5.12.2022. Deutscher Hochsprung, polnischer Fußball. Eine WM-Nachlese

Ohne Überschwang der Freude, aber auch ohne dem Katzenjammer zu erliegen, verabschiedete sich Polen am Sonntag, dem 4. Dezember vor den Fernsehschirmen von der Fußball-WM in Katar. Die polnische Nationalmannschaft verlor 1 : 3 gegen Frankreich, den Weltmeister von 2018.

Eine Blamage war es nicht, denn die Elf konnte das ungleiche Duell mit dem großen Favoriten über weite Strecken besser als angenommen gestalten. Vorher, mit einer Prise Glück und bei eher mittelprächtigem Können, war es dem polnischen Team gelungen, zum ersten Mal seit 1986, in die K. o.-Runde einer Fußball-WM zu gelangen. Wenigstens „wyjść z grupy“ („aus der Vorrunde herauskommen“) lautete der millionenfach wiederholte, hoffnungsvolle Stoßseufzer, seitdem sich Polen für diese WM qualifiziert hatte. So gesehen kann von Enttäuschung keine Rede sein.

Und sonst?

Vor der WM wurde beklagt, dass durch die Zulassung von vielen „Schwächlingen“ das Turnier nur unnötig verlängert wird, und dass es zu viele Spiele auf nur ein Tor geben würde. Es wäre am besten, so der Tenor, fünf Top-Mannschaften aus Europa und fünf aus Südamerika gegeneinander antreten zu lassen. Der Rest der Welt zähle ohnehin nicht.

Die erste Runde der Meisterschaft hat das widerlegt. Die Teams, die den besten Eindruck machten, waren genau diejenigen, die im Vorfeld als Punktelieferanten abqualifiziert worden waren: Saudi-Arabien, die USA, Kanada oder Japan. Und es geht nicht nur um die sensationellen Ergebnisse, wie Japan gegen Deutschland 2 : 1, sondern um den Stil, den Kampfeswillen, die Freude am Spiel, die sie gezeigt haben.

Ansonsten lassen sich die Überlegungen zur WM und diejenigen, die sie formulieren, in zwei Gruppen einteilen. Den einen geht es um Fußball, den anderen um Katar.

Nach dem Spiel Deutschland-Japan verkündete Moderatorin Monika Olejnik, die Oberfurie des linksradikalen polnischen Journalismus, in ihrer Sendung auf dem Fernsehkanal TVN, dass Deutschland zwar gegen Japan verloren, aber abseits des Spielfeldes gewonnen habe, weil das DFB-Team gegen die Geschehnisse in Katar zu protestieren wagte. „Danke Deutschland!“, platzte es auf Deutsch emphatisch aus ihr heraus, und sie hielt sich, zusammen mit ihren Talk-Gästen, ausschließlich Politikern der Linken, die Hand vor den Mund.

Diese groteske Szene zeigt die Scheinheiligkeit der linksliberalen Medien, der großen Politik und nicht zuletzt des großen Kapitals, die viele Jahre lang Zeit hatten die Fußballweltmeisterschaft in Katar zu verhindern, es aber, aus bekannten Gründen, nicht getan haben. Was blieb, waren leere Gesten.

In Polen überwog einfach die Vorfreude darauf, endlich wieder einem Festival des Spitzenfußballs beiwohnen zu können. Unsere deutschen Nachbarn, soweit man das aus der Ferne überblicken konnte, vermittelten eher den Eindruck, sich auf eine Weltmeisterschaft im Hochsprung vorzubereiten und sich damit zu beschäftigten, ihre moralische Messlatte so hoch zu legen, wie es nur geht. Nicht dabei, sondern dagegen zu sein schien ihr wichtigstes Anliegen zu sein. Schmerzhaft mussten sie auf dem Spielfeld erfahren, dass Haltung keine Leistung ersetzen kann.

Die deutsche Innenministerin trug in Katar stolz die „One-Love“-Binde. Kurz zuvor hatte ihr Kabinettskollege Habeck beim katarischen Scheich um Gas gefleht. Seinem Drängen und Bitten wurde stattgegeben. So war für beides gesorgt, was den Deutschen wichtig ist: die überlegene ethische Gesinnung und die warme Stube für den Winter. Notgedrungen haben die beiden ein triple pack geschnürt, denn eine ungebetene „Gästin“, die Doppelmoral, gesellte sich hinzu und wollte partout nicht enteilen.

Es gibt noch viele Staaten, in denen die Ehe das ist, was sie eigentlich ist: eine dauerhafte Verbindung zwischen Mann und Frau. Dazu gehören u. a. Polen, Griechenland, Japan (wo das vor wenigen Tagen bestätigt wurde), Russland, die Slowakei, Bulgarien, Lettland, die Ukraine, Ungarn usw., usf. Werden deutsche Politiker, Herr Scholz, Herr Habeck, Frau Baerbock, Herr Lindner u. a. jetzt klein beigeben oder konsequenterweise auch bei ihren Besuchen in diesen „Zeichen setzen“ und trotzig die „One-Love“-Binden tragen?

Jedenfalls ist für Abermillionen von Menschen auf der ganzen Welt die WM in Katar das, was sie für große Teile der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr zu sein scheint: ein großes Fest des Fußballs. Auch weil die Duelle zwischen den Nationalmannschaften die letzten Bastionen eines Fußballs sind, den es sonst nicht mehr gibt. Hier werden Spieler nicht für Millionenbeträge ge- und verkauft, sie können höchstens eingebürgert werden, aber das ist eher nebensächlich. Man feuert die eigenen Landsleute an, schwingt die eigene Nationalfahne. Nur bei den Weltmeisterschaften besiegt David den Goliath.

Die Begeisterung in Polen (und anderswo) nach der Niederlage Deutschlands gegen Japan war kein antideutscher Reflex, sondern einfach die Freude darüber, dass der Fußball offensichtlich noch nicht verloren ist, wenigstens so lange so etwas passieren kann.

Zwar weiß und macht man in Deutschland gemeinhin alles besser, dennoch sei von dieser Warte aus die Bemerkung erlaubt, dass man den Sportlern nicht die Aufgaben von Politikern zumuten sollte. Fußballer verdienen viel Geld mit ihrem Sport, weil sie vor allem das machen, was sie am besten können: Fußball spielen. In anderen Dingen sind sie oft eher blauäugig und unwissend. Wäre es also nicht besser, die Fußballprofis Fußball spielen und die deutschen Polit-Profis ihre Arbeit verrichten zu lassen, allerdings weit weg von den Stadien, wenn möglich? Nur so machen sich beide nicht lächerlich.

RdP




Rakete im Fahrradsattel

Am 1. Februar 2021 starb Ryszard Szurkowski.

Das Jedermannrennen Rund um Köln war zu Ende und Ryszard Szurkowski war nicht auffindbar. Am 10. Juni 2018 warteten seine Freunde an der Ziellinie vergebens auf ihn. Normalerweise war es der einstige Rad-Champion, der seinen Oldboy-Freunden vom „Team Szurkowski“ seit Jahren regelmäßig davonfuhr, und sie an den Zieleinfahrten in Empfang nahm.

Bald wurde klar, dass er in einen Massenunfall verwickelt sein musste, den es einige Kilometer vor dem Ziel gegeben hatte. Nach langem Herumtelefonieren bestätigte endlich eine der Kliniken, dass bei ihr ein Schwerverletzter eingeliefert worden war. Er hatte keine Papiere bei sich, war gut 60 Jahre alt und trug gelbe Fahrradschuhe.

Briefmarke 1. Friedensfahrt 1948

Jahrelang hat man Ryszard Szurkowski am Gelben Trikot erkannt. Es war das Trikot des Gesamtführenden während der Friedensfahrten von 1970, 1971, 1973 und 1975, die er gewonnen hat. Jetzt, in Köln, fuhr er in gelben Schuhen.

Team Szurkowski

Es war die 102. Auflage des Eintagesrennens Rund um Köln. 4.500 Radfahrer am Start. Profis, die mehr als 200 Kilometer zurücklegen mussten. Amateure hatten 126 Kilometer zu fahren. Die Veteranen, die in verschiedene Altersklassen eingeteilt wurden, nur 60 Kilometer.

Ryszard Szurkowski am Start zum letzten Rennen in seinem Leben in Köln am 10. Juni 2018

Ryszard und seine Freunde starteten in der Gruppe 60+. Sie trugen schwarze, kurze Hosen und gleiche T-Shirts mit der Aufschrift „Team Szurkowski Poland“. Sie präsentierten sich ansehnlich, das Logo machte auf sie aufmerksam und erfüllte sie mit Stolz. Der Mannschaftsführer fuhr mit der Startnummer auf Trikot und Helm.

„Ich erinnere mich an alles, denn überraschenderweise habe ich nicht einen Moment lang das Bewusstsein verloren“, erzählte Szurkowski Monate später einem Journalisten im Rehabilitationszentrum in Konstancin bei Warschau.

Ryszard Szurkowski nach seinem Unfall in der Kölner Klinik in Juni 2018

„Es passierte ein paar Kilometer vor dem Ziel. Eine breite Straße und ein unglaubliches Tempo. Gut 40 Kilometer pro Stunde. Wir näherten uns einer Insel. Die meisten Fahrer wichen ihr auf der rechten Seite aus, aber die beiden vor mir wollten die Insel wahrscheinlich von links umfahren. Sie kollidierten mit ihren Lenkern und im Bruchteil einer Sekunde lagen sie am Boden. Eigentlich nichts Besonderes, aber ich hatte keine Chance. Ich kippte über den Lenker und schlug mit dem Gesicht auf den Asphalt. Danach prallten zwei Radfahrer auf mich, dann etwa noch ein Dutzend, vielleicht sogar mehrere Dutzend weitere. Ich hörte das Klacken von Fahrrädern, Rufe und das Martinshorn des Krankenwagens“.

Einer der größten Sportler Polens im 20. Jahrhundert

Bis 2018 wurde die Kölner Veranstaltung von dem radsportbegeisterten Artur Tabat organisiert. Szurkowski und Tabat kannten sich seit Anfang der Neunzigerjahre gut.

Ryszard Szurkowski auf dem Höhepunkt seiner Popularität Mitte der Siebzigerjahre

Als Tabat 1971 die Verantwortung für das heute älteste Radrennen Deutschlands übernahm, gewann Szurkowski jenseits des Eisernen Vorhangs zum zweiten Mal die Friedensfahrt. Die Leser von „Przegląd Sportowy“ („Sport-Rundschau“), der führenden Sportzeitung im kommunistischen Polen, kürten ihn zum besten polnischen Sportler des Jahres, was sich 1973 wiederholen sollte.

