Untergang mit Rabatt

Preiskämpfe beschädigen den Buchmarkt.

„Lese mit Rabatt – 25%!“, „Unsere Top-Sonderangebote: – 40%!“, „Alle Neuerscheinungen 10% billiger!“ In den polnischen Buchhandlungen tobt der Preiskampf, in grellen Farben locken die Schnäppchen. Auf er Strecke bleiben immer mehr kleine Buchläden. Eine einjährige Preisbindung für Neuerscheinungen könnte den Markt stabilisieren.

„Was bei uns stattfindet ist nicht gut, die Lage ist dramatisch“, sagt Tadeusz Zysk, Eigentümer von „Zysk i S-ka“, eines der gröβten Verlagshäuser des Landes. „Verleger legen von vorne herein hohe Preise fest, da die Händler nicht schon am ersten Verkaufstag mit bis zu vierzigprozentigen Preisnachlässen auf Kundenfang gehen. Der ruinöse Preiskampf der dann allerdings folgt, vernichtet unseren Buchmarkt“.

Der Preiskrieg tobt, weil Leser rar sind. Der Trend geht nicht einmal hin zum „Erstbuch“. Laut Umfragen, gaben nur knapp 42% der Polen über fünfzehn Jahre an, 2014 wenigstens ein Buch gelesen zu haben.

Auch andere Daten sind wenig erfreulich. Polens Anteil am gesamten EU-Buchumsatz betrug 2013 mickrige 3%. Ende 2013 gab es zwar 38.000 Verlage, aber auf nur knapp dreihundert von ihnen entfielen 98% aller Einnahmen auf dem Buchmarkt. Die Zahl der gedruckten Titel wächst, die Auflagen fallen. Es gibt 1.850 Buchhandlungen im Land, in den letzten fünf Jahren ist ihre Zahl um 700, und somit um 30% geschrumpft. Buchhandelsketten, wie „Matras“ (180 Verkaufsstellen) oder „Empik“ (190), beherrschen den Markt, Lebensmitteldiscounter verkaufen Paperbacks an den Kassen, und kleine Buchhandlungen sterben, weil sie beim Preisesenken nicht mithalten können.

Die Polnische Buchkammer (Polska Izba Książki – PIK), in der Verleger, Buchhändler, der Groβhandel und Buchdrucker Mitglied sind, hat einen Gesetzentwurf vorbereitet. In Polen soll es künftig eine einjährige Buchpreisbindung für Neuerscheinungen geben.

„Bücher sind keine Allerweltsware, und selbst die wird im Regelfall nicht bereits am ersten Verkaufstag im Preis herabgesetzt. Bücher sind ein wertvolles Gut, ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Zivilisation, der Kultur, der Wissenschaft. Buchhandlungen mit einem weitgefächerten Angebot, und nicht nur mit Kochbüchern und Krimis, die sich am besten verkaufen, muss es auch in der tiefsten Provinz geben. Doch es werden immer weniger“, so Włodzimierz Albin PIK-Chef und Betreiber eines Verlages für juristische Fachliteratur.

Die Ideengeber hoffen, die einjährige Buchpreisbindung werde den Kundenschwund in kleinen Buchhandlungen, hin zu den rabattträchtigen Filialisten, stoppen. In Deutschland gilt sie mindestens für achtzehn, in Frankreich gar für vierundzwanzig Monate. Elf europäische Länder haben solche Regelungen, und dort wo sie gelten, so PIK-Chef Albin, haben sie sich positiv ausgewirkt.

Der ununterbrochene Preiskampf kostet viel Geld, mit dem man das Angebot erweitern, die Kundschaft mit Werbung, Lesungen und Signierstunden locken könnte, damit die verkauften Auflagen steigen. Im Durchschnitt wird ein Buch in Westeuropa in fünfzehntausend Exemplaren gedruckt, in Polen sind es lediglich dreitausend. Bei vergleichbaren Herstellungskosten wie in Deutschland, bleibt für den Verleger und den Händler daher nicht viel übrig.

