jurczyk und seine Mitarbeiter Anklage wegen Nachlässigkeit im Amt und Verursachung eines Schadens in großer Höhe. Das Urteil für Jurczyk (zwei Jahre Haft auf Bewährung) wurde 2009, in letzter Instanz, in einen Freispruch umgewandelt.

Nichtspitzel-Spitzel

Wie alle polnischen Politiker musste auch Jurczyk unter Eid versichern, dass er kein Zuträger der Staatssicherheit gewesen ist. Das tat er 1997, als er in den Senat gewählt wurde. Die Stasi-Erklärungen der Politiker wurden damals auf ihren Wahrheitsgehalt von einem sog. Anwalt des Öffentlichen Anliegens und seiner Behörde überprüft. Einen allgemeinen Zugang zu den Stasi-Akten gab es damals noch nicht.

Später, bei der Überprüfung der Archive, kamen Akten zutage, die zeigten, dass Jurczyk im Juni 1977 eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hatte. Er fungierte als IM „Święty“ („Der Heilige“), quittierte Geldbeträge, u.a. wie folgt: „Ich bestätige den Erhalt von 1000 Zloty von einem Mitarbeiter der Staatssicherheit, als Entgelt für die Zusammenarbeit und die Weitergabe von Informationen über Józef Szymański“. Szymański war Mitglied des Streikkomitees im Dezember 1970.

Die Stasi benutzte Jurczyk auch, um zu erfahren auf welchen Wegen die antikommunistische Zeitschrift „Szerszeń“ (“Die Hornisse“) nach Polen gelangte. Herausgeber war Edmund Bałuka, der nach Schweden geflüchtete Streikchef der Werft im Dezember 1970, 1979 brach Jurczyk seine Kontakte zur Stasi ab und wurde bald darauf selbst Objekt der Bespitzelung.

Der Anwalt des Öffentlichen Anliegens erhob gegen Jurczyk Anklage wegen so genannter Lustrationslüge. Die Höchststrafe bei diesem Vergehen: das Verbot zehn Jahre lang öffentliche Ämter zu bekleiden. Im November 1999 und März 2000 wurde Jurczyk in zwei Instanzen schuldig gesprochen. Das Oberste Gericht ordnete jedoch eine Wiederaufnahme des Verfahrens an. Ergebnis: wieder zwei Schuldsprüche im März und Juni 2001.

Jurczyks Verteidiger beantragten daraufhin die Kassation des Urteils in allen Punkten. Das Oberste Gericht folgte im Oktober 2002 diesem Antrag: Jurczyk sei zur IM-Tätigkeit gezwungen worden, seine Berichte seien „unbrauchbar“ gewesen und deswegen könne man ihn nicht als einen Stasi-IM betrachten.

Dieses in Polen sehr umstrittene Urteil war ein Freispruch zweiter, wenn nicht gar dritter Klasse. Zwar gewann Jurczyk einen Monat später, im November 2002, in Szczecin die Oberbürgermeisterwahlen, aber der Makel des Stasi-Spitzels lastete schwer auf ihm.

Beim Versuch 2006 wiedergewählt zu werden, bekam er nur noch knapp 5% der Stimmen. Verbittert und vereinsamt zog er sich daraufhin in seinen Schrebergarten zurück, wo er in einer winterfesten Laube sein Leben fristete.

Marian Jurczyk starb am 30. Dezember 2014 in Szczecin. Staatspräsident Komorowski verlieh ihm posthum das Komturkreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).

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Foto-Chronist der Solidarność

Am 30. Dezember 2014 starb Bogusław Nieznalski.

Einige seiner Fotos sind Ikonen der Solidarność-Bewegung geworden.

Bogusław Nieznalski wurde 1948 in Sopot/Zoppot. Nach einer Ausbildung zum Mechaniker studierte er an der Abendfakultät der Technischen Hochschule in Gdańsk/Danzig, wo er anschlieβend bis 1990 als technischer Assistent arbeitete.

Der miserable Lebensstandard, die kargen Löhne und die kurz vor Weihnachten 1970, am 12. Dezember, eingeführte beträchtliche Lebensmittelpreiserhöhung, hatten eine Arbeiterrevolte in den polnischen Küstenstädten ausgelöst. An den Generalstreik in Gdańsk und im benachbarten Gdynia/Gdingen schlossen sich mehrtägige schwere Unruhen an, bei denen das Parteigebäude in Flammen aufging. Es gab 24 Tote. In Szczecin/Stettin starben 16 Menschen, in Elbląg/Elbing 1 Person. 5.000 Polizisten und 27.000 Soldaten waren an der Küste im Einsatz. Am 20. Dezember 1970 musste Parteichef Władysław Gomułka zurücktreten, an seine Stelle trat Edward Gierek.

Nieznalski hielt sich am 15. Dezember 1970 vor dem brennenden Parteigebäude auf. Er flüchtete vor den Polizeischüssen und beobachtete von den alten Befestigungen, oberhalb des Zentrums, das Geschehen. Damals fasste er den Entschluss, die Wirklichkeit im kommunistischen Polen fotografisch zu dokumentieren. Ein Onkel brachte ihm das Fotografieren bei.

Als Mitte August 1980 eine neue Streikwelle, diesmal ganz Polen erfasste, lief Nieznalski mit seinem Fotoapparat zum Tor Nr. 2 der Gdansker Werft. Dort traf er einen Schulkameraden, der mit einigen anderen Brotlaibe in den vom Besatzungsstreik erfassten Betrieb schleppte. Der Schulkamerad hieβ Bogdan Borusewicz und war einer der Begründer der illegalen Freien Gewerkschaften in Gdańsk. Dank ihm wurde Nieznalski vom Arbeiter-Ordnungsdienst aufs Gelände gelassen und durfte fotografieren. So wurde Nieznalski zum offiziellen Foto-Chronisten der „Solidarność“.

Er dokumentierte die Unterzeichnung der Vereinbarungen von Gdańsk am 31. August 1980 durch Lech Wałęsa mit dem, inzwischen schon legendären, riesigen Papst-Kugelschreiber. Seine Fotos zeigen alle Phasen der Errichtung des Gdansker Denkmals der Drei Kreuze für die im Dezember 1970 gefallenen Arbeiter. Nieznalski war anwesend bei der ersten Begegnung Wałęsas und einer „Solidarność“-Delegation mit Papst Johannes Paul II. im Vatikan im Januar 1981. Seine aussagestarken Bilder führen alle wichtigen Momente in der Geschichte der „Solidarność“ bis Anfang der 90er Jahre vor Augen.