Briefmarke 5. Friedensfahrt 1952

Im Jahr 1971 erhielt er auch noch den Fair-Play-Preis der UNESCO für eine nicht alltägliche Geste. Bei den polnischen Meisterschaften 1970 überließ Szurkowski sein Rad Zygmunt Hanusik, dessen Pläne durch einen Defekt der eigenen Rennmaschine vereitelt worden wären, und so gewann Hanusik den Meistertitel. Szurkowski schätzte diese UNESCO-Auszeichnung ebenso sehr wie seine Siege, von denen es unzählige gab.

Ryszard Szurkowski, Weltmeister im Einzelrennen. Barcelona 1973

Ganz oben auf der Liste stand der am 1. September 1973 in Barcelona gewonnene Weltmeistertitel im Einzelrennen. Danach gab es zwei Weltmeistertitel im Teamrennen (1973 und 1975) sowie zwei olympische Silbermedaillen in derselben Disziplin (in München 1972 und 1976 in Montreal). Bei der Wahl zum besten Athleten in den (damals) bisherigen 30 Jahren des Bestehens der Volksrepublik Polen belegte Szurkowski 1974, hinter der Sprinterin Irena Szewińska, den zweiten Platz.

Szurkowski war zudem fünffacher polnischer Meister im Straßenrennen (1969, 1974/1975, 1978/1979) und polnischer Meister im Querfeldeinrennen 1968. Damit zählt er zu den größten Sportlern Polens im 20. Jahrhundert.

An den Rollstuhl gefesselt

Der Unfall in Köln hat all das überschattet. Szurkowski erinnerte sich später: „Computertomografie. Ich spürte, wie sie mein Hemd und meine Shorts zerschnitten. Danach schoben sie mich in den OP. Zuerst kam die Operation an der Wirbelsäule. Am nächsten Tag die zweite, wegen der Schädelverletzung. Nach einer Woche die Gesichtsrekonstruktion. Der Kiefer war an mehreren Stellen gebrochen, die Nase deformiert und die Lippe gequetscht. Die Operation hat über sieben Stunden gedauert. Die Chirurgin scherzte, dass sie ein neues Gesicht für mich machen müsse. Heute kann ich sagen, dass sie meine ursprüngliche Physiognomie mit Bravour wiederhergestellt hat“.

Briefmarken 6. Friedensfahrt 1953

Iwona Szurkowska, seit 2012 die dritte Ehefrau von Ryszard, hat ihre eigenen Erinnerungen an den Unfall. „In Köln wurde die Diagnose gestellt: Geschädigtes Rückenmark, Querschnittslähmung und nach der Gesichtsoperation war ich nicht sicher, ob mein Mann überhaupt überleben würde. Nach drei Wochen wurde er in die Rehaklinik in Herdecke verlegt. Zwei Monate später haben wir beschlossen nach Polen zurückzukehren.“

Ryszard Szurkowski. Mit 72 Jahren an den Rollstuhl gefesselt

Ein Sanitätsflugzeug brachte Szurkowski nach Warschau und von dort kam er in Polens beste Rehaklinik in dem nahegelegenen Konstancin. Drei Monate später folgte die Verlegung in eine auf seine Defizite noch besser spezialisierte Einrichtung in Kamień Pomorski/Cammin in Pommern unweit von Szczecin/Stettin.

Szurkowskis eiserner Wille sich bei den Rehaübungen ins Zeug zu legen brachte seine Trainer oft an die Grenzen der Belastbarkeit. Doch die Fortschritte blieben mäßig. Die Querschnittslähmung fesselte den einstigen Rad-Champion mit 72 Jahren dauerhaft an den Rollstuhl.

Schneller Fahrer, stiller Mitläufer

Szurkowski wurde 1946 im Dorf Świebodów/Frankenburg, Kreis Milicz/Militsch in Niederschlesien geboren. Hier lernte er als Teenager Fahrradfahren. Hier erfuhr er aus dem Polnischen Rundfunk zum ersten Mal von den Erfolgen Stanisław Królaks (1931-2009).

Stanisław Królak bei der Friedensfahrt 1958

Der Radrennfahrer aus Warschau gewann 1956 die Friedensfahrt, ein internationales Großereignis auf der Strecke zwischen Warschau, Prag und Ostberlin, das immer im Mai stattfand und bis in die späten Achtzigerjahre wahrscheinlich die größte Tour für Amateure in der Welt war. Es war, wenn man so will, das osteuropäische Pendant zur Tour de France, organisiert von den drei kommunistischen Parteizeitungen: „Trybuna Ludu“, „Rudé Právo“ und „Neues Deutschland“. Millionen Menschen im ganzen Ostblock fieberten an Rundfunkgeräten, später vor den Fernsehern und auch entlang der Renntrassen den Etappen- und Gesamtsiegen ihrer Nationalmannschaften entgegen.

Briefmarken 7. Friedensfahrt 1954

Królaks überbordende Popularität war nur mit der von Täve Schur in der DDR vergleichbar. Schur gewann die Friedensfahrt 1955 und 1959. Als Stanislaw Królak in dem für Polen denkwürdigen Jahr 1956 triumphierte (der Arbeiteraufstand in Poznań/Posen im Juni, der politische Durchbruch, weg vom Stalinismus, im Oktober und die Machtübernahme durch Wladyslaw Gomułka), wollten Hunderttausende polnische Jungs Radrennfahrer werden.

Briefmarken 8. Friedensfahrt 1955

Królak, der Warschauer Junge aus der Unterschicht, pfiffig und clever, ein geborener Überlebenskünstler und Schlingel, der im Krieg auf dem Schwarzen Markt bestens zurecht kam und etlichen deutschen Polizeirazzien im besetzten Warschau zu entkommen wusste, blieb auch als Rennrad-Idol ein auf sich bezogener Querkopf, der vor allem Geld machen wollte. Die kommunistische Staatsmacht hatte mit ihm deswegen so manches Hühnchen zu rupfen, gönnte ihm aber am Ende ein in einem Land der staatlichen Planwirtschaft seltenes Privileg, nämlich in Warschau ein eigenes, privates Fahrradgeschäft zu betreiben.

Täve Schur (im Vordergrund) bei einer DDR-Volkskammersitzung 1988

Schur und Szurkowski verbindet, dass sie sich vom kommunistischen System haben politisch vereinnahmen lassen. Schur war 32 Jahre lang FDJ- und SED-Abgeordneter im DDR-Scheinparlament, der Volkskammer, und vertrat vier Jahre lang die PDS im Bundestag. So manche Verherrlichung der DDR brachte ihm den öffentlichen Vorwurf der DDR-Dopingopfer ein, er sei eine „zentrale Propagandafigur des kriminellen DDR-Sports gewesen“, ein „notorischer Geschichtsleugner, der das missbräuchliche Tun im DDR-Sport banalisiert und die Opfer kalt diskreditiert habe.“

Ryszard Szurkowski am Hof der Macht. Der kommunistische Ministerpräsident Piotr Jaroszewicz empfängt den Sieger der Friedensfahrt 1975

Szurkowski ging nie so weit. Vor der Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei konnte er sich immerhin erfolgreich drücken, ließ sich aber vom Jaruzelski-Regime, für eine Legislaturperiode (1985-1989), im damaligen polnischen Pseudoparlament, dem Sejm, als „parteiloser Abgeordneter“ installieren und hob bei allen Abstimmungen „für die Sache des Sozialismus“ brav die Hand. Im Jahr 2005 stellten ihn die Postkommunisten als Kandidaten bei den Sejm-Wahlen auf, aber er fiel durch. Zehn Jahre später ließ sich der stille Mitläufer überreden und wurde Mitglied im Unterstützungskomitee des für eine zweite Amtsperiode kandidierenden postkommunistenfreundlichen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski. Es half nichts, Komorowski verlor die Wahl.

Briefmarke 9. Friedensfahrt 1956

Szurkowski hat sich seine Zeit nicht ausgesucht, aber er hatte auch keinen Grund den Kommunismus zu hassen. Sein Talent wurde entdeckt, gefördert und gefeiert. Er meinte, sich dafür mit der einen oder anderen politischen Gefälligkeit bedanken zu müssen.

Doch der für seine tollkühne und äußerst offensive Fahrweise bekannte Radrennfahrer gab sich bei offiziellen Anlässen auffallend schüchtern, passiv, zurückgezogen, überfordert. Ein Statist, der die Politik über sich ergehen ließ und zusah, wie er schnellstmöglich wieder auf die Piste kam. Anders als der kommunistische Polit-Aktivist Täve Schur, war der gradlinige, politisch unerfahrene Szurkowski weder willens noch fähig für den Kommunismus öffentlichkeitswirksam eine Lanze zu brechen.

Briefmarken 10. Friedensfahrt 1957

Dafür hat er es in seiner aktiven Zeit geschafft, die Akademie für Leibeserziehung in Wrocław zu absolvieren. Sein Diplom wies ihn als Sportlehrer und Radsporttrainer aus.

Couch statt Preisgeld

„Ich wollte wie Królak sein: ein Fahrrad haben, Rennen gewinnen“, erinnerte sich Jahrzehnte später Szurkowski. Hartnäckig, wie er war, sparte der kleine Ryszard eisern, bis er sich mit 15 Jahren endlich das tschechische „Favorit“-Rennrad, den Traum aller jungen Królak-Nachahmer, leisten konnte.

Radrennen in der Provinz, in der er lebte, wurden damals von den Dorfsportclubs (poln. Abkürzung: LZS) aus Anlass des 1. Mai, des kommunistischen Nationalfeiertages am 22. Juli oder zum Erntedankfest im Frühherbst veranstaltet. Die Teilnehmer mussten sich selbst um alles kümmern: Fahrräder, Schläuche, Ersatzteile, Verpflegung. Szurkowskis erste Siegesprämie war eine 1,5 Kilogramm schwere Schinkenkonserve.

Diesmal hatte Ryszard Szurkowski (r. i. B.) kein Schwein. Es ging an einen DDR-Kollegen

Meistens waren es volkseigene Betriebe aus der Umgebung, die Preise für Etappensiege bei Radrennen beisteuerten. Das konnte ein Zelt, ein Feldbett, ein Bügeleisen, ein Stoffballen, ein Rundfunkgerät, eine Uhr sein. Manchmal waren es ein Paddelboot, eine Couch, ein Schrank oder sogar ein Ferkel, die der Sieger, notgedrungen, auf die Schnelle und meistens für billiges Geld veräußern musste, bevor er am nächsten Tag wieder aufs Rad stieg.

Briefmarken 15. Friedensfahrt 1962

Große Preise winkten nur bei den ganz großen Veranstaltungen, wie der Friedensfahrt. Ihr vierfacher Sieger Szurkowski erstrampelte sich jedes Mal einen Pkw: Einen Polski Fiat oder einen Skoda.