Bei den Buchhandelsketten ist man geteilter Meinung. „Matras“-Chef Stanisław Wierzbicki sagt, dass seine Firma auch jetzt Lesungen und Autorenreisen veranstaltet. Sollte die Buchpreisbindung kommen, werden die Verlage nur sehr maβvoll von ihr Gebrauch machen können. „Niemand kann uns zwingen Bücher zu überhöhten Preisen einzukaufen, nur damit sie die Regale füllen. Bei dem überwiegend niedrigen Lohnniveau in Polen kann das sehr schnell passieren.“

Anders „Empik“-Direktor Michał Tomanek. „Preisbindung ist gut für den Markt. Das Beispiel Frankreichs zeigt, dass die Auflagen mit der Zeit steigen und die Preise fallen. Wir hoffen, dass es auch in Polen so sein wird.“

Der Gesetzentwurf über eine Buchpreisbindung wird seit April 2015 im Parlament in den Ausschüssen diskutiert. Die Regierende Bürgerplattform (PO) ist strikt dagegen. Ihr kleiner Koalitionspartner, Bauernpartei (PSL) ist dafür, genauso wie die Nationalkonservativen von Recht und Gerechtigkeit (PiS) und die Postkommunisten (SLD). Dass das Gesetz vor den für Oktober 2015 anberaumten Parlamentswahlen verabschiedet wird, gilt als unwahrscheinlich. Der Entwurf wird, wie alle anderen nicht verabschiedeten Gesetzesvorlagen, verfallen und im neuen Parlament neu eingebracht werden müssen. So sind die Regeln.

Die Rabattschlacht im Buchhandel geht vorerst uneingeschränkt weiter.

© RdP




Büsserlandschaft-Bluesman

Am 29. Januar 2015 starb Jan Skrzek.

Besonders herzzerreiβend schluchzte die Mundharmonika, die er so meisterhaft beherrschte, immer dann, wenn er in seinen Bluesballaden von seinem Górny Śląsk, von Oberschlesien erzählte.

Von der langsam verödenden, sich entvölkernden Heimat („O mój Śląsku, umierasz mi w biały dzień“/Oh, du mein Schlesien, du stirbst mir am hellichten Tage„). Von Bergleuten die unter Tage zu Tode gekommen sind („To był chłop“/“Das war ein Kerl“). Vom Bier, von der Eckkneipe, von Taubenschlägen und Kohlehalden. „Kyks“, so sein Spitzname, wusste sehr gut wovon er sang, denn er schuftete eine Zeitlang als Hauer. Und so sang er in der unverwechselbaren polnisch-oberschlesischen Mundart:

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, ich schlage keine Kohle mehr,

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, ich spiele Blues, ich fühle Blues, das liegt mir sehr,

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, weiβe Hände, schwarzer Blues,

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, mit Maloche ist jetzt Schluss,

Steiger, ich schäme mich ein klein wenig, doch Deine Worte sind in meinem Ohr: „egal was Du tust, mein Junge, mach‘s richtig, und sei kein Tor.“

(Übers. RdP)

„Sztajger, jest mi trocha wstyd“/“Steiger, ich schäme mich ein klein wenig“

Blues ist die Musik der Wahrheit, sie muss sagen was Sache ist, sonst verkommt sie zu einer seelenlosen Spielerei. „Kyks“ hatte ein besonderes Gespür dafür. Seine Texte waren bitter, so wie der Anblick seiner Heimat Bitterkeit hervorruft. Auswechselbare Städte und Dörfer gehen ineinander über, hinter Grauschleiern liegen Industriegebäude und Arbeitersiedlungen aus dunkelrotem Backstein wie ausgestreut aus einem Füllhorn der Geschichte. Dazwischen, hingeworfen nach dem Zufallsprinzip, lieblos, ohne Gestalt, hässliche Wohnwaben aus Beton, Garagen, Baracken, Buden, Straßen. Der Geist des ausgehenden Industriezeitalters materialisiert sich zwischen Katowice/Kattowitz, Bytom/Beuthen, Gliwice/Gleiwitz und Jastrzębie/Jastrzemb im Süden, in einer Büßerlandschaft von oft durchdringender Traurigkeit.