Nach Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde er mehrere Male bei Protesten und Unruhen festgenommen, einmal sogar, während der heftigen Demonstrationen am 31. August 1982, angeschossen.

Seine Fotos gingen um die Welt, wurden auf gut zweihundert Ausstellungen gezeigt. Nieznalski bekam viele Auszeichnungen, stand lange Jahre dem Gdansker Ableger des Verbandes Polnischer Kunstfotografen vor. Staatspräsident Lech Kaczyński verlieh ihm 2008 das Offizierskreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).

Hier kann man Bogusław Nieznalskis eindrucksvolle Fotos sehen:

Internet-Ausstellung des Radiosenders Radio Maryja

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Dichter-Koryphäe

Am 26. Dezember 2014 starb Stanisław Barańczak.

Er hat sich einen groβen Namen in vierlei Hinsicht gemacht: als Dichter, als Dissident, als Literaturkritiker und als Übersetzter. Er war ohne Zweifel eine Koryphäe der modernen polnischen Literatur.

Bürgerrechtler

1946 in Poznań/Posen, in einer gutbürgerlichen Arztfamilie geboren, war er ein Kind der Volksrepublik Polen, gegen die er seit seinen Jugendjahren stets rebellierte. Begabt und belesen studierte Barańczak Polonistik an der Poznaner Adam-Mickiewicz-Universität. Die geistige Enge des Kommunismus war ihm zutiefst zuwider. Die letzten Illusionen in Bezug auf das System raubten ihm die Ereignisse des Frühjahrs 1968, als in allen polnischen Universitätsstädten Studentenunruhen ausbrachen. Beim Auseinandertreiben der Studentendemonstration in Poznań kassierte er einige schmerzhafte Schlagstockhiebe. Kurz darauf, als er als Mitglied einer Studentendelegation die Forderungen der Protestierenden nach mehr Freiheit in Forschung und Lehre im Uni-Rektorat vorbringen wollte, wurde er Zeuge äußerster Arroganz und Verachtung der Apparatschiks.

Barańczak setzte viel aufs Spiel, denn mit seinen unkonventionellen Gedichten hatte er bereits auf sich aufmerksam gemacht, bekam erste Auszeichnungen. Es war gewiss: ihm stand eine groβe literarische Karriere bevor. Schon als Student war er Chefdramaturg des Poznaner experimentellen „Theaters des Achten Tages“. Noch wurde er geduldet. Sein erstes Gedichtband „Przyczyny zgonu“ („Todesursachen“) durfte 1968 erscheinen. 1971 erhielt er den Doktortitel und bekam eine Stelle an der Poznaner Universität, obwohl er bereits 1969, nach wenigen Jahren der Mitgliedschaft, aus der herrschenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgetreten war.

Im Jahr 1977 trat Barańczak dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) bei. KOR war eine Gruppe der polnischen Bürgerrechtsbewegung. Mitglieder waren namhafte Intellektuelle. Sie entstand als Reaktion auf zahllose Drangsalierungen, Schikanen und brutale Übergriffe (Verhaftungen, bestialische Misshandlungen auf Polizeistationen, Entlassungen, Verhängung hoher Haftstrafen in fingierten Strafprozessen usw.) auf Teilnehmer an Arbeiterprotesten gegen die Lebensmittelpreiserhöhungen im Juni 1976 in der Stadt Radom. Das Hauptziel war die finanzielle Unterstützung und die Bereitstellung eines Rechtsbeistands für verfolgte Arbeiter. KOR war eine der Keimzellen der späteren Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“.

Barańczak wurde daraufhin entlassen und im Februar 1977, aufgrund eines von der Staatssicherheit konstruierten Vorwurfs der Korruption, zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Er bekam Schreib- und Veröffentlichungsverbot. Nicht der geringste Hinweis auf ihn, keine Gedichte oder andere Texte von ihm durften erscheinen.

Der Dichter lehrte ab diesem Zeitpunkt an der sog. Fliegenden Universität, deren Vorlesungen in Privatwohnungen stattfanden, nahm im Mai 1977 am Hungerstreik in der Warschauer Hl. Martin-Kirche zugunsten politischer Häftlinge teil, unterschrieb Protestaufrufe an die Behörden, war Redaktionsmitglied der illegal gedruckten Literaturzeitschrift „Zapis“ („Niederschrift“). In Poznań, wo die demokratische Opposition sehr schwach war, war Barańczak lange Zeit ihr wichtigster Brückenkopf.

Nach Gründung der „Solidarność“ im September 1980 engagierte er sich für die Arbeit der Bewegung und bekam seine Stelle an der Universität wieder. Im Januar 1981 erreichte ihn ein Angebot, so verlockend, dass er es nicht ausschlagen konnte. Er sollte die Leitung des (in Amerika einzigen) Instituts der Polnischen Literatur an der Harvard-Universität übernehmen. Aus den geplanten drei Jahren Aufenthalt wurde „lebenslänglich“, vor allem da am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde.

Barańczak und sein Schaffen wurden nun zu einem Teil der polnischen Exilkultur. Sie ist seit dem Ende des 18. Jh., aufgrund der stets wiederkehrenden Massenauswanderungen auf der Suche nach Freiheit und Brot, der „zweiter Lungenflügel“ der polnischen Nationalkultur geworden. Barańczaks Gedichte und Essays erschienen in Exilverlagen und gelangten bis 1989 auf illegalen Wegen nach Polen.

Nicht zu unterschätzen sind seine Verdienste darum, der polnischen Literatur den Weg in die Verlage, die Bibliotheken Amerikas und die Köpfe der Amerikaner gebahnt zu haben.

Dichter, Literaturkritiker, Essayist

Ein Teil seines Widerstandes bestand aus seinen scharfsinnigen Analysen der sozialistischen Massenkultur. In Essays und wissenschaftlichen Texten nahm er Krimis, Abenteuerromane und andere im Parteiauftrag entstandene Arten der Populärliteratur, ihre Feind- und Leitbilder unter die Lupe. Barańczak beschrieb die Funktionsweise der Manipulation, Menschen, die kritiklos Propagandainhalte übernahmen, gab seiner Angst Ausdruck vor der stumpfsinnigen, manipulierten Masse.

Sein moralischer Standpunkt hinsichtlich der Dichtung war klar umschrieben: „Misstrauen. Kritizismus. Bloβtellung. Das alles sollte sie sein, so lange bis die letzte Lüge, der letzte Rest der Demagogie, die letzte Gewalttat von dieser Welt verschwinden“. Sein moralisch-dichterisches Manifest legte Barańczak 1971 in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel „Nieufni i zadufani“ („Misstrauisch und eingebildet“) dar.