Ein Rohdiamant wird geschliffen

Der junge, gesunde, kräftige Szurkowski war ein geborenes Radrenntalent. Mit zwei Kumpels aus dem Dorf, die er überredet hatte diesen Sport zu betreiben, radelten sie endlos durch die Umgebung und träumten von den ganz großen Rennen. Wie ein Rohdiamant, dessen Qualität und Reinheit erst nach dem Schleifen und Polieren erkennbar wird, harrte Szurkowski am Anfang seiner Karriere eines Trainers, der seine Stärken fachmännisch fördert und formt, seine Schwächen ausbügelt.

Diese Zeit kam erst, als er zur Armee eingezogen wurde. Seine Einheit hatte man im Sommer 1966 auf einen Truppenübungsplatz in der Nähe von Radom verlegt. Der Kompanieführer erlaubte dem radbegeisterten Quälgeist Szurkowski aus einem Kurzurlaub sein Rennrad in die Einheit mitzubringen, erlaubte ihm auch, nach dem Dienst in der Umgebung zu fahren.

Ryszard Szurkowski (l. i. B) beim Wehrdienst 1965

So traf der einsame Radler eines Tages auf eine Gruppe trainierender Rennfahrer. Man kam ins Gespräch. Es waren Athleten des Sportklubs Radomiak aus der unweit gelegenen Stadt Radom mit ihrem Trainer Ryszard Swat. Szurkowski schloss sich dem Tross an. Eine Stunde später wusste Swat bereits, dass ihm das Schicksal ein ausgesuchtes Rennfahrertalent zugespielt hatte.

Jetzt galt es nur noch, sich mit dem Vorgesetzten des Kompanieführers, wie man in Polen sagt, „diesbezüglich an die Schanktheke zu lehnen“. Kurz darauf durfte Szurkowski nicht nur trainieren, sondern auch an Wochenenden Rennen fahren.

Briefmarke 20. Friedensfahrt 1967

Seine Motivation, seine Entschlossenheit, Sturheit und Hartnäckigkeit waren enorm. Als er die Armee nach dem zweijährigen Pflichtwehrdienst verließ, hatte er bereits einige wichtige sportliche Erfolge vorzuweisen. Von Radomiak wechselte er nun zum Sportverein Dolmel in Wrocław/Breslau.

Dolmel war die Abkürzung für Dolnośląskie Zakłady Wytwórcze Maszyn Elektrycznych – Niederschlesische Elektromaschinen-Produktionswerke. Der Großbetrieb entstand auf den Ruinen der während der erbitterten Kämpfe um die Festung Breslau zwischen Januar und Mai 1945 zerstörten deutschen Linke-Hofmann-Werke. Wie fast alle staatlichen Großfirmen im kommunistischen Polen hatte auch Dolmel einen Sportverein, und in diesem war besonders der Radsport sehr gut aufgestellt.

Ryszard Szurkowski zu Besuch zu Hause in seiner Dolmel-Zeit

Szurkowski, der nicht die leiseste Ahnung von Elektromaschinen hatte, bekam einen gutdotierten Arbeitsvertrag als Ingenieur und eine Wohnung zugeteilt, ein Gut, auf das der Normalbürger bis zu einem Vierteljahrhundert warten musste. Das war die Grundversorgung. Die Extras musste Szurkowski sich erstrampeln. Den Betrieb hat er von innen nie gesehen. So funktionierte das Prinzip Leistungssport im Kommunismus.

Der beste polnische Radrennfahrer aller Zeiten…

Seine Turbinenbau-Brotherren hat Szurkowski jedoch nie blamiert. Schon zwei Monate nach der Arbeitsaufnahme gewann der 22-jährige „Ingenieur“ im März 1968 die polnische Meisterschaft im Querfeldein-Radfahren. Das wiederum erregte die Aufmerksamkeit Henryk Łasaks (1932-1973), des Nationaltrainers und Begründers der größten Erfolge des polnischen Radsports, der Szurkowski von da an unter seine Fittiche nahm.

Briefmarke 25. Friedensfahrt 1972

Seitdem hagelte es Medaillen und Rekorde, von denen eingangs schon die Rede war. Szurkowski galt als der polnische Eddy Merckx. Er konnte sich allerdings nur einmal, 1974 beim Rennen Paris-Nizza, bei dem eine polnische Mannschaft mit einer Ausnahmegenehmigung zugelassen worden war, unmittelbar mit ihm messen. Normalerweise durften die „Berufsamateure“ aus dem Ostblock bei Profirennen im Westen nicht antreten. Im Warschauer Stadtteil Wola, in der Ciołka-Straße 35, wo der Weltmeister aus Barcelona seinen Fahrradladen hatte, nahm das Foto, auf dem Szurkowski gemeinsam mit Merckx zu sehen ist den Ehrenplatz ein.

Sein Umzug von Wrocław nach Warschau, wo er beim Sportverein KS Polonia angeheuert hatte, fand bereits Mitte der Siebzigerjahre statt.

Der beste polnische Radrennfahrer aller Zeiten widmete zwanzig Jahre seines Lebens, von 1964 bis 1984, dem Radsport. Zusammengezählt fuhr er zwei Jahre lang ununterbrochen Rennen. In dieser Zeit hat er etwa eine halbe Million Kilometer auf dem Fahrrad zurückgelegt. Er stand siebenhundert Mal auf dem Podest, davon 350 Mal als Sieger.

Briefmarke 30. Friedensfahrt 1977

Szurkowski war 38 Jahre alt, als er seine professionelle Karriere endgültig an den Nagel hängte. Vier Jahre lang trainierte er die polnische Rennrad-Nationalmannschaft. Er legte sein Amt nieder, als ihm das ständige Kämpfen um bessere Ausrüstung, um Trainingsmöglichkeiten in warmen Ländern, während Polen in nasskalten Wintern versank, zu viel wurde. Das wirtschaftlich schwer angeschlagene kommunistische Land hatte keine harten Devisen dafür.

Ryszard Szurkowskis Warschauer Radsportgeschäft

2010 nahm er noch für ein Jahr das Präsidentenamt im Polnischen Radsportverband an. Er war fit, fuhr aus Spaß an der Freude bei verschiedenen Amateurrennen mit, das Radsportgeschäft lief gut, ab und zu flatterte ein gut bezahlter Werbeauftrag ins Haus.

Ryszard Szurkowskis Sohn Norbert kam mit 31 Jahren beim Anschlag  auf das World Trade Center am 11.09.2001 ums Leben

In all dem ging fast völlig unter, dass ihn, bevor er Mitte 2018 an den Rollstuhl gefesselt wurde, ein anderer persönlicher Schicksalsschlag ereilt hatte.

Norbert Szurkowskis Name auf der Gedenktafel für die Opfer des Terroranschlags auf die WTC-Türme am 11.09.2001

Am 11. September 2001 kam sein Sohn aus zweiter Ehe, der 31-jährige Norbert Szurkowski, im 104. Stock eines der Türme des New Yorker World Trade Center, infolge des Terror-Anschlags ums Leben. Norberts Leiche wurde nie gefunden. Es gab keine Beerdigung, er hat kein Grab. Zäh wie er war, ließ sich der große Radrennfahrer nichts anmerken, er behielt diese Tragödie für sich.

… und die größte Persönlichkeit des polnischen Radsports

Szurkowski blieb bis zuletzt die größte Persönlichkeit des polnischen Radsports. Jedes Gespräch mit ihm war interessant, brachte neue Einsichten zutage im Hinblick auf den Sport als solchen und den Radsport im Besonderen. Er mochte Journalisten und sie respektieren ihn. Sein Wissen um die Probleme des Radsports, über die Trainingsmethoden, Ernährungsregeln, die  Dopingbekämpfung war bewundernswert.

Mit dem westlichen Profi-Radrennsport kam er während seiner „Berufsamateur“-Zeit in Polen nur einmal in Berührung. 1974 wollten sich die westeuropäischen Profis unbedingt mit dem polnischen „Wunderteam“ messen. Ryszard Szurkowski, der  damals  amtierende Weltmeister im Einzelrennen, und seine Kollegen bekamen ausnahmsweise die Erlaubnis, an dem Straßenradrennen Paris-Nizza teilzunehmen.

Am Ziel der ersten Etappe in Paris am 10. März 1974 war Szurkowski Zweiter hinter Eddy Merckx. Danach stand er noch zweimal auf dem Podium der Etappensieger und belegte am Ende den 28. Platz. Merckx wurde Dritter.  Auf Anhieb unter den weltbesten dreißig des Profi-Radrennsports zu landen, war für einen in diesem sehr spezifischen Metier unerfahrenen Ostblock-Berufsamateur ein Erfolg der sich sehen ließ.

10. März 1974. Eddy Merckx gewinnt knapp vor Ryszard Szurkowski (2 v. l. i. B.) die erste Etappe des Straßenradrennens Paris-Nizza

Die großen Rennen der Welt: Tour de France, Giro d’Italia, Vuelta a Espana verfolgte Szurkowski auf seine alten Tage aufmerksam, aber ohne Freude. Zu wenig Radsportfantasie, Spontaneität, Bravour zeichnete sie nach seinem Geschmack aus, dafür viel Langeweile. Heute, sagte er oft, entscheidet im Rennsport nur das Geld. Es gibt spektakuläre Siege, bei denen manche Straßenmeister zum Doping greifen.

Den heutigen Profi-Radsport beobachtete er sehr kritisch. Wenn ein Sponsor dutzendweise die besten Fahrer kauft, pflegte Szurkowski auf seine alten Tage zu sagen, hat er nichts zu verlieren. Die einen kauft er, damit sie auf der Zielgeraden gewinnen. Andere heuert er an, um in den Bergen zu triumphieren. Der Rest ist dazu da, um zu helfen. Alles ist arrangiert, geplant, nicht so wie zu seiner Zeit, als Kühnheit, Freude am Fahren, Mut und Unberechenbarkeit der Radfahrer auf der Strecke und im Ziel Millionen von Fans begeisterten.

Ryszrad Szurkowski, ein zäher, fast könnte man glauben, ein unverwüstlicher Kämpfer auf den Rennstrecken Europas und Meister der Sprintankunft, der die schönste Epoche in der Geschichte des Radsports entscheidend mitgeprägt hat, ist mit 75 Jahren seinem Krebsleiden erlegen.

Staaspräsident Andrzej Duda zeichnete ihn postum mit dem Großkreuz des Ordens Polonia Restituta (Orden der Wiedergeburt Polens) aus. Es ist, nach dem Orden des Weißen Adlers, die zweithöchste zivile Auszeichnung der Republik Polen.

Ryszard Szurkowski fand seine letzte Ruhestätte im Familiengrab auf dem Friedhof von Wierzchowice/Wirschkowitz in Niederschlesien, drei Kilometer entfernt von seinem Geburtsort Świebodów.

© RdP




Ein Pole auf Dopingjagd

Witold Bańka ist der neue Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur. Ein Gespräch.