Jan Skrzek (phonetisch: Skschek) wurde 1953 Mitten im Kohlerevier, in Siemianowice Śląskie/Laurahütte geboren. Der Vater Bergmann, die Mutter Hausfrau, die beiden Söhne Józef und Jan vernarrt in Rock and Roll, Beat, Blues, Jazz… Der ältere Bruder Józef Skrzek mit seiner Rock-Jazz-Band SBB (ursprünglich für „Silesian Blues Band“, später für „Szukaj, Burz, Buduj“ –„Suchen, Brechen, Bauen“ bzw. „Search, Break & Build“)  genieβt seit Jahrzehnten Kultstatus im Revier. Jan und Józef trafen sich immer wieder auf der Bühne, aber Jan ging meistens seine eigenen Wege, frönte seit Anfang der 70er Jahre mit Leidenschaft dem Blues. Immer herzlich, immer hilfsbereit, keine Allüren, keine Ansprüche, Karriere war ihm egal. Was galt, war der Spaβ am Blues. Auftritte mit führenden Blues&Jazz-Musikern und Bands, Solokonzerte, Festivals, Musik-Aufnahmen, Filme, Fernsehen, Auszeichnungen. Immer auf Achse, schnell und intensiv leben, vor allem mit seiner Leber kannte Skrzek keine Gnade…

Am 17. Januar 2015 war er, vor einem Konzert,  in seiner Wohnung mit ein paar befreundeten Musikern verabredet. Sie brachen die Tür auf, als er nicht öffnete. Noch eine Woche lang lebte Jan Skrzek nach dem Gehirnschlag auf der Intensivstation im Katowicer Universitätskrankenhaus. Er starb mit 61 Jahren. Geblieben sind seine Bluesballaden.

„To był chłop“/“Das war ein Kerl“

Nicht mehr da, der Kerl, gestern noch war er in die Kneipe mit,

was soll man sagen, ist wie im Krieg, hier gibt’s Dynamit.

Fuhr ein, ein letztes Mal, zu Hause weinen die Lieben,

so ist’s, nur die Bergmanns-Marke ist ihnen geblieben.

(Übers. RdP)

„O mój Śląsku, umierasz mi w biały dzień“/“Oh, du mein Schlesien, du stirbst mir am hellichten Tage„

Die neue Version dieses Blues hat Skrzek (am Anfang und am Ende des Clips zu sehen) vor nicht  langer Zeit mit dem in der Region bekannten Rapper Mioush aufgenommen. Die Bilder sagen alles.

© RdP




Dichter-Koryphäe

Am 26. Dezember 2014 starb Stanisław Barańczak.

Er hat sich einen groβen Namen in vierlei Hinsicht gemacht: als Dichter, als Dissident, als Literaturkritiker und als Übersetzter. Er war ohne Zweifel eine Koryphäe der modernen polnischen Literatur.

Bürgerrechtler

1946 in Poznań/Posen, in einer gutbürgerlichen Arztfamilie geboren, war er ein Kind der Volksrepublik Polen, gegen die er seit seinen Jugendjahren stets rebellierte. Begabt und belesen studierte Barańczak Polonistik an der Poznaner Adam-Mickiewicz-Universität. Die geistige Enge des Kommunismus war ihm zutiefst zuwider. Die letzten Illusionen in Bezug auf das System raubten ihm die Ereignisse des Frühjahrs 1968, als in allen polnischen Universitätsstädten Studentenunruhen ausbrachen. Beim Auseinandertreiben der Studentendemonstration in Poznań kassierte er einige schmerzhafte Schlagstockhiebe. Kurz darauf, als er als Mitglied einer Studentendelegation die Forderungen der Protestierenden nach mehr Freiheit in Forschung und Lehre im Uni-Rektorat vorbringen wollte, wurde er Zeuge äußerster Arroganz und Verachtung der Apparatschiks.

