16.05.2022. Medienfreiheit in Polen oder Reporter ohne (Scham)Grenzen

Jedes Jahr veröffentlicht die internationale Organisation Reporter ohne Grenzen (RoG) eine Rangliste der Medienfreiheit. Seit 2016 wird Polen darin regelmäßig immer weiter unten gelistet.

Dieses Mal belegte es den 66. Platz, den schlechtesten in der Geschichte des Rankings. Betrachtet man jedoch ausschließlich das politische Kriterium (es gibt auch ein juristisches, ökonomisches und soziokulturelles Bewertungsmerkmal sowie den Aspekt der Sicherheit für Medienschaffende), dann liegt Polen auf Platz 110 (von 180 aufgeführten).

Beim Umschalten zwischen den Kanälen mit der TV-Fernbedienung, beim Durchsuchen von Nachrichtenportalen oder beim Lesen einer Wochenzeitung ist uns nicht bewusst, dass Polen in Bezug auf die Meinungsfreiheit schlechter dasteht als Moldawien, Burkina Faso, Samoa, Sierra Leone, Tonga oder Niger. Dass die Slowakei (wo vor nicht allzu langer Zeit Journalisten auf Bestellung ermordet wurden) sogar 39 Plätze höher eingestuft wird. Aber Reporter ohne Grenzen sehen uns so.

Was geschah also in Polen im Jahr 2021? In dem Ranking werden nüchterne Indikatoren mit Urteilsbegründungen versehen. Und hier sind Worte sehr wichtig.

Laut RoG hat der staatliche Energiekonzern Orlen die zwanzig polnischen Regionalzeitungen, die bisher dem deutschen Verlagshaus Passauer Neue Presse gehörten, nicht für umgerechnet ca. 45 Millionen Euro gekauft, sondern „übernommen“. Ob das mit Hilfe der Polizei, der Armee oder der polnischen Geheimdienste geschah, ist nicht bekannt.

Bekannt ist hingegen, dass die deutschen Eigentümer händeringend nach einem Käufer suchten, um weitere schmerzliche finanzielle Verluste zu vermeiden, und dass sie in Anbetracht dessen ein gutes Geschäft gemacht haben. Andere Offerenten, abgesehen von Orlen, gab es nicht. Ohne den Kauf hätten die Deutschen die Blätter eines nach dem anderen eingestellt. Knapp 2.500 Arbeitsplätze standen auf dem Spiel und wurden gerettet. Dass seit Mitte der Neunzigerjahre praktisch ausnahmslos alle polnischen Regionalzeitungen einem deutschen Konzern gehörten und von ihm politisch linksliberal gleichgeschaltet waren, hat die RoG nie gestört.

Das Gleiche gilt für den Gesetzentwurf zur Regelung der Anteile von Nicht-EU-Kapital an polnischen Medien, was z. B. in Frankreich längst beschlossen wurde. Schon das Erscheinen des Entwurfs wurde als Bedrohung der Meinungsfreiheit bewertet. Die Tatsache, dass das Gesetz aufgrund des normalen demokratischen Prozesses (Veto des Präsidenten) gescheitert ist, beweist für die RoG nichts. Denn was für eine Freiheit ist das, wenn solche Projekte überhaupt entstehen?

Auch wird das Arbeitsverbot für Journalisten im polnischen Grenzgebiet zu Weißrussland erwähnt, nachdem Diktator Lukaschenka begonnen hatte, massenweise Migranten für teures Geld nach Minsk einzufliegen. An die Grenze gekarrt, wurden sie dann zum gewaltsamen Stürmen der polnischen Grenzanlagen angestachelt. Als Aktivisten, Oppositionspolitiker und einige Journalisten begannen den Grenzzaun einzureißen, die Grenzpolizei bei ihrer Arbeit massiv zu provozieren und zu behindern, musste eine No-Go-Zone entlang der Grenze her.

Diese Umstände werden von RoG genauso wenig erwähnt wie die Tatsache, dass die meisten polnischen Medien sechs Monate lang über nichts anderes Horrorberichte verfassten, als über die gefühllose Haltung des Staates gegenüber den Lukaschenka-Migranten. Weil Polen ein freies Land ist und jeder schreibt, was er will.