Die Themen: Dopingsanktionen gegen Russland. Nicht nur ein positives Testergebnis. Neue Methoden der Dopingüberführung. Woran mangelt es der WADA? Neue Herausforderungen im Olympiajahr.

Witold Bańka (Jahrgang 1984) war zwischen 2015 und 2019 polnischer Sportminister. Als Sprinter hatte er sich auf den 400-Meter-Lauf spezialisiert. Bei den Junioren-Leichtathletikmeisterschaften 2005 in Erfurt und bei der Universiade 2007 in Bangkok gewann er mit dem polnischen Team in der 4-mal-400-Meter-Staffel Gold, bei der Universiade 2009 in Belgrad Silber.

Witold Bańka.

Seine persönliche Bestzeit von 46,11 Sekunden stellte er 2007 in Osaka auf.

Im Jahr 2012 beendete er seine Laufbahn als Leistungssportler. Anschließend arbeitete Bańka als Unternehmensberater. Im November 2015 berief ihn Frau Beata Szydło in ihr Kabinett als Minister für Sport und Tourismus. Seit April 2016 ist Bańka Mitglied der Partei Recht und Gerechtigkeit. Im November 2019 wurde er bei der WADA-Konferenz in Katowice zum Präsidenten gewählt.

Das Interview erschien in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ („Republik“) vom 23. Dezember 2019.

Am 1. Januar 2020 übernehmen Sie den Vorsitz einer Organisation, auf die sich im Olympiajahr nicht nur das Augenmerk der weltweiten Sportgemeinde richten wird. Wie ist Ihnen zumute?

Es ist eine große Herausforderung, aber auch eine große Ehre. Als meine Wahl bekanntgegeben wurde empfand ich Stolz und zugleich Dankbarkeit für das Team, das darauf hin gearbeitet hat. Ich bin mir darüber im Klaren, dass die WADA nicht nur innerhalb des Sports, sondern auch in der internationalen Politik eine bedeutende Organisation ist. Sie hat Möglichkeiten sowohl auf den Sport, als auch auf die Weltpolitik einzuwirken. Deswegen empfinde ich Demut in Anbetracht der Herausforderungen, die mich erwarten.

Es mehren sich Stimmen, dass der Kampf gegen das Doping nicht zu gewinnen sei. Unter Anwendung juristischer Tricks wurde ein Betrüger (der US-Läufer Christian Coleman – Anm. RdP) Weltmeister im 100-Meter-Lauf. Um sich gegen die Doping-Vorwürfe zu wehren heuerten die Russen eine Gruppe von Hackern an, die den westlichen Sport entblößten. Es stellte sich heraus, dass es auch dort schwere Vergehen gab.

Es liegt auf der Hand, dass wir im Antidopingkampf keinen endgültigen Sieg davontragen werden. Genauso wie wir nicht in der Lage sind die Kriminalität ganz und gar auszumerzen. Es wird immer Leute geben, die betrügen wollen. Wir können jedoch die Kontrollen wirksamer gestalten und auf diese Weise dazu beitragen, dass es, paradoxerweise, mehr Dopingskandale gibt.

Es ist sehr traurig, wenn wir einen Betrüger stellen, besonders wenn es sich um einen berühmten Sportler handelt. Es ist jedoch zugleich der Beweis dafür, dass das System wirksam ist. Der Schwindler wurde gestellt, seine Schuld wurde bewiesen, und sei es auch nach Jahren.

Wie werden die Russen auf den Ausschluss ihrer Nationalmannschaften von den Olympischen Spielen und der Fußball-WM reagieren?

Der Vorstand (Executive Board – Anm. RdP) des Internationalen Olympischen Komitees hat in Lausanne die schärfsten Sanktionen in der Geschichte des Sports weltweit verhängt.

Aber es mehren sich Stimmen, dass das nicht ausreicht. Sie vernehmen diese Stimmen bestimmt auch.

Ja, aber wir alle kennen die Spielregeln. Im September 2018 wurde die seit November 2015 geltende Suspendierung der russischen Antidopingagentur RUSADA aufgehoben und sie wurde wieder in die Welt-Anti-Doping-Agentur aufgenommen.

Diese höchst umstrittene Entscheidung wurde weltweit kritisiert. Es hieß, Russland würde damit auf eine höchst fragwürdige Weise rehabilitiert.

Die Entscheidung war verbunden mit einem klaren Zeitplan, nach dem der WADA Zugang zum Moskauer Anti-Doping-Labor und den darin vorhandenen Proben gewährt werden sollte. Die Russen wussten was passiert, wenn sie unkorrekte Angaben machen. Sie haben es dennoch getan, also wurden vom Internationalen Olympischen Komitee, einvernehmlich, was ich unterstreichen möchte, die Konsequenzen gezogen. Zudem wurde die RUSADA erneut aus der WADA ausgeschlossen.

Es geht um manipulierte Daten aus dem Moskauer Kontrolllabor. Forensische Untersuchungen durch WADA-Experten hatten ergeben, dass die Dopingdaten von 2012 bis 2015 weder vollständig noch restlos authentisch sind.

Das konnte im Vergleich mit einer der WADA 2017 von einem Whistleblower zugespielten Datenkopie nachgewiesen werden. Dabei hat Russland, nach WADA-Angaben, Hunderte von mutmaßlichen nachteiligen Analyseergebnissen gelöscht oder geändert. Es sollen 145 mutmaßliche Doping-Fälle vertuscht oder verfälscht worden sein.

Ich verstehe diejenigen, die sagen, die Strafe sollte noch härter ausfallen, aber kollektive Verantwortung ist aus der Sicht der allgemein geltenden Rechtsnormen nicht durchzusetzen.

Zum Beispiel vor dem Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne?

Ja, ein völliger Ausschluss Russlands wäre dort nicht von Bestand. Er könnte für das Gericht Ausgangspunkt dafür sein, die Sanktionen abzumildern oder gar aufzuheben. Vergessen wir nicht, dass die WADA, außer dass sie Dopingsünder verfolgt, auch die Aufgabe hat ehrliche Sportler zu schützen. Wie soll man einer fünfzehnjährigen Turnerin beibringen, dass sie sich ihren Traum nicht erfüllen darf Olympiateilnehmerin zu sein, nur weil sie in Russland auf die Welt kam und ihre älteren Kollegen gedopt haben.

Befürchten Sie nicht, dass Präsident Putin beim IOC-Präsidenten Thomas Bach anruft und sagt: „Hör zu, lass uns darüber reden, wie wir Russland trockenen Fußes durch diesen Sumpf bringen können“.

Die WADA ist nicht die letzte Instanz. Erst gegen die Urteile des Internationalen Sportgerichtshofes gibt es keine Berufung. Er kann die Sanktionen verschärfen, beibehalten oder abmildern. Doch die Beweise sind so erdrückend, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass das Gericht ein Urteil fällt, das die ganze Sache verwässert. Das wäre das Ende des internationalen Sports auf höchster Ebene und des gegenseitigen Vertrauens im Sport überhaupt.

Die Russen geben ja zu, dass sie gesündigt haben. Daran gibt es keine Zweifel. Doch dann beginnt sofort die Politik.

Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass die schon beschlossenen Sanktionen unbedingt umgesetzt werden. Deren Ausmaß ist gigantisch.

Russland darf, wie schon gesagt, keine sportlichen Großereignisse wie Olympische und Paralympische Spiele ausrichten oder sich um sie bewerben. Bereits an das Land vergebene Welttitelkämpfe sollen ihm entzogen werden. Betroffen davon sind unter anderem die Rodel-WM im Februar 2020 in Sotschi, die für 2022 nach Russland vergebene Volleyball-WM, die Kurzbahn-WM der Schwimmer in Kazan sowie die Eishockey-WM 2023 in St. Petersburg.

Insgesamt werden russische Sportler an Wettkämpfen unter eigener Flagge in etwa einhundert Sportarten nicht teilnehmen dürfen. Man muss dafür sorgen, dass diese Verbote nicht umgangen werden. Die WADA empfiehlt, dass es künftig keine „neutralen Athleten aus Russland“ („neutral athletes from Russia“) geben soll, sondern nur „neutrale Athleten“.

Bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang 2018 trat die russische Eishockeymannschaft ohne eigene Flagge und Hymne auf. Dennoch kam es bei ihren Spielen zu weit größeren Bekundungen des russischen Patriotismus als früher, als sie die Aufschrift „Russia“ auf ihren Trikots trug.

Ein Verbot, irgendwelche Fahnen auf die Zuschauerränge mitzubringen, kann ich mir nicht vorstellen. Das könnte man ohne ein Vielfaches an Kontrollen und womöglich sogar Polizeigewalt nicht durchsetzen.

Wie funktioniert die Organisation, die Sie leiten sollen. Wer finanziert sie?

Die Welt-Anti-Doping-Agentur ist ein einzigartiges Konstrukt, das 1999 errichtet wurde, weil es bis dahin keine weltweite Anti-Doping-Behörde gab. Sie wird jeweils zur Hälfte vom Internationalen Olympischen Komitee (IOK) und den Regierungen der 188 Mitgliedsstaaten finanziert, die entsprechende Beiträge zahlen.

Mehr als sechshundert Regierungen und internationale Sportverbände haben den Anti-Doping Code unterzeichnet. Die WADA ist der Regulierer. Sie führt die Liste der verbotenen Substanzen, führt Untersuchungen durch, beaufsichtigt weltweit das Anti-Doping-Wesen. Die WADA-Mitarbeiter sind jedoch keine Kontrolleure, die durch die Welt fahren und Dopingproben nehmen. Das machen die nationalen Anti-Doping-Agenturen und die Sportverbände.

Nicht in jedem Land gibt es eine solche Agentur.

Das ist ein wesentliches Problem. In manchen Gegenden der Welt existieren regionale Anti-Doping-Agenturen, zuständig für einige, manchmal auch mehr als ein Dutzend Länder. Die WADA finanziert sie. So verhält es sich zum Beispiel in der Karibik. Unsere Aufgabe ist es für die Entstehung von möglichst vielen nationalen Anti-Doping-Agenturen, die von den Nationalstaaten bezahlt werden, zu sorgen.

Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro stammten etwa zehn Prozent der Medaillengewinner aus Ländern ohne eine staatliche Anti-Doping-Agentur oder Ländern mit einem sehr schwachen Anti-Doping-System. In ganz Afrika gibt es nur ein Anti-Doping-Labor, in Südafrika. In solchen afrikanischen Sportgroßmächten wie Kenia oder Ägypten kann man lediglich Blutproben nehmen, sie aber nicht auf Doping untersuchen.

Der WADA-Haushalt beträgt um die 40 Millionen Dollar?

Zwischen 36 und 40 Millionen Dollar, und er wächst ständig.

Sie haben in der Ansprache nach Ihrer Wahl gesagt, das sei viel zu wenig.