Ein Merkmal seiner Gedichte war die Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks: Satzfetzen, scheinbar chaotisch aneinandergereiht, dieselben Worte, die in immer neuen Verbindungen wiederkehren. Es ging ihm darum, feste Wortverbindungen, eingeprägte Redewendungen und mit ihnen Denkschemata zu zerschlagen.

Bezeichnend in dieser Hinsicht ist das Gedicht „Blicken wir der Wahrheit ins Auge“ von 1970, in dem er, von der Redewendung ausgehend, die Überzeugung äuβert, dass die Wahrheit zu sagen, eine moralische Pflicht des Dichters sei, gegenüber den anonymen Beobachtern, der Öffentlichkeit:

„…zeigen wir uns auf der Höhe/ des Auges, wie die Kreideschrift an der Mauer, wagen wir es/ der Wahrheit ins Auge zu sehen, das nicht abläβt von uns/ das überall ist, festgetreten im Pflaster unter den Füβen/ festgeklebt im Plakat, versunken in Wolken…“

(übersetzt von Karl Dedecius).

Die Dichtung war für Barańczak vor allem ein Instrument der Verteidigung gegen die alles überflutende Propagandasprache, eine Sprache der Lüge, die es zu entlarven, zu hinterfragen, bloβzustellen galt, um Menschen zum Nachdenken zu bringen, zu zwingen sich selbst Fragen zu stellen. Eine schwere Aufgabe, wie er es in seinem Gedicht „N.N. fängt an sich Fragen zu stellen“ formulierte, in einer Zeit, in der man:

„…beim Wort „Sicherheit“/ Gänsehaut bekommt, in der das Wort „Wahrheit“1)/ ein Zeitungstitel ist, in der Wörter „Freiheit“/ und „Demokratie“ in den Dienstbereich/ eines Polizeigenerals2) fallen…“

(übersetzt von Peter Lachmann).

Die politische Komponente in seiner Dichtung verlor mit der Zeit an Bedeutung, anderes: Liebe, menschliches Verhalten in Zeiten des Überflusses, das Verhältnis zur Natur rückten in den Vordergrund.

Übersetzter

Stanisław Barańczak wird auch als ein begnadeter Übersetzter englischsprachiger Literatur in die Geschichte der polnischen Kultur eingehen. In den 90er Jahren hat er zwanzig Shakespeare-Dramen neu ins Polnische übertragen. Diesen Übersetzungen wird allerhöchste Qualität bescheinigt.

Nicht anders beurteilt werden seine Übersetzungen der Gedichte von Emily Dickinson, Elizabeth Bishop, Edgar Allan Poe, Seamus Heaney, Joseph Brodsky, Thomas Campion, John Donne, Robert Herrick, George Herbert, Henry Vaughan, John Keats, Thomas Hardy, aber auch der Liedertexte der Beatles. Barańczak wurde in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens zu einem unermüdlichen Mittler vor allem zwischen der amerikanischen Dichtung und der polnischen Sprache.

1999 hat man bei ihm die Parkinson-Krankheit festgestellt. Seit dem zog sich Barańczak immer mehr in die Privatsphäre zurück. Er starb in den USA im Alter von 68 Jahren und wurde auf dem Mount-Auburn-Friedhof in Cambridge bei Boston begraben.

Anmerkungen:

1) Gemeint ist „Prawda“, das poln. und russ. Wort für Freiheit. „Prawda“ hieβ das Zentralorgan der sowjetischen KP.

2) Gemeint ist Mieczysław Moczar (1913-1986), kommunistischer Partisan, General der Staatssicherheit und hoher Parteifunktionär, bekannt für sein autoritäres Auftreten. „Freiheit“ und „Demokratie“ waren Bestandteile der offiziellen Bezeichnung des einzigen zugelassenen Veteranenverbandes: „Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie“, dem Moczar vorstand und der ein wichtiger Bestandteil seiner Machtgrundlage war.

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Regisseur ergreifender Filme

Am 24. Dezember 2014 starb Krzysztof Krauze.

Wenn im Filmgeschäft des Westens das Kulturgut aus dem Osten vergleichbare Startchancen hätte wie umgekehrt, hätte „Plac Zbawiciela“ („Erlöserplatz“) aus Polen alle Chancen, auch in Deutschland ein Kassenschlager zu werden“, schrieb im Januar 2007 die deutsche Tageszeitung „Die Welt“. Der Mann, dessen Film damals so gelobt wurde, ist leider von uns gegangen, die Einseitigkeit des Kulturaustausches zwischen West und Ost bedauerlicherweise nicht.

Im Namen der Schwachen

Sein Talent reifte langsam, erst im letzten Lebensjahrzehnt lief er zur künstlerischen Höchstform auf. Krauze starb auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Leistung: populär, gefeiert, mit Auszeichnungen überhäuft, und dennoch stets bescheiden, zurückhaltend, zaudernd. Er stellte sich nur dann hinter die Kamera, wenn er meinte etwas Wichtiges zu sagen zu haben, meistens im Namen der Schwachen, die keine Kraft hatten zu schreien.

Krauze vertrat die Ansicht, Filme mache man, um Menschen in Schutz zu nehmen, um Werte zu bewahren, um für existenzielle Anliegen und Belange Partei zu ergreifen. Aus scheinbar banalen Situationen gelang es ihm auf der Leinwand immer wieder eine zutiefst beklemmende Stimmung zu erschaffen, um so die Ausweglosigkeit von Lebenssituationen zu veranschaulichen. Menschen: naiv, gutwillig, bemüht, motiviert, erfolgsgläubig und konsumhungrig, die unter die Räder des hemdsärmeligen, nachkommunistischen Graswurzel-Kapitalismus geraten sind, waren seine Charaktere.

Krzysztof Krauze wurde 1953 in Warschau geboren. Der Sohn eines renommierten Rechtsanwalts und der bekannten Filmschauspielerin Krystyna Karkowska studierte Kameramann an der angesehenen Filmhochschule in Łódź, aber er wollte nicht Bilder in Szene setzen, sondern Filme machen. Unmittelbar nach dem Studium, nach 1976, versuchte er sich als Kurzfilme-Regisseur.

Dann das Aus aller Hoffnungen auf Freiheit, die im Spätsommer 1980 mit dem erfolgreichen Ende der großen Streiks aufkamen. Das Verbot der Solidarność, die Rückkehr der stumpfsinnigen, trist-grauen kommunistischen Wirklichkeit nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981… Das zu ertragen überstieg seine Kräfte bei weitem. Er ging nach Wien, dann nach Paris, und merkte bald, wie überflüssig, wie fehl am Platze er dort war.