Es gibt auch Anschuldigungen, dass Gesetze seit dreißig Jahren nicht geändert wurden. Da wird z. B. die Beleidigung bestimmter Institutionen mit einer Gefängnisstrafe geahndet. Doch es ist totes Recht, da es nicht angewendet wird. Es stimmt, dass öffentlich-rechtliche Medien Werbeaufträge von der öffentlichen Hand erhalten, aber das war auch schon vor zehn oder zwanzig Jahren so und hat die RoG damals nicht im Geringsten gestört.

Etwa 70 Prozent aller Medien in Polen verfolgen einen harten, unversöhnlichen Kurs gegenüber der nationalkonservativen Regierung. Dazu gehören die größten Tageszeitungen: „Fakt“, „Gazeta Wyborcza“, „Rzeczpospolita“, „Dziennik Gazeta Prawna“, die auflagenstärksten Wochenmagazine „Newsweek“, „Polityka“, „Angora“, „Tygodnik Powszechny“, der Fernsehsender TVN, alle großen Internetportale u. v. m.

Derweil residieren in Polen, dem Land, wo es angeblich kaum mehr Meinungsfreiheit gibt, der Agora-Konzern als Herausgeber der „Gazeta Wyborcza“ und deren Redaktion in einem prächtigen Büropalast mitten in Warschau. Agora hat 2021 Einnahmen in Höhe von umgerechnet ca. 76 Millionen Euro und einen Nettogewinn von ca. 6 Millionen Euro verbucht. Ein Jahr zuvor hatte der Konzern keine Hemmungen, von der verhassten Recht-und-Gerechtigkeit-Regierung umgerechnet 5 Millionen Euro an Corona-Hilfen entgegenzunehmen.

Das Bild, das diese Medien Tag für Tag, Woche für Woche seit sieben Jahren von Polen zeichnen ist tiefschwarz. Politiker aus dem Regierungslager sind immer schlecht, gemein, zynisch und unfähig. Wenn sie Wahlen gewinnen, dann nur mit Lügen. Wenn ihre Politik „ausnahmsweise“ erfolgreich ist, dann nur durch Zufall oder weil sie ihre Ideen irgendwo geklaut haben. Angeführt werden sie von einem Kaczyński, dem Hitler, Stalin, Pol Pot und Putin nicht im Entferntesten das Wasser reichen können. Nichts funktioniert, wohin man blickt, herrscht Hoffnungslosigkeit, wohin man das Ohr wendet, da rasseln die Ketten.

Es sind ausnahmslos Reporter dieser Medien, die den Reportern ohne Grenzen über die Medienfreiheit in Polen Rapport erstatten. Im Jahr 2015 befand sich Polen auf der RoG-Liste auf Platz 18. Damals wie heute verkündet jeder in Polen, was er will, nur geschieht das jetzt unter der falschen Regierung.

RdP




Bitterer Ernst. Den Polen schmeckt der Wodka nicht

Noch stärker haben sie sich vom Bier abgewandt.

Die Ergebnisse des Alkoholumsatzes in Polen im Jahr 2021 erscheinen wie ein Traum von Suchttherapeuten und Abstinenzaktivisten, die seit Jahren verschiedene Ideen zur Einschränkung des Konsums ins Gespräch bringen. Für die Spirituosen- und Brauereiindustrie hingegen sind solche Resultate eine wirtschaftliche Katastrophe.

Schon während der Pandemie zeigte sich, dass die Polen seltener zur Flasche greifen. Man könnte annehmen, dass Menschen, die zu Hause eingesperrt sind, dazu neigen, sich mit Alkohol aufzuheitern oder ihren Kummer darin zu ertränken.

In der anderen Waagschale jedoch lagen Partys, die nicht stattfanden , geschlossene Restaurants und Kneipen. Das war letztendlich ausschlaggebend für den Rückgang des Verbrauchs. Im Jahr 2020, als alle Angst vor COVID-19 hatten, kauften die Polen 51,4 Millionen Liter Alkohol weniger als im Jahr zuvor.

Die Auswahl an alkoholischen Getränken ist in Polen schier unermesslich.

Am meisten darunter gelitten haben die den Markt anführenden Brauereien . Der Biermarkt schrumpfte damals um 2,1 Prozent, d. h. im Laufe des Jahres 2020 wurden 135 Millionen Halbliterflaschen Bier weniger verkauft. Die Hersteller von Wodka, des am zweithäufigsten gekauften alkoholischen Getränks, verzeichneten einen Umsatzrückgang von 0,8 Prozent.

Gleichzeitig wurden weitere Veränderungen in der Nachfrage immer offensichtlicher.  Gefragter sind teurere, hochwertige Spirituosen. Zu den Spitzenreitern beim Umsatzwachstum gehört der Whisky, von dem 2020, also während der Pandemie, gut 20 Prozent mehr verkauft wurden als 2019.