Das ist lächerlich wenig, wenn man bedenkt, welche Handlungsmöglichkeiten die WADA hat und welche Erwartungen in sie gesetzt werden. Allein die Russland-Untersuchung kostete im Jahr 2019 eine Million Dollar.

Aber die Russen sollen ja dafür zahlen.

Das ist eine der Sanktionen und eine der Bedingungen, die an ihre Rückkehr in die WADA geknüpft sind. Zunächst muss jedoch die WADA das Geld vorstrecken. Und wie viele solche kostspieligen Untersuchungen stehen uns noch bevor?

Außerdem wehren sich auch die einzelnen überführten Sportler gegen die Sperrungen. Das sind oft lange, kostspielige Gerichtsduelle mit Staranwälten als Verteidigern. Wir benötigen ein dickes Geldpolster, um zu bestehen.

Früher hat das IOK Staaten von den Olympischen Spielen ausgeschlossen. Jetzt macht es die WADA. Jeder, der den Anti-Doping Code unterzeichnet hat unterstellt sich eurer Entscheidungsgewalt. Die Macht der WADA ist sehr gewachsen.

Alle Unterzeichner müssen das zur Kenntnis nehmen. Wenn jemand gegen die Anti-Doping-Regeln verstößt, kann das den Ausschluss eines nationalen olympischen Komitees, oder einer ganzen Sportart nach sich ziehen. Kein Sportfunktionär mit klarem Verstand wird ein solches Risiko auf sich nehmen wollen, weil das eine riesige Blamage wäre, von anderen schwerwiegenden Folgen ganz zu schweigen.

Jahrelang war ein positives Anti-Doping-Testergebnis der wichtigste Beweis für die Schuld eines Sportlers. Heute kann man ihn auch ohne diesen Nachweis disqualifizieren. Es gibt Verhöre und eine regelrechte Untersuchung, wie bei anderen Verbrechen.

So sieht die Zukunft des Anti-Doping-Kampfes aus. Aufgrund von Indizien, Zeugenaussagen kann ein Sportler oder derjenige, der ihm Dopingmittel verabreicht hat, zur Verantwortung gezogen werden.
In Polen drohen inzwischen für das Verabreichen von Dopingmitteln an Sportler ohne deren Wissen und den Handel mit illegalen Substanzen Geldstrafen oder Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren. Ein Trainer oder Arzt, der so etwas macht kann im Gefängnis landen. Solche Verfahren laufen bereits.

Es war hier die Rede von Russland, vom Doping im Weltmaßstab, aber auch wir in Polen hatten Grund uns zu schämen, zum Beispiel für die Brüder Zieliński 2016 in Rio de Janeiro.

(Die Gewichtheber Adrian und Tomasz Zieliński hat man bei den olympischen Spielen des Dopings überführt und disqualifiziert. Sie wurden auch aus der polnischen Armee, in der sie dienten, unehrenhaft entlassen – Anm. RdP)

Die polnische Anti-Doping-Agentur hatte sie für vier Jahre disqualifiziert. Adrian Zielinski hat beim Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne Einspruch eingelegt. Das Gericht hat die Strafe aufrechterhalten. Faktisch kam das in seinem Alter einer lebenslangen Sperrung gleich.

Die Goldmedaille Adrian Zielińskis in London (bei den Olympischen Spielen 2012 – Anm. RdP) hat für Sie seitdem nicht an Glanz verloren? Sind Sie weiterhin stolz auf diese Medaille?

Der Stolz ist vergangen, weil die Karriere dieses begabten Sportlers so endete wie sie endete. Auf Olympia-Medaillengewinner, die am Ende beim Doping erwischt wurden kann man nicht stolz sein.

Auf unsere Initiative hin wurden die Modalitäten der Zuerkennung der Rentenzulage für Olympia- und Weltmeisterschafts-Medaillengewinner geändert. Bei Sperrungen von mehr als zwei Jahren und für Wiederholungstäter wird sie gestrichen.

In einigen Monaten beginnen die Olympischen Spiele in Tokio. Wollen wir hoffen, dass die polnische Anti-Doping-Agentur POLADA in diesem Zusammenhang nicht allzu viel zu tun haben wird.

Sie wird viel zu tun haben, weil wir ihr Betätigungsfeld erweitert haben. Als ich (im November 2015 – Anm. RdP) das Amt des Sportministers übernommen habe, hinkten unsere Anti-Doping-Vorschriften ziemlich weit hinter den internationalen Regelungen her. Der Brief von der WADA, den ich gleich am Anfang meiner Amtszeit erhielt, war eine unangenehme Überraschung. Darin stand in etwa: „Ihr habt bis August 2016 Zeit, um die Gesetzgebung zu ändern oder eurem Labor wird die Lizenz entzogen.“ Es gelang die Änderungen rechtzeitig vorzunehmen.

Die Anti-Doping-Kontrolleure werden auch deswegen weiterhin viel zu tun haben, weil unter den Sportlern die Überzeugung vorherrscht, dass, auch wenn ich zu dopen aufhöre, derjenige, der im Startblock neben mir steht, weiterhin dopt. Haben Sie in Ihrer Sportlerlaufbahn nie einen solchen Verdacht gehabt?

Als aktiver Sportler bin ich Doping nie begegnet und habe niemals meine polnischen Kollegen auf der Laufbahn verdächtigt, dass sie so etwas tun. Wir wurden bei internationalen Veranstaltungen und in Trainingslagern oft untersucht.

Ich lebte in der Überzeugung, dass ich nur mit schwerer Arbeit erreichen kann was ich erreichen will. Ich glaube an den sauberen Sport und daran, dass der Sport eine der wenigen noch verbliebenen Ideen ist, dank denen man etwas Schönes und Wertvolles aufbauen kann. Wenn wir davon ausgehen, dass der Sport völlig vergiftet und es aussichtslos ist, um seine Reinheit zu kämpfen, was bleibt uns dann noch übrig? Nichts.

Der Sitz der WADA befindet sich in Montreal. Werden Sie nach Kanada umziehen?

Ich werde nicht ständig dort sein, weil ich faktisch kein WADA-Mitarbeiter, sondern der Vorstandsvorsitzende bin. Die Zentrale befindet sich in Montreal, das Europa-Büro in Lausanne, es gibt auch Kontinental-Büros in Johannesburg, Montevideo und Tokio. Jetzt soll es ein kleines Presidential Office in Warschau geben, wo ich arbeiten werde. Es hebt das Prestige unseres Landes, wenn es in Polen ein WADA-Büro geben wird.

Lesenswert auch: „Woran krankt der polnische Sport“. Ein Gespräch mit Sportminister Witold Bańka.

RdP




Schnell und stetig

Am 29. Juni 2018 starb Irena Szewińska.

Sie brach Weltrekorde, doch ihr Gesicht blieb unverzerrt wenn sie langen Schrittes leicht, einer Gazelle gleich, über der Laufbahn zu schweben schien. Polen verabschiedete Irena Szewińska auf ihrem letzten Lauf , wie es der Königin der polnischen Leichtathletik gebührte.

Staatspräsident Andrzej Duda und Gattin beteten kniend an ihrem Sarg in der Warschauer Feldkathedrale der polnischen Armee. „Ein Jahrhundert nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit verabschieden wir eine Sportlerin des Jahrhunderts“, sagte das Staatsoberhaupt während der Trauermesse in seiner Ansprache.

Staatspräsident Andrzej Duda und Gattin am Sarg Irena Szewińskas in der Warschauer Feldkathedrale der polnischen Armee.

„Sie war uns allen ein Vorbild. Wir sind ihr ewige Dankbarkeit schuldig“, so verabschiedete Ministerpräsident Mateusz Morawiecki Szewińska an ihrem Grab auf dem Warschauer Powązki-Friedhof.  Unter den Trauergästen sah man auch ihre einstige Erzrivalin,  die DDR-Läuferin Marita Koch.

Die gute Pani Irena

Kein Hochmut, keine Allüren. Einst überaus erfolgreich, ist sie bis an ihr Lebensende zurückhaltend und bescheiden geblieben. Sie suchte nicht das Rampenlicht, blieb stets bei ihren Leisten, nahm lautlos ihre Funktionen im Polnischen und im Internationalen Olympischen Komitee wahr, lieβ sich keine Stellungnahmen zur Klimaerwärmung, zum Robbensterben oder gar zur polnischen Innenpolitik entlocken.

Wie einst über der Laufbahn, schwebte sie über den Problemen und Konflikten. Die gute „Pani Irena“, „Frau Irena“. Sie wurde, wie in Polen im alltäglichen Umgang üblich, auch von den hochrangigsten polnischen Politikern mit dem Vornamen angesprochen gesiezt.

Mit Staatspräsident Lech Kaczyński.

Szewińska mied die Politik nicht, lieβ sich aber von ihr nur soweit vereinnahmen, wie es ihrem Renommee der grundanständigen, fairen und erfolgreichen Sportikone nicht abträglich war. Sie trat in den Achtzigerjahren General Jaruzelskis Patriotischer Front der Nationalen Wiedergeburt bei, einem Gebilde, das die Unterstützung der kulturellen, wissenschaftlichen und sportlichen Eliten für das Regime vortäuschen sollte. Sie sagte zu, als Lech Kaczyński sie vor den Präsidentschaftswahlen 2005, die er gewann, einlud in seinem Wahl-Ehrenkomitee Mitglied zu sein.

Doch so liebenswürdig sie auch war, sie verhielt sich wie eine Sphinx. Niemand konnte sagen, wo und wofür sie tatsächlich politisch stand, wenn das überhaupt der Fall war.

Geboren in Leningrad

Irena Szewińska kam 1946 im sowjetischen Leningrad zur Welt, das heute wieder Petersburg heiβt. Damals hieβ sie noch Irena Kirszenstein und war Tochter jüdischer Eltern. Vater Jakub Gustaw Kirszenstein (1922 – 2002) war Akustikingenieur und stammte aus Warschau. Beim Einmarsch der Deutschen in Polen am 1. September 1939 gelangte er in den Osten des Landes, den die Sowjets dann am 17. September 1939 besetzten. Da er sich demonstrativ und anscheinend sehr glaubwürdig zum Kommunismus bekannte, lieβ man ihn am Leningrader Institut für Kinoingenieure studieren.