„Die Schuld“

Die Rückkehr nach Polen Mitte der 80er Jahre, war der Beginn seines lang andauernden schöpferischen Reifens, das 1999 mit dem Film „Die Schuld“ („Dług“) ein Meisterwerk hervorgebracht hat. Der Film wurde im Winter gedreht. Kühle, glatte Fassaden neuerrichteter Banken sind die Kulisse der Geschichte. In dieser Kälte drohen die Träume zweier junger Männer zu platzen. Die Warschauer Stefan, ein Volkswirt, und Adam, Architekt, wollen eine Firma gründen, doch die Banken weisen sie ab. Sie geraten an Gerard Nowak, einen ehemaligen Schulkameraden, inzwischen ein Geldeintreiber mit Mafiaverbindungen, der sich auf Erpressung spezialisiert hat. Der Businessman mit kurzem Haarschnitt und starrem Blick verspricht schnelle Hilfe.

Schon kurz darauf, ohne eine Miene zu verziehen, fordert er von ihnen die Rückzahlung absurder Schulden, die sie nie eingegangen sind. Als erster wird der Architekt vor seinem Haus verprügelt. Die Schuld würde ab jetzt täglich um 1000 Dollar anwachsen, teilt Nowak ihm mit. Beim nächsten Mal kündigt der Schuldeneintreiber dem Opfer seine Hinrichtung an, dann wirft er es in den Kofferraum seines Autos. Eine halbe Stunde später steht der Wagen vor einer Polizeidienststelle in Warschau. Der Gangster plaudert mit einem Beamten. Sie duzen sich. „Wen hast du da im Auto?“, fragt der Beamte. „Einen, der mir Geld schuldet“, antwortet der Entführer. Der Polizist beugt sich über den Gefesselten. „Schulden muss man pünktlich zahlen“, sagt er.

Die Musik des bekannten Jazzkomponisten Michal Urbaniak und die klaustrophobische Kameraführung lassen den Zuschauer die Angst der Opfer bildhaft spüren. Die jungen Leute werden misshandelt und erniedrigt. Als der Architekt versucht die Polizei zu verständigen, schlägt eine Schmollmund-Lolita in Uniform dem verängstigten Mann vor, seinen Verfolger amtlich „zu ermahnen“.

Irgendwann überwältigen Stefan und Adam in ihrer Verzweiflung den Psychopaten und seinen Leibwächter, schlachten die beiden nachts am Weichselufer ab. Die Köpfe trennen sie von den Leichen und werfen sie ins Wasser. Der Mord soll wie eine Hinrichtung der Russen-Mafia aussehen. Dem Film lag ein echter Kriminalfall zugrunde. Die wahren Täter-Opfer, obwohl sie sich gestellt haben, wurden von einer Richterin, die sich im Kriegsrecht mit drakonischen Strafen einen Namen gemacht hatte, zu lebenslänglich verurteilt. Der Sadist war ein V-Mann der Polizei. Es war das unvorstellbare Versagen der Polizei und der Justiz, sowie das unter vielen Polen verbreitete Gefühl, im Raubtier-Kapitalismus zu leben, die Krauzes Film zu einem ungewöhnlichen Kinoerfolg gemacht haben.

„Erlöserplatz“

Ein solcher Erfolg war auch „Plac Zbawiciela“ („Erlöserplatz“) von 2006. Der Film spielt am gleichnamigen Platz, mitten in Warschau. Ein rundes Stück Asphalt und Gras, über das die Straßenbahn rumpelt. Eine hoch aufragende Kirche gab dem Platz den Namen. Hier wohnt Teresa, die Mutter. Ihr Sohn Bartek ist mit Beata verheiratet, einem recht hübschen Mädel vom Lande, zwei Kinder sind auch schon da. Das junge Paar hat in einer entstehenden Siedlung bereits eine Wohnung gekauft, dafür einen horrenden Kredit aufgenommen. Doch die Baufirma geht Pleite. Die frühkapitalistische Variante der aus sozialistischer Zeit gut bekannten Wohnungsnot zwingt die junge Familie, bei Teresa einzuziehen. Auf engem Raum reibt man sich aneinander, ein böser Blick gibt ein böses Wort, ein Wort gibt das andere.

Mutter Teresa giftet Schwiegertochter Beata an, während Bartek fremdgeht. Am Ende zieht Bartek aus; seine Frau will ihn festhalten, doch er tritt und schlägt sich den Weg frei. Dann gibt Beata den Kindern Tabletten und schlitzt sich selbst die Pulsadern auf. Alle drei überleben. Im Gerichtssaal führt Bartek in letzter Minute eine Wende herbei: Er bekennt seine Schuld an Beatas Verzweiflung, worauf er verurteilt und seine körperlich gezeichnete Frau freigesprochen wird.

Es sind großartige schauspielerische Leistungen. Kameramann Wojciech Staron sitzt den Charakteren dicht im Nacken, um die Enge der Wohnung durch die Kameraführung noch zu unterstreichen. Schuldenlast und Angst um den Arbeitsplatz treiben eine Familie in Ratlosigkeit und Selbstzerstörung.

„Papusza“

Den „Erlöserplatz“ drehte Krauze zusammen mit seiner vierten Ehefrau Joanna Kos-Krauze. Sie waren zu Beginn des 21. Jahrhunderts das mit Abstand kreativste Duo der polnischen Filmszene. Einen beeindruckenden Beweis dafür lieferte Krauzes letzter Spielfilm „Papusza“ von 2013. Entstanden ist ein poetisches, in betörenden Schwarz-Weiβ-Bildern gehaltenes Drama, das tief unter die Haut geht. Es erzählt das Leben der Roma-Dichterin Bronisława Wajs, von ihrer Mutter liebevoll Papusza – Puppe genannt.

Den Trailer mit deutschen Untertiteln kann man hier sehen.

Schon bei ihrer Geburt, 1910, im damaligen Russisch-Polen sagten die Roma-Frauen voraus, dass sie ihrem Volk „großen Stolz oder große Scham“ bringen wird. Das wissbegierige Mädchen ließ sich heimlich von einer jüdischen Buchhändlerin Lesen und Schreiben beibringen, entdeckte so die Welt der Poesie. Ihre Gedichte erzählen vom Leben der Roma, ihrer Sehnsucht nach dem gemeinsamen Umherziehen, ihrer unermesslichen Naturverbundenheit.