Barańczak setzte viel aufs Spiel, denn mit seinen unkonventionellen Gedichten hatte er bereits auf sich aufmerksam gemacht, bekam erste Auszeichnungen. Es war gewiss: ihm stand eine groβe literarische Karriere bevor. Schon als Student war er Chefdramaturg des Poznaner experimentellen „Theaters des Achten Tages“. Noch wurde er geduldet. Sein erstes Gedichtband „Przyczyny zgonu“ („Todesursachen“) durfte 1968 erscheinen. 1971 erhielt er den Doktortitel und bekam eine Stelle an der Poznaner Universität, obwohl er bereits 1969, nach wenigen Jahren der Mitgliedschaft, aus der herrschenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgetreten war.

Im Jahr 1977 trat Barańczak dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) bei. KOR war eine Gruppe der polnischen Bürgerrechtsbewegung. Mitglieder waren namhafte Intellektuelle. Sie entstand als Reaktion auf zahllose Drangsalierungen, Schikanen und brutale Übergriffe (Verhaftungen, bestialische Misshandlungen auf Polizeistationen, Entlassungen, Verhängung hoher Haftstrafen in fingierten Strafprozessen usw.) auf Teilnehmer an Arbeiterprotesten gegen die Lebensmittelpreiserhöhungen im Juni 1976 in der Stadt Radom. Das Hauptziel war die finanzielle Unterstützung und die Bereitstellung eines Rechtsbeistands für verfolgte Arbeiter. KOR war eine der Keimzellen der späteren Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“.

Barańczak wurde daraufhin entlassen und im Februar 1977, aufgrund eines von der Staatssicherheit konstruierten Vorwurfs der Korruption, zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Er bekam Schreib- und Veröffentlichungsverbot. Nicht der geringste Hinweis auf ihn, keine Gedichte oder andere Texte von ihm durften erscheinen.

Der Dichter lehrte ab diesem Zeitpunkt an der sog. Fliegenden Universität, deren Vorlesungen in Privatwohnungen stattfanden, nahm im Mai 1977 am Hungerstreik in der Warschauer Hl. Martin-Kirche zugunsten politischer Häftlinge teil, unterschrieb Protestaufrufe an die Behörden, war Redaktionsmitglied der illegal gedruckten Literaturzeitschrift „Zapis“ („Niederschrift“). In Poznań, wo die demokratische Opposition sehr schwach war, war Barańczak lange Zeit ihr wichtigster Brückenkopf.

Nach Gründung der „Solidarność“ im September 1980 engagierte er sich für die Arbeit der Bewegung und bekam seine Stelle an der Universität wieder. Im Januar 1981 erreichte ihn ein Angebot, so verlockend, dass er es nicht ausschlagen konnte. Er sollte die Leitung des (in Amerika einzigen) Instituts der Polnischen Literatur an der Harvard-Universität übernehmen. Aus den geplanten drei Jahren Aufenthalt wurde „lebenslänglich“, vor allem da am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde.

Barańczak und sein Schaffen wurden nun zu einem Teil der polnischen Exilkultur. Sie ist seit dem Ende des 18. Jh., aufgrund der stets wiederkehrenden Massenauswanderungen auf der Suche nach Freiheit und Brot, der „zweiter Lungenflügel“ der polnischen Nationalkultur geworden. Barańczaks Gedichte und Essays erschienen in Exilverlagen und gelangten bis 1989 auf illegalen Wegen nach Polen.

Nicht zu unterschätzen sind seine Verdienste darum, der polnischen Literatur den Weg in die Verlage, die Bibliotheken Amerikas und die Köpfe der Amerikaner gebahnt zu haben.