Mutter Eugenia Rafalska (1922 – 1997) stammte aus Kiew und entkam mit ihrem polnischen Namen, wie durch ein Wunder, Stalins „Polen-Aktion“. Zwischen 1937 und 1938 haben die Sowjets fast alle, insgesamt gut 110.000 in der Sowjetunion lebende Polen umgebracht. Ihnen wurde kollektiv die Teilnahme an sowjetfeindlichen umstürzlerischen Aktivitäten vorgeworfen. Zur Festnahme und Ermordung reichte oft nur ein polnisch klingender Nachname, auch wenn sein Träger manchmal mit Polen nicht das Geringste zu tun hatte.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden im Sommer 1941 das Leningrader Institut von Jakub Kirszenstein und die Kiewer Fabrik von Eugenia Rafalska nach Samarkand in Usbekistan evakuiert. Dort lernten sich die Eltern von Irena Szewińska kennen, heirateten und durften 1945 in ein Leningrader Studentenheim übersiedeln. Die Sowjets lieβen sie 1947 nach Polen ziehen.

Im Jahr 1953 lieβen sich Irenas Eltern scheiden. Der Vater war ein angesehener Fachmann auf dem Gebiet der Akustik, konzipierte und baute in den 60er Jahren u. a. das zu seiner Zeit ultramoderne Tonstudio in den Spielfilmateliers in Łódź. Irena lebte mit der Mutter im Warschauer Stadtzentrum, damals inmitten einer tristen Ruinenlandschaft, die sich nur sehr zögerlich wieder in eine normale Stadt verwandelte.

Backfisch mit Talent

Eigentlich war Literatur damals ihre Leidenschaft. Sie las viel, unternahm ihre ersten Versuche als Laiendarstellerin an einem Kindertheater. Das änderte sich schlagartig im Frühjahr 1961. Ihre Sportlehrerin lieβ die Klasse zum Hundertmeterlauf antreten. Irenas Zeit war so gut, dass sie glaubte ihre Stoppuhr sei defekt. Sie schickte Irena noch einmal los. Die Zeit war noch besser.

Der talentierte Backfisch am Anfang einer großen Karriere.

Die Lehrerin vermittelte Irena an die Leichtathletiksektion des Warschauer Sportklubs Polonia, dem Szewińska bis ans Ende ihrer Sportlerkarriere die Treue hielt. Trainer Jan Kopyto (geb. 1934), der es als Aktiver bei der Olympiade in Melbourne 1956 bis ins Finale des Speerwerfer-Wettbewerbs schaffte, erkannte sofort das phänomenale Talent eines Backfisches, der bisher den Lauf nie trainiert hatte. Ein Jahr später, sie war sechzehn, holte sie sich bei Leichtathletik-Jugendwettkämpfen im tschechischen Hradec Kralove ihre ersten Titel.

Im „Wunderteam“

Es vergingen noch zwei Jahre und am 21. Oktober 1964 stand sie bei den Olympischen Spielen in Tokio auf dem Siegerpodest. Zusammen mit Teresa Ciepły (1937 – 2006), Halina Górecka (geb. 1938) und Ewa Kłobukowska (geb. 1946) gewann sie für Polen die Goldmedaille in der 4×100-m-Staffel der Frauen. „Ich war achtzehn. Das war meine erste und schönste Olympiade“.

Mit der polnischen Frauen-100-m-Staffel auf dem Siegerpodest bei den Olympischen Spielen in Tokio 1964.

Jetzt war sie berühmt, und in der Zeit bis zu den Olympischen Spielen in Mexico 1968 regnete es Erfolge, wie aus einem goldenen Füllhorn. 1965 zwei Weltrekorde: 100-m in 11,2 Sekunden und 200-m in 22,7 Sekunden. 1966: drei Goldmedaillen bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in Budapest (200-m, Weitsprung, 4×100-m) und eine silberne (100-m). 1967: polnischer Landesrekord im Weitsprung 6,67 m.

Medaillen, Rekorde, Titel. Erfolge, wie aus einem goldenen Füllhorn. Irena Szewińska am Beginn ihrer Weltkarriere Ende der 60er Jahre.

Es war die Zeit zwischen 1956 und 1966 als Polen mit seinem „Wunderteam“ zu einer Leichtathletik-Groβmacht aufgestiegen war. Den Begriff prägte die westdeutsche Sportpresse, nachdem das anfänglich kaum ernstgenommene Polen-Team aus dem Ostblock die Bundesrepublik im Neckarstadion 1957 im Leichtathletik-Länderzweikampf bezwang.

Die Trainer- und Sportmanagerlegende Jan Mulak (1914 – 2005) hatte ein fabelhaftes Gespür für Talente. Es hagelte polnische Olympia-Medaillen und Weltrekorde im 3000-m-Hindernislauf (Krzyszkowiak), Diskuswerfen (Piątkowski), Dreisprung (Szmidt), Speer- und Hammerwerfen (Sidło und Rut) und natürlich in der Frauenleichtathletik, mit der jungen Kirszenstein an der Spitze.

Mit dem Begründer des polnischen Leichtathletik-„Wunderteams“ Jan Mulak 2004.

Fleiβ, Ehrgeiz, Zuversicht

In Mexico 1968 hatte das Pech es auf Irena abgesehen. Im Weitsprung schaffte sie es nicht ins Finale. „Ich war nicht mehr dieselbe, unbeschwerte junge Sportlerin wie in Tokio. Ich war reifer, erfahrener, aber auf mir lastete jetzt der Ballast der Verantwortung. Ich war Favoritin, und das ist eine sehr undankbare Rolle“.

Immerhin gewann sie auf 200-m Gold und auf 100-m holte sie Bronze, aber dann kam die Katastrophe. In der 4×100-m-Staffel der Frauen lagen die Polinnen klar vorn, doch beim letzten Wechsel glitt Irena der Stab aus der Hand. Aus der Traum!

Böse Zungen unterstellten sogar, sie hätte es absichtlich getan. Der Groll der drei anderen Mädchen aus der Staffel gegen sie war groβ. Irena hatte ihre Olympia-Medaillen, sie gingen leer aus.

Jung verheiratet. Mit Ehemann Janusz Szewiński.

Es galt das erste Tief in der Karriere zu überwinden. Sie heiratete den 400-m-Läufer und ihren späteren Trainer Janusz Szewiński, der sich auch einen Namen als herausragender Sportfotograf machen sollte. Der erste Sohn, Andrzej kam 1970 auf die Welt. Der zweite, Jarosław sollte 1981 folgen.

Der nicht ganz gelungene Auftritt in Mexico, mit seinem aufgrund der Höhenlage (2000 Meter über dem Meeresspiegel) für viele Sportler nur schwer zu ertragenden Klima, motivierte sie zu noch mehr Arbeit. Sie war jetzt Mutter, Ehefrau, studierte Wirtschaft an der Warschauer Universität und versuchte den Anschluss an die Leichtathletik-Weltspitze nicht zu verlieren.

Mit Sohn Andrzej.

„Es hätte keinen Erfolg gegeben ohne Irenas Fleiβ, ihren unglaublichen Ehrgeiz und eisernen Willen, ihre Zuversicht und ihre Zielstrebigkeit“, so der Leichtathletik-„Wunderteam“-Begründer Jan Mulak.

Training, Training und nochmals Training. Ehemann Janusz gibt die Anweisungen.

„Mein Mann und Trainer witzelt, dass ich mich wie eine übereifrige Schülerin benehme. Egal ob Hitze, Regen oder Schneeverwehungen, ich arbeite immer das geplante Trainingspensum ab. Nur so habe ich eine Chance wieder auf das Siegerpodest zu gelangen“, berichtete Irena Szewińska damals in einem Zeitungsinterview.

Doch die Belastung war enorm, und das Erklimmen der Siegerpodeste gestaltete sich dieses Mal schwierig. Von der Olympiade in München 1972 kam sie „nur“ mit einer Bronzemedaille auf der 200-m-Distanz zurück.

Olympische Spiele in Montreal 1976. Goldmedaille und Weltrekord. Comeback gelungen.

Das Comeback gelang erst bei den Olympischen Spielen in Montreal 1976: Gold auf der 400-m-Strecke und gleichzeitig neuer Weltrekord mit 49,28 Sekunden. Sie war die erste Frau, die diese Distanz in weniger als fünfzig Sekunden bewältigte. Olympiagold und Weltrekord, gröβer kann sich ein Sportler den Erfolg nicht erträumen.

Gedopte Rivalinnen

Ihre gröβte Rivalin war damals die DDR-Läuferin Renate Stecher. Szewińska bezwang sie einige Male, so in Potsdam im Juni 1974, als sie Stechers Weltrekord auf 200-m unterbieten konnte. Wie enorm diese Leistung eigentlich war, konnte man erst nach dem Zusammenbruch der DDR und der Einsicht in diverse geheime Unterlagen einschätzen. Stecher nämlich, so das Ergebnis der Recherchen, blieb „in das staatliche Dopingsystem der DDR eingebunden“. Sie war „Doping-Mitmacherin, zumindest Doping-Mitwisserin.“

Lesenswert dazu: „Stasi-Dokument zu Renate Stecher. Erst Doping-Injektionen erhalten, dann Testosteron-Spritzen abgelehnt”.

Dasselbe gilt in noch höherem Maße für eine weitere Szewińska-Erzrivalin, die DDR-Läuferin Marita Koch. Dass Irena sie 1977 auf der 400-m-Strecke in Düsseldorf beim Leichtathletik-Weltcup besiegen konnte galt schon damals als eine Sensation und ist es, nach dem heutigen Wissensstand, umso mehr.

Nach jahrelanger Suche in polnischen Stasi- und anderen einst nicht zugänglichen Archiven kann man heute eindeutig sagen, dass es im kommunistischen Polen zwar Einzelfälle von Doping, aber kein staatlich verordnetes und betriebenes Dopingsystem wie in der DDR gab. Szewińska ist während und nach ihrer aktiven Zeit niemals unter Dopingverdacht geraten, geschweige denn, des Dopings überführt worden.

Das Leben nach dem Ende

Sie war in Montreal dreiβig Jahre alt und es wäre ein glanzvolles Finale einer grandiosen Sportlerkarriere gewesen. Doch sie wollte es noch ein letztes Mal darauf ankommen lassen. Bei der Olympiade in Moskau 1980 musste sie dann jedoch beim 400-m-Lauf, nach einer Verletzung, hinkend die Laufbahn verlassen.

Bis zum Ende des Kommunismus in Polen 1989 trat sie eher selten in Erscheinung. Sie genoss es jetzt vor allem für die Familie da zu sein, die beiden Söhne groβzuziehen und begnügte sich mit einigermaβen gut dotierten Ehrenämtern in verschiedenen polnischen und internationalen Sportorganisationen.

Ihre Blauäugigkeit wurde ihr einmal, im Jahre 2008, zum Verhängnis. Damals stand Irenas vierjährige Amtszeit als Vorsitzende des Polnischen Leichtathletik-Verbandes (PZLA) kurz vor dem Ende und die Bilanz des Verbandes wies ein Defizit von umgerechnet knapp 220.000 Euro auf.