Papuszas Clan wird vom Unglück verfolgt: Nirgends sind die Roma gern gesehen, werden mit Diebstahl und Betrug in Verbindung gebracht. Doch die Krauzes verklären nicht, entsagen der „Zigeunerromantik“, zeigen auch die Feindseligkeit und Ignoranz der Roma gegenüber anderen Kulturen und dem Fortschritt. Während der Besatzungszeit verfolgen und drangsalieren die Deutschen die Zigeuner gnadenlos, bringen sie zu Zehntausenden barbarisch um. Papusza überlebt.

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Krzysztof Krauze und seine Frau Joanna Kos-Krauze bei den Dreharbeiten zu „Papusza“.

Als kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, 1950, ihre Gedichte ins Polnische übersetzt und veröffentlicht werden, ist dies eine Sensation und schlagartig wird die Dichterin berühmt – doch der Ruhm hat auch Schattenseiten. Ihr Clan wirft ihr vor, sie habe Geheimnisse ihres Volkes preisgegeben und brandmarkt sie als Verräterin…

Begleitet von der melancholischen Musik der Roma entfaltet „Papusza“ eine enorme dramatische Kraft, lässt die archaische und brutale, zugleich wunderschöne und naturverbundene Welt der Roma lebendig werden. Krzysztof Krauze hat sich mit einem Meisterwerk ins Jenseits verabschiedet.

Krzysztof Krauze verlor einen schweren, neun Jahre andauernden Kampf gegen den Prostatakrebs. Mit seinem Tod büβte das polnische Kino einen Regisseur ein, der schon zu Lebzeiten in einem Atemzug mit dem groβen Moralisten der polnischen Leinwand, dem 1996 verstorbenen Krzysztof Kieślowski („Dekalog“, „Drei Farben: blau, weiβ, rot“) genannt wurde.

Krzysztof Krauze wurde, auf seinen ausdrücklichen Wunsch, ohne Beisein eines Priesters, in Kazimierz Dolny an der Weichsel bestattet. Staatspräsident Komorowski verlieh ihm posthum den Komturstern des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).

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Ungebrochen und unversöhnlich

Am 4. Dezember 2014 starb Kazimierz Świtoń.

Er schuf das erste Gründungskomitee freier Gewerkschaften in Polen und damit zugleich im ganzen kommunistischen Machtbereich zwischen Elbe, Wladiwostok und Schanghai. Seine Beharrlichkeit und seine Kompromisslosigkeit brachten ihm viel Bewunderung, am Ende seines Lebens aber auch nicht wenig Ablehnung ein.

Der Oppositionelle

Nicht lange vor seinem Tod erinnerte er sich: „Nachdem ich die freien Gewerkschaften in Katowice gegründet hatte und es den Kommunisten nicht gelang mich davon abzubringen, versuchte die Staatssicherheit mich einzuschüchtern. Als das fehlschlug, machte sie sich daran meine Familie zu bedrängen. Das half auch nicht, also wurde ich brutal zusammengeschlagen. Später hat man meine Söhne wegen Diebstahls angeklagt. Um die Mitglieder der Komitees zur Verteidigung der Arbeiter gegen mich aufzubringen, wurden Gerüchte gestreut, ich sei ein Antisemit. Schlieβlich kamen sie auf die Idee, aus mir, wegen meiner Unnachgiebigkeit, einen Irren zu machen. Das ist gelungen. Mit diesem Stigma bin ich bis heute behaftet“.

Świtoń wurde 1931 in Katowice/Kattowitz geboren. Er arbeitete seit seinem 14. Lebensjahr schwer: im Stahlwerk, als Heizer und Handlanger im Städtischen Krankenhaus, als Vorarbeiter in einer Phosphat-Fabrik. Gleichzeitig absolvierte er 1950 eine Berufsschule für Elektrotechnik, leistete auch den damals drei Jahre dauernden, harten Militärdienst ab. Mit seiner Frau hatte er sechs Kinder, und kurz bevor er starb konnte er auf eine Schar von 24 Enkel- und 8 Urenkelkindern blicken.

Im Jahr 1967 bekam Świtoń die Erlaubnis eine winzige Reparaturwerkstatt für Fernseher zu eröffnen. Zum ersten Mal kam er in Berührung mit sehr vielen, sehr unterschiedlichen Menschen, die er meistens zu Hause aufsuchte. Er weckte Vertrauen, das machte die Leute gesprächig. Świtoń bekam Klagen zu hören über Ungerechtigkeiten, Korruption, Behördenwillkür, über das unendliche Schlangestehen nach allem und überall, sah Armut, die unvorstellbar beengte Wohnsituation…

Der einzige Fluchtort vor der bedrückenden Wirklichkeit war die Kirche. Świtoń fand in Katowice, in Pfarrer Franciszek Blachnicki, dem Begründer der katholischen Jugendbewegung „Licht-Leben“, nicht nur einen Seelsorger, sondern auch ein Vorbild und ein Gegenüber für lange Gespräche über Gott und die Welt. Bei Pfarrer Blachnicki, der wegen seiner Jugendarbeit ständig bespitzelt und drangsaliert wurde, und auch schon im kommunistischen Gefängnis eingesessen hatte, kam Świtoń mit der katholischen Soziallehre in Berührung und der Idee christlicher Gewerkschaften.

Das polnisch sprachige Programm des Senders Free Europe, das aus München ausgestrahlt wurde, war damals, in einer Zeit ohne Faxgeräte, Satelliten-TV, Internet und Handys, die wichtigste und oft einzige unabhängige Informationsquelle hinter dem Eisernen Vorhang. Hunderttausende von Polen versuchten Abend für Abend den Sender zu empfangen, ständig bemüht mit dem Zeiger auf der Skala den Empfang zu justieren, um trotz des Pfeifens, Rauschens, Surrens und Hämmerns der Störsender, irgendetwas mitzubekommen.

So erfuhr Świtoń im Mai 1977 vom Hungerstreik in der Warschauer Hl. Martin-Kirche und fuhr hin, um daran teilzunehmen. Mitglieder des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) wollten so die Freilassung, der zu langen Haftstrafen verurteilten Teilnehmer der Proteste in der Stadt Radom gegen eine Lebensmittelpreiserhöhung im Juni 1976, erzwingen. Der Hungerstreik dauerte acht Tage und erregte auch im Westen groβes Aufsehen. Die Behörden lieβen die Gefangenen, mit „gebührendem“ Zeitabstand, im Rahmen einer im Juli 1977 verkündeten Amnestie, frei.