Dichter, Literaturkritiker, Essayist

Ein Teil seines Widerstandes bestand aus seinen scharfsinnigen Analysen der sozialistischen Massenkultur. In Essays und wissenschaftlichen Texten nahm er Krimis, Abenteuerromane und andere im Parteiauftrag entstandene Arten der Populärliteratur, ihre Feind- und Leitbilder unter die Lupe. Barańczak beschrieb die Funktionsweise der Manipulation, Menschen, die kritiklos Propagandainhalte übernahmen, gab seiner Angst Ausdruck vor der stumpfsinnigen, manipulierten Masse.

Sein moralischer Standpunkt hinsichtlich der Dichtung war klar umschrieben: „Misstrauen. Kritizismus. Bloβtellung. Das alles sollte sie sein, so lange bis die letzte Lüge, der letzte Rest der Demagogie, die letzte Gewalttat von dieser Welt verschwinden“. Sein moralisch-dichterisches Manifest legte Barańczak 1971 in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel „Nieufni i zadufani“ („Misstrauisch und eingebildet“) dar.

Ein Merkmal seiner Gedichte war die Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks: Satzfetzen, scheinbar chaotisch aneinandergereiht, dieselben Worte, die in immer neuen Verbindungen wiederkehren. Es ging ihm darum, feste Wortverbindungen, eingeprägte Redewendungen und mit ihnen Denkschemata zu zerschlagen.

Bezeichnend in dieser Hinsicht ist das Gedicht „Blicken wir der Wahrheit ins Auge“ von 1970, in dem er, von der Redewendung ausgehend, die Überzeugung äuβert, dass die Wahrheit zu sagen, eine moralische Pflicht des Dichters sei, gegenüber den anonymen Beobachtern, der Öffentlichkeit:

„…zeigen wir uns auf der Höhe/ des Auges, wie die Kreideschrift an der Mauer, wagen wir es/ der Wahrheit ins Auge zu sehen, das nicht abläβt von uns/ das überall ist, festgetreten im Pflaster unter den Füβen/ festgeklebt im Plakat, versunken in Wolken…“

(übersetzt von Karl Dedecius).

Die Dichtung war für Barańczak vor allem ein Instrument der Verteidigung gegen die alles überflutende Propagandasprache, eine Sprache der Lüge, die es zu entlarven, zu hinterfragen, bloβzustellen galt, um Menschen zum Nachdenken zu bringen, zu zwingen sich selbst Fragen zu stellen. Eine schwere Aufgabe, wie er es in seinem Gedicht „N.N. fängt an sich Fragen zu stellen“ formulierte, in einer Zeit, in der man:

„…beim Wort „Sicherheit“/ Gänsehaut bekommt, in der das Wort „Wahrheit“1)/ ein Zeitungstitel ist, in der Wörter „Freiheit“/ und „Demokratie“ in den Dienstbereich/ eines Polizeigenerals2) fallen…“

(übersetzt von Peter Lachmann).

Die politische Komponente in seiner Dichtung verlor mit der Zeit an Bedeutung, anderes: Liebe, menschliches Verhalten in Zeiten des Überflusses, das Verhältnis zur Natur rückten in den Vordergrund.

Übersetzter

Stanisław Barańczak wird auch als ein begnadeter Übersetzter englischsprachiger Literatur in die Geschichte der polnischen Kultur eingehen. In den 90er Jahren hat er zwanzig Shakespeare-Dramen neu ins Polnische übertragen. Diesen Übersetzungen wird allerhöchste Qualität bescheinigt.

Nicht anders beurteilt werden seine Übersetzungen der Gedichte von Emily Dickinson, Elizabeth Bishop, Edgar Allan Poe, Seamus Heaney, Joseph Brodsky, Thomas Campion, John Donne, Robert Herrick, George Herbert, Henry Vaughan, John Keats, Thomas Hardy, aber auch der Liedertexte der Beatles. Barańczak wurde in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens zu einem unermüdlichen Mittler vor allem zwischen der amerikanischen Dichtung und der polnischen Sprache.

1999 hat man bei ihm die Parkinson-Krankheit festgestellt. Seit dem zog sich Barańczak immer mehr in die Privatsphäre zurück. Er starb in den USA im Alter von 68 Jahren und wurde auf dem Mount-Auburn-Friedhof in Cambridge bei Boston begraben.