Szewińska konnte glaubwürdig nachweisen, dass sie ihr, für polnische Verhältnisse, sehr sattes Vorsitzenden-Gehalt von umgerechnet knapp 3.500 Euro bei Amtsantritt in dieser Höhe bereits vorgefunden hatte. Auβerdem hatten sie die Hauptbuchhalterin und die PZLA-Generalsekretärin über den Stand der Finanzen hinters Licht geführt. Durch das Halbieren ihres Gehaltes und weitere Sparmaβnahmen, die sie anordnete, konnte das Defizit am Ende ihrer Amtsperiode 2009 immerhin auf 120.000 Euro gesenkt werden. Dennoch, ein unguter Beigeschmack wirkte eine Zeit lang nach.

Für den polnischen Sport unermüdlich im Einsatz.

Irena Szewińska setzte sich unermüdlich für den polnischen Sport ein, vor allem für den Kinder- und Jugendsport. Mit viel Ausdauer eröffnete sie Wettbewerbe, übereichte Preise, ermunterte und tröstete die jungen Sportler, oft in der tiefsten Provinz. Ihr stets sympathisches, bescheidenes und zugleich würdiges Auftreten dort, genauso wie auf der Weltbühne, macht sie zunehmend zu einer Symbolfigur.

Sie plauderte unbeschwert mit der Queen, mit amerikanischen Präsidenten. Wladimir Putin rühmte sich, dass sie beide Leningrader seien. Der japanische Botschafter verlieh ihr den Orden der Aufgehenden Sonne, Senegals Präsident den Nationalen Löwenorden. Im Jahre 2016 ehrte sie Staatspräsident Andrzej Duda als erste polnische Sportlerin mit der höchsten polnischen Auszeichnung, dem Orden des Weiβen Adlers.

Sie kämpfte seit 2014 gegen den Krebs an. Eine Zeit lang schien es sogar als hätte sie die Krankheit bezwungen. Doch dem war nicht so.

Irena Szewińska gewann für Polen sieben Olympiamedaillen und stellte zehn Weltrekorde auf. Das Ausmaβ der Sympathie, die sie für sich und ihr Land erlangen konnte scheint schier unermesslich. Sie starb im Alter von 72 Jahren und wurde am 5. Juli 2018 feierlich auf dem Warschauer Powązki-Friedhof bestattet.

Sehenswert: Filmportrait Irena Szewińska (auf Englisch)

Sehenswert: Beeindruckend. Szewińskas Sieg auf 200 m bei der Olympiade in Mexico 1968

© RdP




Woran krankt der polnische Sport

Am neuen Besen soll er genesen.

Witold Bańka (Jahrgang 1984) ist polnischer Sportminister und ehemaliger Sprinter. Das interessante Interview mit ihm, das wir hier in deutscher Übersetzung wiedergeben, erschien am 26.01.2018 im Internetportal „w.polityce.pl („inder.politik.pl“).

Witold Bańka hatte sich als Athlet auf den 400-Meter-Lauf spezialisiert. Mehrmals wurde er bei internationalen Meisterschaften in der 4-mal-400-Meter-Staffel eingesetzt. Bei den U23-Leichtathletik-Europameisterschaften 2005 in Erfurt und bei der Universiade 2007 in Bangkok gewann er mit dem polnischen Team Gold. Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2007 in Osaka gehörte er im Vorlauf zur polnischen Staffel, die schließlich die Bronzemedaille errang. 2009 folgte Silber mit der polnischen Mannschaft bei der Universiade in Belgrad.

Witold Bańka.

Seine persönliche Bestzeit im 400-Meter-Lauf von 46,11 Sekunden stellte er am 23. August 2007 in Osaka auf. 2012 beendete er seine sportliche Laufbahn.

Im November 2015 wurde der parteilose Bańka im Kabinett von Ministerpräsidentin Beata Szydło zum Minister für Sport und Tourismus ernannt. Auch nach der Kabinettsumbildung im Januar 2018 behielt er unter Ministerpräsident Mateusz Morawiecki seinen Posten. Seit April 2016 ist er Mitglied der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit.

Wie wichtig ist der Sport für die jetzige polnische Regierung?

Der Haushalt meines Ministeriums für 2018 beträgt nicht ganz 1,3 Milliarden Zloty (knapp 300 Mio. Euro – Anm. RdP). Das sind um die 141 Millionen Zloty (ca. 33 Mio. Euro – Anm. RdP) mehr als 2017.

Die Ausgaben für den Kinder- und Jugendsport sind inzwischen, im Vergleich zu 2015, dem letzten Regierungsjahr unserer Vorgänger, um 93 Prozent gewachsen. Im Jahr 2015 bekamen 3.200 Sportlehrer und Jugendtrainer eine regelmäβige, staatlich finanzierte Unterstützung. Im Jahr 2018 sind es mehr als zwanzigtausend.

Unsere Vorgänger haben zwischen 2008 und 2012 ein landesweites, sogenanntes Orlik-Programm zum Bau von kleinen, gut ausgestatteten Sportplätzen in jeder Gemeinde aufgelegt. Auch wenn in einem Drittel der polnischen Gemeinden kein solcher Sportplatz entstanden ist, war das mit 2.600 fertiggestellten Sportplätzen ein gelungenes Vorhaben.

Diese Sportplätze müssen jedoch instand gehalten werden und es soll dort ein Angebot zur Betreuung und Anleitung in einzelnen Sportarten geben. Deswegen leiten wir für die Förderung kleiner Sportklubs, in denen meistens Kinder und Jugendliche trainieren, viel Geld an die Gemeinden weiter. Dieses Geld soll auch spontanen Sportaktivitäten zugutekommen, etwa Fuβballnachmittagen, zu denen jeder kommen kann der mag, um unter Aufsicht, zum Bespiel des Sportlehrers, spielen zu können.

Ich denke, das alles beantwortet ihre Frage. Der Sport ist uns sehr wichtig.

Eine typische Orlik-Sportanlage, hier in Bydgoszcz. Fuβballplatz (vorne) 30 m x 62 m mit künstlichem Rasen. Dahinter ein Mehrzweck-Sportplatz 20 m x 30 m mit Tartan-Bodenbelag für Handball, Basketball, Volleyball. Dazu gehört eine Umkleide mit Sanitäranalgen von ca. 60 qm. Kosten umgerechnet ca. 250.000 Euro.

Im Sommer 2017 hat die nationalkonservative Parlamentsmehrheit, auf Ihr Betreiben hin, das polnische Sportgesetz aus dem Jahr 2010 erheblich verändert. Was sollte diese Novellierung bewirken?

Man kann noch fünfmal mehr für die staatliche Sportförderung ausgeben, aber es wird nichts bringen, wenn das Geld irgendwo in dunklen Kanälen versickert. Wir wollten und mussten der Vetternwirtschaft und Korruption im polnischen Sport einen Riegel vorschieben. Mit dem Sportgesetz in seiner ursprünglichen Fassung aus dem Jahr 2010 war das nicht möglich.

Was konkret galt und gilt es zu bekämpfen?

In den meisten Sportverbänden war es zum Beispiel gang und gäbe, dass Sportartikel und Dienstleistungen bei Firmen eingekauft wurden, die der Ehefrau des Verbandsvorsitzenden oder eines wichtigen Präsidiumsmitglieds gehörten. Oder dem Ehemann der Schwester, dem Bruder des Schwagers usw. Die Novellierung des Sportgesetztes hat solche Machenschaften unterbunden, durch sehr klare Vorgaben für Ausschreibungen.

Das und vieles mehr an Missständen war jahrzehntelang ein offenes Geheimnis. Warum hat man früher nichts dagegen unternommen?

Das war der Preis, den auch der polnische Sport für den gleitenden Übergang vom Kommunismus zur Demokratie bezahlen musste. In vielen Lebensbereichen wurden dadurch all die kommunistischen Missstände in die neue Wirklichkeit hinübergerettet. Kommunistische Funktionäre jeglicher Prägung, informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit, andere Nutznieβer und Mitläufer des alten Systems sowie ihre Familien machten unter neuen Vorzeichen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens weiter: im Staatsapparat, im Justizwesen, in der Armee usw. Das ist das, was man Postkommunismus nennt.

Der Sport unterstand zur kommunistischen Zeit einer aufmerksamen Kontrolle des Partei- und Sicherheitsapparates, der beide Hände über diesen Sumpf hielt. Die eine schützend, die andere wurde aufgehalten. Die Sportverbände waren geradezu okkupiert von pensionierten Kadern der Partei und der Staatssicherheit. Dort gab es ja auch viel zu holen: Auslandsreisen in den Westen, Devisen, satte Gehälter, die durch Korruption noch zusätzlich aufgebessert werden konnten. Diese Verfilzung von Sportfunktionären mit der Machtelite setzte sich bis in die jüngste Zeit fort.

Der Vorwurf kommt auf, die Regierung will die Verbandsautonomie beseitigen.

Solche scharfen Ausschreibungsregeln, wie jetzt die unsrigen, gibt es in den meisten westeuropäischen Ländern. Dort haben wir sie abgeguckt. Wir mischen uns nicht ein in innere Verbandsangelegenheiten: Satzungen, Präsidiumswahlen, Trainingsprogramme usw. Das dürfen wir nicht, denn die Sportverbände wirken im Grenzbereich zwischen der polnischen Gesetzgebung und den Bestimmungen der internationalen Sportverbände, denen sie angehören. Wir dürfen und müssen jedoch eine wirksame Kontrolle und eine ungetrübte Klarheit beim Ausgeben staatlicher Fördergelder durch die Sportverbände gewährleisten.

Sie haben kurz nach ihrem Amtsantritt im Herbst 2015 eine Untersuchung in Auftrag gegeben mit dem Titel „Tätigkeitserforschung der polnischen Sportverbände in olympischen Disziplinen“. Die Ergebnisse waren bedrückend.

Leider funktionieren die meisten Sportverbände bei uns nicht gut. Schlechtes Management, Trägheit, fehlende Transparenz, mangelnde Professionalität. Wenn Sie auf die Internetseiten der Sportverbände schauen, dann finden sie dort meistens kein Wort über die Zukunft, nichts über die Aufnahme von talentierten Kindern und Jugendlichen. Ebenfalls kein Wort über die langfristige Entwicklungsstrategie der jeweiligen Sportart.

Man lebt dort von einem Jahr zum anderen, bastelt Pläne zusammen für die nächsten zwölf Monate. Werden daraus Medaillen, Landes-, Europa-, Weltmeistertitel? Egal. Das Sportministerium hat schon immer gezahlt und wird weiterhin zahlen. Eben nicht. Diese Zeiten sind vorbei.

Manche Disziplinen wird das hart treffen, aber im Leistungssport müssen Erfolge vorgewiesen werden. Gibt es sie nicht, gibt es auch keinen Plan wie man sie erreicht, dann wird in solche Disziplinen nicht mehr investiert. Das ist Verschwendung unser aller Steuergelder. Dann ist es sinnvoller dieses Geld in den Breitensport von Kindern und Jugendlichen zu stecken.