Nachdem er nach Katowice zurückgekehrt war, gründete Świtoń in seiner Wohnung eine Kontaktstelle für Menschenrechtverletzungen. Immer mehr Menschen kamen zu ihm, um über das ihnen angetane Unrecht zu berichten und um Hilfe zu bitten. Engagierte und mutige Warschauer Rechtsanwälte: Piotr Andrzejewski, Władysław Siła-Nowicki und Jan Olszewski (später, 1991-1992, polnischer Ministerpräsident) nahmen sich vieler dieser Fälle an.

Am 23. Februar 1978 fand in Świtońs Wohnung in Katowice die Gründungsversammlung der Freien Gewerkschaften statt. Aus der Sicht der Behörden war das politischer Sprengstoff.

Sollten in Oberschlesien mit seinen 4 Mio. Einwohnern, in einem industriellen Ballungsgebiet (mit einer enormen Dichte an Kohlegruben, Kokereien, Stahlwerken, Betrieben der Schwerchemie, der Metallverarbeitung), an einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte des Landes, freie Gewerkschaften Fuβ fassen, Forderungen stellen, Streiks verkünden, dann stünde die Existenz des Kommunismus in Polen auf dem Spiel. Kurz darauf entstanden ähnliche Gründungskomitees in Gdańsk/Danzig und Szczecin/Stettin.

Kazimierz Świtoń als Antikommunist und Staatsfeind erkennungsdienstlich erfasst.
Kazimierz Świtoń als Antikommunist und Staatsfeind erkennungsdienstlich erfasst.

Świtoń, die Galionsfigur der neuen Gewerkschaftsbewegung in Oberschlesien, wurde, zwischen März 1978 und September 1980, 58 Mal festgenommen, bis, nach der Streikwelle des Sommers 1980, „Solidarność“ entstand. Er verlor seine Reparaturwerkstatt, sein Telefon wurde abgeschaltet, sein Führerschein eingezogen.

Am 14. Oktober 1978, vor der Kirche der Hl. Peter und Paul in Katowice, überfielen und schlugen ihn vier Polizisten in Zivil krankenhausreif. Kurz darauf wurde er angeklagt, die Vier zusammengeschlagen zu haben und anschließend hat man ihn zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach Protesten im In- und Ausland wurde Świtoń im März 1979 auf Bewährung frei gelassen.

Kurz darauf trat er in der Wallfahrtskirche von Piekary Śląskie/Deutsch Pekar in einen Hungerstreik, weil der polnische Papst Johannes Paul II. während seiner ersten, für Juni 1979 geplanten Pilgerfahrt nach Polen, Oberschlesien nicht besuchen durfte. Świtoń ließ sich nicht brechen.

Eintracht die nicht lange währte. Kazimierz Świtoń, Lech Wałęsa, Marian Jurczyk und Tadeusz Mazowiecki (von rechts) am 24. Septembner 1980 vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten auf dem Warschauer Siegesplatz nach dem sie den Anrtag auf Zulassung der Gewerkachaft Solidarnośc beim Warschauer Woiwodschaftsgeicht eingereicht haben.
Eintracht die nicht lange währte. Kazimierz Świtoń, Lech Wałęsa, Marian Jurczyk und Tadeusz Mazowiecki (von rechts) am 24. September 1980 vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten auf dem Warschauer Siegesplatz nach dem sie den Anrtag auf Zulassung der Gewerkachaft Solidarnośc beim Warschauer Woiwodschaftsgericht eingereicht haben.

Nach der Gründung der ersten „Solidarność“ im September 1980 spielte er in ihrer oberschlesischen Organisation eine wichtige Rolle. Schon damals jedoch machte sich sein schwieriger Charakter bemerkbar. Świtoń kannte keine Kompromisse, kämpfte bis zum letzten verbissen für das, was er für richtig hielt. Im Herbst 1981 wurde er deswegen nicht mehr in die Führung der oberschlesischen „Solidarność“ gewählt.

Nach Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde er interniert, jedoch nach drei Monaten, aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes, entlassen und in Rente geschickt. Auf Schritt und Tritt beobachtet und bespitzelt, immer wieder zu Verhören und „Ermahnungsgesprächen“ vorgeladen, konnte er nicht viel ausrichten. Immer wieder versuchte er 1982 und 1983 eine Gedenktafel an der Grube „Wujek“ in Katowice anzubringen, wo die Polizei kurz nach Verhängung des Kriegsrechts neun Bergleute erschossen hatte, und wurde deswegen verhaftet.

Der Politiker

Nach dem Ende des Kommunismus lief er zur politischen Hochform auf. In Rage brachte ihn vor allem, die sich nach 1989 schnell abzeichnende Kumpanei nicht weniger ehemaliger „Solidarność“-Aktivisten mit den früheren Parteibonzen und Stasi-Leuten, ihre gemeinsamen dunklen Geschäfte, betrügerischen Privatisierungen und Machenschaften, die die Industrieregion Oberschlesien dem Verfall und die Menschen der Massenarbeitslosigkeit aussetzten. Świtoń war ein Störenfried im neuen allgemeinen Trend zum schnellen Geldverdienen, Konsumieren, Genieβen und Seine-Ruhe-Haben.

Er gründete 1989 eine eigene, die Christlich-Demokratische Partei der Arbeit, eine politische Eintagsfliege, wie sich schnell herausstellte. 1991 wurde er in den Sejm gewählt, als Abgeordneter der Schlesischen Autonomiebewegung. 1993 hatte sich der Sejm selbst aufgelöst, um vorzeitige Neuwahlen zu ermöglichen. Świtoń kandidierte seither bei jeder Wahl, aber ein erneuter Einzug in den Sejm gelang ihm nicht.

Der Hitzkopf

Am 14. Juni 1998 katapultierte er sich für knapp ein Jahr mit einer aufsehenerregenden Aktion in die Schlagzeilen der polnischen und internationalen Medien. An diesem Tag schlug Świtoń, gemeinsam mit einigen Getreuen, sein Lager am so genannten Papstkreuz in der einstigen Kiesgrube am Rande des ehemaligen Stammlagers Auschwitz auf. Das Kreuz wurde dort im Juli 1988 aufgestellt. Es war Bestandteil des Altars, an dem Papst Johannes Paul II. im Juni 1979 im nahegelegenen Birkenau, bei seiner ersten Pilgerreise nach Polen, eine Messe zelebriert hatte. Das Kreuz sollte an die 1941 in der Kiesgrube von den Deutschen erschossenen 152 Polen erinnern.