Der Apfelwein. Eine flüchtige Liebe

Mit dieser Entwicklung enden auch die überzogenen Hoffnungen, Polen werde sich zu einer Apfelwein-Macht entwickeln. Wach sind noch die Erinnerungen daran, als vor einigen Jahren prophezeit wurde, dass dieser Markt, bei einer solchen Apfelproduktion, und Polen ist der drittgrößte Hersteller der Welt, geradezu zum Erfolg verdammt sei. Schlagzeilen verkündeten damals: „Die Polen haben sich in den Apfelwein verliebt“.

Den besten Apfelwein (polnisch: cydr) gibt es angeblich in der Gegend von Lublin.

Doch es war eine flüchtige Liebe. Seit mindestens fünf Jahren schrumpft der Apfelweinmarkt stetig. Allein im Jahr 2020 wurden 21 Prozent weniger verkauft als im Jahr zuvor.  Die Abwärtsspirale wurde durch die Hersteller selbst in Gang gesetzt, als sie versuchten,   statt eines wohlschmeckenden und relativ günstigen Getränks, vergleichsweise teure und geschmacklich  mäßige Apfelweine an den Mann zu bringen. Bisher schafft die Branche es nicht, da wieder herauszukommen.

Bierbäuche so klein wie vor zehn Jahren

Heute wissen wir, dass das polnische Trinkverhalten im Pandemiejahr 2020 Bestandteil eines schon früher begonnenen Trends gewesen ist: In Polen wird einfach immer weniger Alkohol getrunken.

Der Markt ist im Jahr 2021 noch weiter geschrumpft, und wiederum war das Bier am stärksten betroffen. Bereits im Jahr 2020 lag der Verbrauch in Polen bei 96 Liter pro Kopf und war damit der niedrigste in den letzten zehn Jahren. Im Jahr 2021 ging der Bierabsatz um weitere 4 Prozent zurück.

„Witajcie“ – „Seid willkommen“. Bierfest im oberschlesischen Katowice/Kattowitz.

Das ist ein schwerer Schlag für die Brauereien, denn nicht nur der Trend des sinkenden Absatzes hat sich verfestigt, sondern auch das Umsatzergebnis ist zum ersten Mal gesunken (um 1,1 Prozent): von 18 Milliarden Zloty (ca. 3,83 Milliarden Euro) im Jahr 2020 auf 17,8 Milliarden Zloty (ca. 3,79 Milliarden Euro) im Jahr 2021.

Der markanteste Rückgang ist vor allem bei den beliebtesten, den schlichten und preiswerten Lagerbieren zu verzeichnen. Sie machen zwar immer noch einen großen Teil des gesamten Bierabsatzes (80,3 Prozent) aus, verlieren aber seit Jahren einige Prozentpunkte an alkoholfreie Biere und aromatisierte Lagerbiere.

Im Jahr 2021 lag der Einbruch bei Lagerbieren bei bis zu 5 Prozent im Vergleich zu 2020. Der Verkauf von Starkbieren, mit einem höheren Alkoholgehalt, war in gleicher Weise rückläufig.

Woher dieser Wandel? Fachleute sprechen von einer Kombination aus mehreren Umständen. Da war die Pandemie mit einer langen Phase, in der die Gelegenheit zum geselligen Treffen „auf ein Bier“ gefehlt hat. Die Gewohnheiten der Menschen scheinen sich durch die Pandemie dauerhaft etwas verändert zu haben. Hinzu kommt die Inflation. Nicht nur Energie, Kraftstoffe und Lebensmittel, auch das Bier wird teurer. Zudem wurde die Verbrauchssteuer auf Alkohol leicht angehoben. Da wird eben auf Geselligkeiten, die oft mit dem Biertrinken verbunden sind, verzichtet.

Unwiderstehliche Äffchen

Und warum trinken die Polen weniger Wodka? Einer der Gründe ist die Einführung der Zuckersteuer, denn viele polnische Wodkasorten sind süß. Es ging vor allem darum, den gigantischen Absatz von sogenannten Äffchen einzuschränken. So heißen im Volksmund preiswerte Flachmänner mit 0,1 l Füllmenge.

Äffchen. Bescheidene Auswahl aus einem reichhaltigen Angebot.