Anmerkungen:

1) Gemeint ist „Prawda“, das poln. und russ. Wort für Freiheit. „Prawda“ hieβ das Zentralorgan der sowjetischen KP.

2) Gemeint ist Mieczysław Moczar (1913-1986), kommunistischer Partisan, General der Staatssicherheit und hoher Parteifunktionär, bekannt für sein autoritäres Auftreten. „Freiheit“ und „Demokratie“ waren Bestandteile der offiziellen Bezeichnung des einzigen zugelassenen Veteranenverbandes: „Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie“, dem Moczar vorstand und der ein wichtiger Bestandteil seiner Machtgrundlage war.

© RdP




Regisseur ergreifender Filme

Am 24. Dezember 2014 starb Krzysztof Krauze.

Wenn im Filmgeschäft des Westens das Kulturgut aus dem Osten vergleichbare Startchancen hätte wie umgekehrt, hätte „Plac Zbawiciela“ („Erlöserplatz“) aus Polen alle Chancen, auch in Deutschland ein Kassenschlager zu werden“, schrieb im Januar 2007 die deutsche Tageszeitung „Die Welt“. Der Mann, dessen Film damals so gelobt wurde, ist leider von uns gegangen, die Einseitigkeit des Kulturaustausches zwischen West und Ost bedauerlicherweise nicht.

Im Namen der Schwachen

Sein Talent reifte langsam, erst im letzten Lebensjahrzehnt lief er zur künstlerischen Höchstform auf. Krauze starb auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Leistung: populär, gefeiert, mit Auszeichnungen überhäuft, und dennoch stets bescheiden, zurückhaltend, zaudernd. Er stellte sich nur dann hinter die Kamera, wenn er meinte etwas Wichtiges zu sagen zu haben, meistens im Namen der Schwachen, die keine Kraft hatten zu schreien.

Krauze vertrat die Ansicht, Filme mache man, um Menschen in Schutz zu nehmen, um Werte zu bewahren, um für existenzielle Anliegen und Belange Partei zu ergreifen. Aus scheinbar banalen Situationen gelang es ihm auf der Leinwand immer wieder eine zutiefst beklemmende Stimmung zu erschaffen, um so die Ausweglosigkeit von Lebenssituationen zu veranschaulichen. Menschen: naiv, gutwillig, bemüht, motiviert, erfolgsgläubig und konsumhungrig, die unter die Räder des hemdsärmeligen, nachkommunistischen Graswurzel-Kapitalismus geraten sind, waren seine Charaktere.

Krzysztof Krauze wurde 1953 in Warschau geboren. Der Sohn eines renommierten Rechtsanwalts und der bekannten Filmschauspielerin Krystyna Karkowska studierte Kameramann an der angesehenen Filmhochschule in Łódź, aber er wollte nicht Bilder in Szene setzen, sondern Filme machen. Unmittelbar nach dem Studium, nach 1976, versuchte er sich als Kurzfilme-Regisseur.

Dann das Aus aller Hoffnungen auf Freiheit, die im Spätsommer 1980 mit dem erfolgreichen Ende der großen Streiks aufkamen. Das Verbot der Solidarność, die Rückkehr der stumpfsinnigen, trist-grauen kommunistischen Wirklichkeit nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981… Das zu ertragen überstieg seine Kräfte bei weitem. Er ging nach Wien, dann nach Paris, und merkte bald, wie überflüssig, wie fehl am Platze er dort war.

„Die Schuld“

Die Rückkehr nach Polen Mitte der 80er Jahre, war der Beginn seines lang andauernden schöpferischen Reifens, das 1999 mit dem Film „Die Schuld“ („Dług“) ein Meisterwerk hervorgebracht hat. Der Film wurde im Winter gedreht. Kühle, glatte Fassaden neuerrichteter Banken sind die Kulisse der Geschichte. In dieser Kälte drohen die Träume zweier junger Männer zu platzen. Die Warschauer Stefan, ein Volkswirt, und Adam, Architekt, wollen eine Firma gründen, doch die Banken weisen sie ab. Sie geraten an Gerard Nowak, einen ehemaligen Schulkameraden, inzwischen ein Geldeintreiber mit Mafiaverbindungen, der sich auf Erpressung spezialisiert hat. Der Businessman mit kurzem Haarschnitt und starrem Blick verspricht schnelle Hilfe.