Kazimierz Świtoń (links im Bild) mit seinen Unterstützern beim Aufstellen eines weiteren Kreuzes in der ehem. Kiesgrube am KL Auschwitz im Sommer 1998.
Kazimierz Świtoń (links im Bild) mit seinen Unterstützern beim Aufstellen eines weiteren Kreuzes in der ehem. Kiesgrube am KL Auschwitz im Sommer 1998.

Für viele Juden war das ein Stein des Anstoβes, weil sie das christliche Symbol, in der Nähe des gröβten jüdischen Friedhofes in Auschwitz/Birkenau, als Versuch christlicher Vereinnahmung empfanden. Świtońs Aktion war die Antwort auf massive jüdische Forderungen das Kreuz zu entfernen. Mit der Zeit entstand an der Stelle ein Wald aus etwa 300 Holzkreuzen, die Świtońs Unterstützer aus allen Gegenden Polens herbeibrachten. Świtoń harrte 349 Tage am Papstkreuz aus.

Nachdem der Pachtvertrag für das Gelände aufgelöst wurde, was juristisch gesehen, die Kiesgrube in absehbarer Zeit in die so genannte Schutzzone um das ehemalige Lager einbezogen hätte, und somit aus der Protestaktion Hausfriedensbruch gemacht hätte, drohte Świtoń damit, Sprengstoff zu zünden. Am 28. Mai 1999, nach stundenlangen Verhandlungen, gewährte er dem Sprengstoffkommando der Polizei Zutritt auf das umzäunte Gelände. Er kam für einige Wochen in Untersuchungshaft und wurde Mitte Januar 2000 vom Amtsgericht Oświęcim zu sechs Monaten Haft auf Bewährung und 400 Zloty (ca. 100 Euro) Geldbuβe wegen Volksverhetzung verurteilt, dies, unter Hinweis auf antisemitische Inhalte in seinen Flugblättern.

Trotz anfangs anderslautender Berichte erwies sich der Sprengstoff als eine Attrappe. Alle mitgebrachten Kreuze wurden in ein nahe gelegenes Franziskanerkloster gebracht. Das Papstkreuz ist geblieben, was von jüdischer Seite mehrheitlich nicht mehr beanstandet wurde. Świtońs Befürworter sind bis heute der Meinung, nur seine Beharrlichkeit habe das Papstkreuz „gerettet“. Der Konflikt ebbte ab.

Im Sommer 2010, nachdem Staatspräsident Komorowski neuer Staatschef geworden war, tat sich Świtoń, bei Scharmützeln, als Verteidiger des Kreuzes vor dem Präsidentenpalais in Warschau zu Ehren des bei Smoleńsk tödlich verunglückten Staatspräsidenten Lech Kaczyński, hervor. Das Kreuz wurde entfernt. Später machte er noch einige Male durch skurrile antisemitische Äuβerungen auf sich aufmerksam, womit er sich selbst endgültig ins Abseits manövrierte. Die Öffentlichkeit nahm ihn zunehmend als einen betagten Wirrkopf wahr.

Kazimierz Świtoń starb mit 83 Jahren in Katowice. Auf Anordnung von Parlamentspräsident Sikorski wurde die, von der konservativen Opposition beantragte Schweigeminute für den Antikommunisten Świtoń, „der Einfachheit halber“, mit der von den Postkommunisten beantragten Schweigeminute für den regimetreuen Schauspieler Stanisław Mikulski „zusammengelegt“.

Kein offizieller Vertreter des Parlaments, der Regierung Ewa Kopacz oder des Staatspräsidenten Bronisław Komorowski nahm an Świtońs Begräbnis teil.

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Die Tochter des Staatsgründers

Am 16. November 2014 starb Jadwiga Piłsudska-Jaraczewska.

Die Kindheitserinnerungen der jüngeren Tochter Józef Piłsudskis waren vor allem geprägt vom mucksmäuschenstillen, beinahe allabendlichen zuschauen, wie der Vater, ein leidenschaftlicher Patience-Spieler, kartenlegend über die Staatsgeschäfte nachdachte. Ab und zu nahm er sie auf den Schoβ und sie legten die Karten gemeinsam. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Wanda hatte nicht so viel Geduld.

Jadwiga Piłsudska wurde 1920 in Warschau geboren. Es war Februar. Dem nach 123 Jahren der Teilungen gerade wiederrichteten polnischen Staat stand die schwierigste Probe noch bevor. Im August 1920 gelang es die bolschewistische Offensive vor Warschau zu stoppen und die Sowjets weit in den Osten abzudrängen. Polen, über dessen Leiche, so Lenins Parole, die Fackel der roten Revolution nach Europa getragen werden sollte, war gerettet. Diese Rettung, ebenso wie seine Wiedergeburt 1918, verdankte Polen vor allem Józef Piłsudski.

Man könnte meinen, es sei nicht einfach gewesen, das Kind eines Mannes zu sein, der schon zu Lebzeiten in der allgemeinen Wahrnehmung und Darstellung ein Denkmal war. Doch dem war nicht so.

Beide Töchter kamen auf die Welt als uneheliche Kinder. Der Patriot und einstige Sozialist Piłsudski, der, im übertragenden Sinn, nach eigener Darstellung, „an der Haltestelle »Unabhängigkeit« aus der roten Straβenbahn ausgestiegen sei“, ging in Sachen Sitten, Moral und Religion seine eigenen Wege.

Im Jahre 1899, mit 31 Jahren, wurde Piłsudski evangelisch, um die geschiedene Protestantin und sozialistische Untergrundkämpferin gegen das russische Zarentum, Maria Juszkiewicz heiraten zu können. Ihre gemeinsame Tochter Wanda starb 1908 mit neun Jahren.

1917 wandte sich Piłsudski von Maria ab und einer anderen sozialistischen Kampfgefährtin, Aleksandra Szczerbińska zu. Sie war die Mutter der beiden 1918 und 1920 geborenen Töchter Wanda und Jadwiga. Geheiratet wurde erst im Oktober 1921, nach dem Tod von Piłsudskis erster Ehefrau Maria und nach seiner Rückkehr in den Schoβ der katholischen Kirche.

Józef Piłsudski mit seinen Töchtern Wanda (rechts) und Jadwiga
Józef Piłsudski mit seinen Töchtern Wanda (rechts) und Jadwiga

Verzogen waren Wanda und Jadwiga nicht. Piłsudski pflegte einen bescheidenen Lebensstil: zuerst als „Staatvorsteher“ bis 1923, dann bis Mai 1926, als er sich für drei Jahre demonstrativ von der Politik abwandte und nach Sulejówek bei Warschau ins Private zurückzog. Nicht anders war es nach dem Mai 1926, als er an der Spitze ihm ergebener Truppen putschte und in Polen ein halbautoritäres Regime errichtete, in dem die Opposition zwar zugelassen war, jedoch behindert wurde. Józef Piłsudski starb im Mai 1935.