Tag für Tag gingen in Polen drei Millionen von ihnen über den Ladentisch, davon eine Million bereits bis zwölf Uhr mittags. Jährlich eine Milliarde Stück. Die „Kurzen“ mit 0,1 l Inhalt lagen noch im Jahr 2020 mit gut 40 Prozent an erster Stelle aller in Polen verkauften Wodkaflaschen. Es folgten die 0,25 l-Fläschchen mit 30 Prozent, der halbe Liter kam auf einen Marktanteil von 26 Prozent. Die restlichen 4 Prozent machten die 0,7 l sowie die Literflaschen aus.

Forscher haben seinerzeit knapp zweihundert Verkäufer befragt und mehr als zehntausend Kassenquittungen eingesehen. Ergebnis: drei Viertel der Kunden kauften nur das Äffchen, beziehungsweise sie nahmen noch ein Getränk zum „Nachspülen“ und/oder eine Kleinigkeit (Schokoriegel, verpacktes Würstchen u. ä.) als Zubiss dazu.

Der Flachmann ist rasch beschafft: im Laden oder an der Tankstelle. Er lässt sich unauffällig verstauen: im Handschuhfach, in der Mantel-, Hand- oder Aktentasche. Er ist fix geleert: beim Gassi gehen mit dem Hund, auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, in der Mittagspause, auf der Parkbank, in der Bürotoilette. Die leere Flasche landet diskret im städtischen Müllbehälter oder irgendwo im Grünen.

Wer seinen Alkoholspiegel kurzfristig erhöhen möchte ohne gleich aufzufallen, ist heute mit etwa 8 Zloty (ca.1,70 Euro) dabei. Der Inhalt der „Kurzen“ wird in Polen nur geringfügig teurer angeboten als in der normalen Flasche. In Deutschland sind Preisunterschiede von rund einhundert Prozent bei Flachmännern im Vergleich zu den handelsüblichen Flaschen die Regel, nicht selten ist das sogar die untere Grenze.

Wodka muss in Polen mindestens 37,5 Prozent Alkohol aufweisen. Meistens hat er 40 Prozent. Anders verhält es sich mit Äffchen-Eigenkreationen der Brennereien, die in gröβere Flaschen gar nicht erst abgefüllt werden.

Ausgetrunkene Äffchen. Schnell gekauft, schnell getrunken, schnell entsorgt.

Deren Inhalt hat etwas weniger Prozente, wird dementsprechend geringer besteuert und als „Spirituosengetränke“ geführt, was den meisten Käufern erst gar nicht auffällt. Kirsche und Zitrone, dicht gefolgt vom Quitten- und Himbeergeschmack sind die Renner. Aromastoffe und der hohe Zuckeranteil kaschieren die schlechtere Qualität des Wodkas. Der Gewinn steigt, neue Kunden, vor allem Frauen, werden angelockt.

Die neue Zuckersteuer auf stark gesüßte alkoholische und nichtalkoholische Getränke, und eine Sonderabgabe für Wodka und „Spirituosengetränke“ in Flaschen bis zu 0,3 l Inhalt sollten die Äffchen-Vorherrschaft brechen. Auf die Sonderabgabe regierten die Brennereien, noch bevor sie in Kraft trat, indem sie Flaschen mit… 0.35 l auf den Markt brachten.

Die Zuckersteuer traf den Absatz von Äffchen besonders hart. Der Preis für ein 0,1 l Fläschchen stieg von 5,70 bis 6,50 Zloty (ca. 1,20 – 1,40 Euro) auf 8 bis 8,50 Zloty (um die 1,70 Euro)  an. Das genügte, um den Verkauf um 30 Prozent zu reduzieren. Es war der größte Rückgang im Wodka-Segment im Jahr 2021. Insgesamt betrug er 11 Prozent im Vergleich zu 2020.

Hersteller von Limonaden und Fruchtsäften begannen schnell, den Zuckergehalt zu verringern. Bei den Äffchen ist das nicht möglich. Angesichts der minderen Qualität des Alkohols wären sie ungesüßt oder deutlich weniger gesüßt für ihre Liebhaber ungenießbar.

Mehr geht nicht

Jahrelang glaubte man, dass die Polen ein besonderes Problem mit dem Alkohol hätten. Denn an der Weichsel stieg der Verbrauch, während er sich in Westeuropa eher stabilisierte bzw. rückläufig war. Schließlich pendelte sich der durchschnittliche europäische Konsum bei etwa 10 Litern reinen Alkohols pro Kopf und Jahr ein. Inzwischen hat der polnische Pro-Kopf-Verbrauch den europäischen Durchschnitt erreicht und zeigt keine Tendenz, erneut anzusteigen.