Schlechtes Management, mangelnde Professionalität ergeben sich oft aus Unwissenheit.

Deswegen haben wir Ende 2017 einen „Kodex des guten Managements für die polnischen Sportverbände“ erstellt.
Das ist kein Gesetz, keine Verordnung, an die sich die Verbände halten müssen. Es ist eine Art Lehrbuch, ein aus einhundertachtzig Empfehlungen bestehender Katalog guter Tipps, wie man einen Sportverband zeitgemäβ, effektiv und solide leitet. Die Schlagworte sind unter anderem: „Organisation und die Befugnisse der Verbandsorgane“, „Strategisches Management“, „Finanzmanagement“, „Aufsicht und innere Kontrolle“, „Ehrlichkeit und Redlichkeit im Sport“, „Disziplinarverfahren“, „Trainer und Athleten im Verbandsgeschehen“ usw.

Wer sich daran hält, hat keine oder zumindest wesentlich weniger Probleme, so zum Beispiel der Polnische Fuβballverband und der Polnische Ski-Verband. In beiden Sportarten verzeichnet Polen in den letzten Jahren beachtliche internationale Erfolge.

Sportminister Witold Bańka stellt am 15.12.2017 den „Kodex des guten Managements für die polnischen Sportverbände“ vor.

Im Polnischen Tennisverband, aber auch im Polnischen Bogensport-Verband, im Polnischen Curling-Verband und im Polnischen Radsportverband scheint man hingegen ihren Kodex noch nicht ein einziges Mal aufgeschlagen zu haben.

Es ist stets dasselbe: Machtkämpfe, Machtkämpfe und noch einmal Machtkämpfe um Geld und Geltung, bei denen der Sport immer mehr ins Abseits gerät. Ein schwacher Trost ist, dass viele meiner ausländischen Minister-Kollegen, und das beileibe nicht nur aus Dritte-Welt-Staaten, sich mit denselben Problemen herumschlagen.

Sie haben in ihrer Frage die wundesten Punkte angetippt. Einmischen dürfen wir uns nicht, aber wir sitzen am Geldhahn. Ich sage immer wieder: staatliche Sportförderung ist ein Privileg, auf das es keinen Rechtsanspruch gibt.

Deswegen haben wir dem Bogensport-Verband die Mittel deutlich beschnitten. Der Curling-Verband, der wirklich sehr tief gefallen ist, bekommt vorerst kein Geld vom Staat. Vom Tennisverband haben wir die Rückgabe eins Teils der Finanzierung eingefordert. Wenn sie alle sich erneuert haben, dann gibt es wieder staatliche Mittel.

Besonders heikel ist die Lage im Polnischen Radsportverband (PRV). Ende 2017 kam heraus, dass einer der leitenden Verbandsfunktionäre junge Sportlerinnen eingeschüchtert hat. Es gab Sex mit Schutzbefohlenen, wahrscheinlich sogar eine Vergewaltigung. Dazu Handy-Mitschnitte von Alkoholgelagen während der letzten Vollversammlung.

Der PRV-Vorstand hat als Krisenmanager völlig versagt. Der Verband ist zudem bis über beide Ohren verschuldet. Gerichtsvollzieher haben bereits ein Teil des Verbandsvermögens gepfändet.

Der PRV wird bald nicht mehr in der Lage sein für 100.000 Zloty monatlich (ca. 25.000 Euro – Anm. RdP) die einzige moderne polnische Radrennbahn in Pruszków bei Warschau zu betreiben, mit deren Bau er sich völlig übernommen hat. Er schuldet allein dem Hauptauftragnehmer, der Firma Mostostal knapp zehn Millionen Zloty (ca. 2,5 Millionen Euro – Anm. RdP). Auf unser Betreiben hin hat der staatliche Mineralölkonzern Orlen, im Notverfahren, die Teilnahme unserer Radmannschaft am Bahnrad-Weltcup im weiβrussischen Minsk im Januar 2017 bezahlt.

Radrennbahn in Pruszków bei Warschau.

Den gesetzlich vorgeschriebenen Eigenanteil, um die staatliche Förderung zu erhalten, hatte der PRV auch nicht. Verbandsautonomie ist Verbandsautonomie. Der Verband muss sich neu aufstellen, ein glaubwürdiges Sanierungsprogramm vorlegen. Dann können wir wieder miteinander reden.

Die Funktionäre versagen, Sie wiederum sperren das Geld, aber was passiert mit dem Radsport, einer in Polen sehr populären Sportdisziplin, in der wir auch in den letzten Jahren erfolgreich waren. Dazu gehören die olympische Bronzemedaille von Rafał Majka 2016 in Rio de Janeiro, der Weltmeistertitel von Michał Kwiatkowski im Straβenrennen 2014 im spanischen Ponferrada, die Erfolge im Frauenradsport von Katarzyna Niewiadoma.

Die Sportverbände können und dürfen wir nicht abschaffen, das wollen wir auch nicht. Wir können sie jedoch umgehen, wenn sie beim Training und bei der Schulung der Athleten versagen. Wir können die Sportförderung direkt guten Sportklubs zukommen lassen. Diese Erwägung steht im Raum.

Deswegen haben wir im Juni 2017 das Programm team100 eingeleitet. Die einhundert begabtesten polnischen Spitzensportler zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren erhalten ein Jahr lang insgesamt 40.000 Zloty (ca. 9.500 Euro – Anm. RdP) pro Person. Wir haben bisher zu viele junge Talente verloren, weil sie kein Geld hatten und deswegen sich, statt dem Sport, dem Geldverdienen widmen mussten.

Alle, die sich für das Vorhaben team100 qualifiziert haben, unterschreiben einen ethischen Verhaltenskodex. Das Wissenschaftliche Sportinstitut in Warschau überwacht das Ganze, überprüft die Leistungen der Stipendiaten, und nach einem Jahr treffen wir die Entscheidung wer ein weiteres Jahr lang gefördert wird und wer nicht.

Wie sie sehen, die Zeiten, in denen der polnische Sport den polnischen Sportverbänden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, sind vorbei.

Die Novelle zum Sportgesetz, über die wir eingangs gesprochen haben sieht vor, dass in den Präsidien der Sportverbände keine ehemaligen Beamten oder informelle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit aus der Zeit zwischen Juli 1944 und Juli 1990 sein dürfen. Wieso eigentlich?

Der Sport muss in jeder Hinsicht sauber bleiben. Ohne Doping, ohne krumme Geschäfte und ohne Leute, die dem Verfolgungsapparat eines Unrechtsstaates zu Diensten waren. Alle Abgeordneten und alle, die bei Wahlen kandidieren, aber auch alle ranghohen Politiker und Beamte, zudem alle Richter, Anwälte, Staatsanwälte, Offiziere von Armee und Polizei müssen eine diesbezügliche Erklärung abgeben. Warum sollten es die Sportfunktionäre nicht tun?

In Polen entscheidet der Arbeitgeber, ob er jemanden der seine IM-Tätigkeit zugegeben hat weiterhin beschäftigen will, und die Wähler entscheiden, ob sie eine solche Person im Parlament haben wollen oder nicht. Wer in seiner Erklärung gelogen hat, wird aus dem Richter- oder Anwaltsberuf entfernt, als Beamter oder Abgeordneter abgesetzt. Er darf auch nicht fürs Parlament kandidieren. Der polnische Staat als Arbeitgeber, nach dem Regierungswechsel vom Herbst 2015, vorher war das nicht so, will solche Leute nicht beschäftigen. Er will sie auch nicht fördern.

Die Erklärungen werden auf ihre Richtigkeit in den Archiven der ehemaligen Staatssicherheit überprüft, die jetzt vom Institut des Nationalen Gedenkens (der polnischen Gauck-Behörde – Anm. RdP) verwaltet werden.

Wie sind die Ergebnisse dieser Überprüfung?

Vierhundertvierzig vor dem 1. September 1972 geborene Präsidiumsmitglieder der Sportverbände hatten nach dem Empfang der amtlichen Aufforderung einen Monat lang Zeit ihre Erklärungen abzugeben. Zweiundvierzig von ihnen haben es nicht getan und vierundzwanzig haben ihre Erklärungen verspätet eingereicht. Sie alle müssen ihre Präsidiumsposten räumen. Darunter befinden sich die gesamte fünfköpfige Führung des Polnischen Curling-Verbandes sowie des Verbandes Polnischer Sporttaucher.

Polen spielt seit einiger Zeit eine wichtige Rolle im Antidoping-Kampf. Sie sind vor nicht langer Zeit zum Vertreter Europas im Exekutivkomitee der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) gewählt worden.

Wie gesagt, der Sport muss sauber sein. Betrüger, die dopen belügen sich selbst und alle Fans. Ganz und gar wird man Doping nicht aus dem Sport verbannen können, aber man kann es auf ein Minimum einschränken, wenn man mehr Geld und mehr Kraft in diesen Kampf investiert. Es ist zugleich ein Wettlauf mit der Zeit, denn Doping ist heute eine groβe, moderne Industrie.

Als wir uns Ende 2015, nach den gewonnen Wahlen, an die Arbeit machten, den polnischen Sport zu sanieren, da waren wir in einer heiklen Lage. Unsere Antidoping-Vorschriften wichen erheblich von den neusten WADA-Standards ab. Das war die Hinterlassenschaft unserer Vorgänger.

Es musste sehr schnell gehen.

Es war ein Wettlauf gegen die Uhr. Wir hatten lediglich bis zum 13. August 2016 Zeit, dann hätte unser Antidoping-Labor die WADA-Zulassung verloren. Wir hätten unsere Kontrollen für teures Geld in ausländische Labors verlegen müssen. Vom Prestigeverlust wollen wir erst gar nicht sprechen. Hinzu kam, dass bei der Olympiade in Rio 2016 zwei polnische Gewichtheber des Dopings überführt wurden.

Gleichzeitig haben wir bereits im März 2016, in enger Zusammenarbeit mit der WADA begonnen unser Antidoping-Gesetz auszuarbeiten. Es gilt heute als vorbildlich. Die Japaner haben es praktisch eins zu eins übernommen. Wir schulen Ukrainer und Aserbaidschaner. Deswegen wahrscheinlich meine Wahl ins WADA-Exekutivkomitee.

Internationales Kongreszentrum in Katowice. Tagungsort der Welt-Ani-Doping-Konferenz im November 2019.

Polen soll im November 2019 in Katowice die Welt-Ani-Doping-Konferenz ausrichten.

Ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Tokio wird in Katowice ein neuer WADA-Präsident gewählt und es werden die Weichen für den weiteren Anti-Doping-Kampf gestellt. Wir werden alles dafür tun, ein guter Gastgeber zu sein.

RdP




Vom Glanz und Elend des polnischen Fussballs