Schon kurz darauf, ohne eine Miene zu verziehen, fordert er von ihnen die Rückzahlung absurder Schulden, die sie nie eingegangen sind. Als erster wird der Architekt vor seinem Haus verprügelt. Die Schuld würde ab jetzt täglich um 1000 Dollar anwachsen, teilt Nowak ihm mit. Beim nächsten Mal kündigt der Schuldeneintreiber dem Opfer seine Hinrichtung an, dann wirft er es in den Kofferraum seines Autos. Eine halbe Stunde später steht der Wagen vor einer Polizeidienststelle in Warschau. Der Gangster plaudert mit einem Beamten. Sie duzen sich. „Wen hast du da im Auto?“, fragt der Beamte. „Einen, der mir Geld schuldet“, antwortet der Entführer. Der Polizist beugt sich über den Gefesselten. „Schulden muss man pünktlich zahlen“, sagt er.

Die Musik des bekannten Jazzkomponisten Michal Urbaniak und die klaustrophobische Kameraführung lassen den Zuschauer die Angst der Opfer bildhaft spüren. Die jungen Leute werden misshandelt und erniedrigt. Als der Architekt versucht die Polizei zu verständigen, schlägt eine Schmollmund-Lolita in Uniform dem verängstigten Mann vor, seinen Verfolger amtlich „zu ermahnen“.

Irgendwann überwältigen Stefan und Adam in ihrer Verzweiflung den Psychopaten und seinen Leibwächter, schlachten die beiden nachts am Weichselufer ab. Die Köpfe trennen sie von den Leichen und werfen sie ins Wasser. Der Mord soll wie eine Hinrichtung der Russen-Mafia aussehen. Dem Film lag ein echter Kriminalfall zugrunde. Die wahren Täter-Opfer, obwohl sie sich gestellt haben, wurden von einer Richterin, die sich im Kriegsrecht mit drakonischen Strafen einen Namen gemacht hatte, zu lebenslänglich verurteilt. Der Sadist war ein V-Mann der Polizei. Es war das unvorstellbare Versagen der Polizei und der Justiz, sowie das unter vielen Polen verbreitete Gefühl, im Raubtier-Kapitalismus zu leben, die Krauzes Film zu einem ungewöhnlichen Kinoerfolg gemacht haben.

„Erlöserplatz“

Ein solcher Erfolg war auch „Plac Zbawiciela“ („Erlöserplatz“) von 2006. Der Film spielt am gleichnamigen Platz, mitten in Warschau. Ein rundes Stück Asphalt und Gras, über das die Straßenbahn rumpelt. Eine hoch aufragende Kirche gab dem Platz den Namen. Hier wohnt Teresa, die Mutter. Ihr Sohn Bartek ist mit Beata verheiratet, einem recht hübschen Mädel vom Lande, zwei Kinder sind auch schon da. Das junge Paar hat in einer entstehenden Siedlung bereits eine Wohnung gekauft, dafür einen horrenden Kredit aufgenommen. Doch die Baufirma geht Pleite. Die frühkapitalistische Variante der aus sozialistischer Zeit gut bekannten Wohnungsnot zwingt die junge Familie, bei Teresa einzuziehen. Auf engem Raum reibt man sich aneinander, ein böser Blick gibt ein böses Wort, ein Wort gibt das andere.

Mutter Teresa giftet Schwiegertochter Beata an, während Bartek fremdgeht. Am Ende zieht Bartek aus; seine Frau will ihn festhalten, doch er tritt und schlägt sich den Weg frei. Dann gibt Beata den Kindern Tabletten und schlitzt sich selbst die Pulsadern auf. Alle drei überleben. Im Gerichtssaal führt Bartek in letzter Minute eine Wende herbei: Er bekennt seine Schuld an Beatas Verzweiflung, worauf er verurteilt und seine körperlich gezeichnete Frau freigesprochen wird.