Da nun nicht mehr die Menge das Problem war, begann man von der falschen Art des Trinkens als einem polnischen Problem zu reden. Es wurde behauptet, dass die Polen immer noch nicht wegen des Geschmacks, oder um einen Anlass zu feiern, sondern zumeist ohne Anlass sehr exzessiv trinken. Aber auch das ist schon lange nicht mehr der Fall. Aus Untersuchungen geht mittlerweile hervor, dass gerade mal 7 Prozent der erwachsenen Bevölkerung die Hälfte des in Polen konsumierten Alkohols trinken. Das sind all diejenigen, die ein Alkoholproblem haben.

Die Polen trinken weniger, aber das heißt noch lange nicht, dass der Wodka bald nur noch ein Nischendasein im Warschauer Museum des Polnischen Wodkas fristen wird.

Die Mehrheit übt sich eher in Zurückhaltung. Die Zahl der Autos steigt und mit ihr die erzwungene Enthaltsamkeit. Es ist inzwischen undenkbar, was in der kommunistischen Zeit gang und gäbe war: ausuferndes Trinken am Arbeitsplatz. Zudem zeichnet sich schon seit mindestens einem Jahrzehnt eine stete Abkehr von starken Getränken, hauptsächlich zugunsten des Bieres, ab.

Polen wurde zu einem Land der Biertrinker. Der Bierkonsum stieg seinerzeit so rasant, dass Prophezeiungen laut wurden, die Polen werden sogar die Tschechen im Biertrinken überholen. Die Wirklichkeit hat diese hurraoptimistischen Vorhersagen etwas zurechtgestutzt. Während ein Tscheche 182 Liter Bier pro Jahr konsumiert, trinkt ein Pole 96 Liter. Damit trinkt er zwei Liter weniger als ein Österreicher, aber immerhin knapp 4 Liter mehr als ein Deutscher.

Die Absatzzahlen für 2021 zeigen, dass Polen beim Alkoholkonsum den Höhepunkt eindeutig überschritten hat. Der Rückgang zeigt, dass die Polen nicht zu dem Trinkstil zurückgekehrt sind, der ihnen früher, ein wenig zu Unrecht, kollektiv unterstellt wurde, nämlich so zu trinken, dass es möglichst schnell zu Kopfe steigt.

Wie sieht die Zukunft des Trinkens an der Weichsel aus? Mittlerweile ist bekannt, dass die Polen im ersten Quartal 2022 noch weniger Wodka gekauft haben. Der Absatz war um 10 Prozent geringer als im ersten Quartal 2021.

Auch das Brauereiwesen zeichnet die Zukunft in dunklen Farben. Es erwartet keine Umsatzsteigerung und wäre bereits froh, wenn sich der Rückgang verlangsamen würde.

Konkrete Prognosen wagt niemand abzugeben. Zu viele nicht kalkulierbare Umstände gilt es zu berücksichtigen: Corona, steigende Produktionskosten, die schwankende Verfügbarkeit von Rohstoffen und Verpackungen, der Krieg in der Ukraine und schließlich das Wetter. Denn davon, wie sonnig der Sommer wird, hängt der Bierverkauf am meisten ab.

© RdP

Lesenswert auch: „Äffchen mögen kein Bier“ und „Wie trinken die Polen“ 




10.05.2022. Vom polnischen Traum Russland loszuwerden

Es kann sein, dass wir in Polen, und mit uns die Bewohner der ganzen Region zwischen Russland und Deutschland, bald den Moment erleben werden, von dem wir noch bis vor Kurzem nur träumen konnten. Den Augenblick, in dem wir sagen können: Die Sicherheit unsrerer Staaten und Nationen ist für eine oder vielleicht sogar mehrere Generationen nachhaltig gewährleistet. Voraussetzung dafür ist eine dauerhafte, tiefgreifende militärische, wirtschaftliche und politische Schwächung Russlands.

Alles nur Wunschträume? Eine gesunde Portion Skepsis ist bei solchen Gedankenspielen ist stets angebracht, doch spricht vieles dafür, dass die erhoffte Entwicklung eintreten könnte.

Als US-Präsident Joe Biden sich am 26. März 2022 in Warschau, vom Redemanuskript abweichend, auf Putin bezogen zu dem Ausruf hinreißen ließ:Um Gottes willen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben“, da sah sich das Weiße Haus genötigt diese Aussage abzumildern. „Man strebe keinen Regimewechsel in Russland an“, hieß es im Nachhinein.