Seine beiden Töchter erlebten eine ungezwungene, fröhliche, von materieller Bescheidenheit geprägte Kindheit, weil der Vater fast alles Geld stiftete und Mutter Aleksandra die beiden in ihre Wohltätigkeitsarbeit einspannte. Normale Schulen, viel Umgang mit Gleichaltrigen aus normalen Verhältnissen, auch wenn stets ein Kriminalbeamter in der Nähe war. Piłsudski und seine Frau wagten sich immer wieder unbewacht in die Öffentlichkeit, bei den Kindern war ihnen das Risiko zu groβ.

Jadwiga entdeckte mit zwölf Jahren ihre Begeisterung für die Fliegerei. 1937, mit 17 Jahren, machte sie ihren Segelflugschein. Bis 1939 erlangte sie alle Segelflugscheine, die es damals gab: von A bis D, und absolvierte im Sommer 1939 einen 270 km langen Streckensegelflug .

Geplant war ein Studium an der  Fakultät Maschinenbau der Warschauer Technischen Hochschule. Jadwiga wollte Flugzeugkonstrukteurin werden. Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 mache diese Pläne zunichte. Mutter und beide Töchter pflegten Verwundete in einem Warschauer Lazarett, wurden aber am 10. September auf Anordnung der Behörden ins damals polnische Wilno/Wilna gebracht. Als am 17. September 1939 auch die Sowjets über Polen herfielen, flüchteten die drei ins lettische Riga, flogen von dort mit einer Linienmaschine nach Stockholm und dann weiter nach London. Den Sowjets in die Hände zu fallen, das belegen die Schicksale fast aller polnischen und baltischen Prominenten denen das widerfuhr, hätte  mit dem sicheren Tod in einem der sibirischen Arbeitslager geendet.

Jadwiga Piłsudska als RAF-Pilotin 1941
Jadwiga Piłsudska als RAF-Pilotin 1941

Im Mai 1940 meldete sich Jadwiga mit zwei weiteren Polinnen zum Dienst bei der Air Transport Auxiliary (ATA), einer Hilfstruppe der britischen Luftstreitkräfte. Knapp 170 Frauen (1/8 aller Piloten) verrichteten dort freiwilligen Dienst. Ihre Aufgabe war es, neue und ausgebesserte Flugzeuge aus Fabriken und Reparaturwerken zu den Militärflugplätzen in ganz Groβbritannien zu überführen. Jadwigas Leidenschaft waren die 600 km/h schnellen Spitfire Jagdflugzeuge. Knapp eintausend Flugstunden absolvierte sie damals an den Steuerknüppeln verschiedenster Flugzeuge, wurde zum Leutnant befördert.

Mit Eheman Andrzej Jaraczewski
Mit Ehemann Andrzej Jaraczewski

Ende 1944, als sich die Kampfhandlungen mittlerweile weiter weg von Groβbritannien abspielten, quittierte sie den Dienst. Die Pilotin heiratete einen Seemann, den Schnellbootkapitän Andrzej Jaraczewski. Insgesamt kämpften 200 Tausend polnische Soldaten als Flieger, Seeleute und Infanteristen der polnischen Exilregierung in London unterstellt, zwischen 1940 und 1945 an der Seite der Briten: bei der Luftschlacht um England, in Norwegen (Narvik), Nordafrika (Tobruk), in Italien (Monte Cassino, Bolognia), Frankreich (Falaise), Holland (Arnheim) und Norddeutschland (Wilhelmshaven).

Viele von ihnen konnten und wollten nach 1945 nicht in das von den Sowjets eroberte, kommunistische Polen zurückkehren, weil ihnen dort Verhaftungen, bestialische Verhöre in den Folterkellern der politischen Polizei, langjährige Gefängnisaufenthalte, Hinrichtungen drohten. Es sei denn, man leistete Spitzel-Dienste, lieβ sich das moralische Rückgrat brechen, in dem man sich von seinen Idealen lossagte, war bereit, als „politisch unzuverlässig“ auf Karriere zu verzichten, unter Beobachtung zu stehen.

Die Briten erlaubten ihnen zu bleiben, aber die einstigen Verbündeten blieben sich selbst überlassen. Nun galt es, ohne viel Pathos, Haltung zu bewahren. Polnische Generäle und Offiziere hielten sich als Nachtportiers, Lagerverwalter, Gärtner, Barkeeper über Wasser, und pflegten, so gut es ging, das vielfältige polnische Emigrantenleben mit seinen unzähligen Einrichtungen und Institutionen.  Dazu gehört bis heute das Londoner Józef-Piłsudski-Institut mit seinen Forschungsarbeiten und Sammlungen. Piłsudskis Witwe Aleksandra (sie starb 1963 in London) und beide Töchter haben es mitaufgebaut, genauso wie das gleichnamige Institut in New York.

Die Tochter Wanda (sie starb 2001 in Warschau) war eine erfolgreiche Psychiatrie-Ärztin. Ihre Schwester Jadwiga verdiente sich das Emigranten-Brot zuerst als Architektin. Anfang der 50er Jahre gründete sie mit ihrem Mann eine Firma, die zuerst Lampen, dann auch Möbel erfolgreich entwarf und verkaufte. Haltung bewahren, hieβ auch: knapp ein halbes Jahrhundert lang mit einem Flüchtlings-Pass zu leben ohne die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen.

Im Herbst 1990 kamen alle drei: Wanda, Jadwiga und ihr Mann Andrzej Jaraczewski (er starb 1994) zurück nach Polen. Der damalige Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki wartete mit einem Blumenstrauβ am Flughafen. Ein groβer Bahnhof, auf den ein bescheidenes und unauffälliges Leben in Warschau folgte.

Alles in diesem Leben der Drei drehte sich nun um den Rückkauf, die Renovierung und die Einrichtung eines Józef-Piłsudski-Museums in dem kleinen Herrenhaus „Milusin“ in Sulejówek bei Warschau, das der Marschall 1923 von seinen Soldaten geschenkt bekommen hatte. Es soll am 5. Dezember 2017, zum 150. Geburtstag des Marschalls eröffnet werden. Jadwiga Piłsudska wurde mit militärischen Ehren, im Beisein von Staatspräsident Komorowski, neben ihrer Schwester Wanda und ihrem Ehemann auf dem Warschauer Powązki-Friedhof beigesetzt.

© RdP