Es sind großartige schauspielerische Leistungen. Kameramann Wojciech Staron sitzt den Charakteren dicht im Nacken, um die Enge der Wohnung durch die Kameraführung noch zu unterstreichen. Schuldenlast und Angst um den Arbeitsplatz treiben eine Familie in Ratlosigkeit und Selbstzerstörung.

„Papusza“

Den „Erlöserplatz“ drehte Krauze zusammen mit seiner vierten Ehefrau Joanna Kos-Krauze. Sie waren zu Beginn des 21. Jahrhunderts das mit Abstand kreativste Duo der polnischen Filmszene. Einen beeindruckenden Beweis dafür lieferte Krauzes letzter Spielfilm „Papusza“ von 2013. Entstanden ist ein poetisches, in betörenden Schwarz-Weiβ-Bildern gehaltenes Drama, das tief unter die Haut geht. Es erzählt das Leben der Roma-Dichterin Bronisława Wajs, von ihrer Mutter liebevoll Papusza – Puppe genannt.

Den Trailer mit deutschen Untertiteln kann man hier sehen.

Schon bei ihrer Geburt, 1910, im damaligen Russisch-Polen sagten die Roma-Frauen voraus, dass sie ihrem Volk „großen Stolz oder große Scham“ bringen wird. Das wissbegierige Mädchen ließ sich heimlich von einer jüdischen Buchhändlerin Lesen und Schreiben beibringen, entdeckte so die Welt der Poesie. Ihre Gedichte erzählen vom Leben der Roma, ihrer Sehnsucht nach dem gemeinsamen Umherziehen, ihrer unermesslichen Naturverbundenheit.

Papuszas Clan wird vom Unglück verfolgt: Nirgends sind die Roma gern gesehen, werden mit Diebstahl und Betrug in Verbindung gebracht. Doch die Krauzes verklären nicht, entsagen der „Zigeunerromantik“, zeigen auch die Feindseligkeit und Ignoranz der Roma gegenüber anderen Kulturen und dem Fortschritt. Während der Besatzungszeit verfolgen und drangsalieren die Deutschen die Zigeuner gnadenlos, bringen sie zu Zehntausenden barbarisch um. Papusza überlebt.

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Krzysztof Krauze und seine Frau Joanna Kos-Krauze bei den Dreharbeiten zu „Papusza“.

Als kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, 1950, ihre Gedichte ins Polnische übersetzt und veröffentlicht werden, ist dies eine Sensation und schlagartig wird die Dichterin berühmt – doch der Ruhm hat auch Schattenseiten. Ihr Clan wirft ihr vor, sie habe Geheimnisse ihres Volkes preisgegeben und brandmarkt sie als Verräterin…

Begleitet von der melancholischen Musik der Roma entfaltet „Papusza“ eine enorme dramatische Kraft, lässt die archaische und brutale, zugleich wunderschöne und naturverbundene Welt der Roma lebendig werden. Krzysztof Krauze hat sich mit einem Meisterwerk ins Jenseits verabschiedet.

Krzysztof Krauze verlor einen schweren, neun Jahre andauernden Kampf gegen den Prostatakrebs. Mit seinem Tod büβte das polnische Kino einen Regisseur ein, der schon zu Lebzeiten in einem Atemzug mit dem groβen Moralisten der polnischen Leinwand, dem 1996 verstorbenen Krzysztof Kieślowski („Dekalog“, „Drei Farben: blau, weiβ, rot“) genannt wurde.

Krzysztof Krauze wurde, auf seinen ausdrücklichen Wunsch, ohne Beisein eines Priesters, in Kazimierz Dolny an der Weichsel bestattet. Staatspräsident Komorowski verlieh ihm posthum den Komturstern des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).

© RdP