Nur einen Monat später eröffnete sich uns ein Epochenwechsel in der amerikanischen Politik, als Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin, nach ihrem Besuch in Kiew, freimütig die „Kriegsziele“ Amerikas umschrieben, und niemand in Washington machte Anstalten etwas daran zu korrigieren.

„Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es nicht mehr das tun kann, was es jetzt in der Ukraine tut.“ „Wir wollen nicht, dass sie ihre Fähigkeiten schnell wieder aufbauen können.“ (Austin). „Eine unabhängige Ukraine wird viel länger bestehen, als Wladimir Putin auf der politischen Bühne. Unsere Unterstützung für die Ukraine wird weitergehen (…) bis wir den endgültigen Erfolg sehen.“ (Blinken). Europäsche Polkitiker zogen nach. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach Klartext: „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz übte sich in Eindeutigkeit: „Es wird keinen russischen Diktatfrieden geben. Putin wird den Krieg nicht gewinnen.“

Von der Leyen, Scholz, Macron & Co. möchten, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert, würden danach aber am liebsten wieder politisch und wirtschaftlich mit Russland ins Gespräch und ins Geschäft kommen. Ganz nach dem altbekannten Motto und Vorwand: Russland kann und darf nicht isoliert werden.

Biden und seine Leute wollen viel mehr. Amerika soll den Ukraine-Krieg gewinnen. Die Amerikaner sprechen heute so, wie sie während des Zweiten Weltkrieges über Deutschland und Japan gesprochen haben. Sie wollen den geopolitischen Rahmen umbauen, in dem seit Ende des Zweiten Weltkrieges die Unabhängigkeit der Polen, Balten, Ukrainer und anderer Völker des sogenannten Zwischeneuropas stets zur Disposition stand, wenn es um gute Beziehungen und Geschäfte mit der Sowjetunion, bzw. Russland ging. Russland, wie es jetzt ist, ob mit oder ohne Putin, soll geschwächt und isoliert werden, so Washington.

Das entspricht voll und ganz den polnischen Wahrnehmungen, Erwartungen und Erfahrungen. Sie besagen, dass jegliche engeren, vielschichtigen, auf Vertauen in den Partner beruhenden Beziehungen mit dem heutigen Russland sehr gefährlich sind. Alles, was Gegenstand der Beziehungen ist, kann zu einem Zeitpunkt, der den Russen passt, und zu einem von ihnen festgelegten Zweck gegen uns verwendet werden. Alles. Vom Handel mit Äpfeln und Fleisch, über die Anwesenheit russischen Kapitals in Polen bis hin zum kleinen Grenzverkehr und den Feierlichkeiten zu wichtigen Jahrestagen.

Polens nationalkonservative Regierung hielt sich seit 2015 konsequent an diese Sichtweise. Es gab und gibt für sie keine bessere Option, als die erwähnten Risiken zu minimieren. Je weniger Handel wir treiben, je weniger wir kooperieren, umso besser für uns. Wenn ein Partner nur böse Absichten im Schilde führt, sollten wir uns so weit wie möglich von ihm fernhalten. Fazit: Man muss Politik gegenüber Russland betreiben, aber man sollte keine Politik mit Russland machen.

Das Jahr 2022 könnte, neben Daten wie 1918 (Wiedererlangung der Unabhängigkeit), 1920 (das Aufhalten des bolschewistischen Vormarsches auf Europa vor den Toren Warschaus), 1945 (die Sowjets zwingen Polen den Kommunismus auf) oder 1989 (Ende der Sowjetherrschaft in Polen) in die Geschichtsbücher eingehen und den Beginn einer neuen Ära markieren. Das Jahr 2022, ein Jahr ab dem Europa nicht mehr in ewiger Angst vor Russland, dessen Einfluss, seinen Manipulationen und Intrigen, und schließlich den von Moskau angezettelten verbrecherischen Kriegen leben muss.

Es gilt, nach dem für den Kreml verlorenen Ukraine-Krieg Russland in seine Grenzen weit im Osten zu drängen, sowohl geografisch, wie auch politisch. Die Amerikaner sehen das richtig und hoffentlich bleiben sie dabei. Eine Chance von historischer Bedeutung tut sich auf und eine einmalige Gelegenheit, die nicht verpasst werden sollten.

RdP




5.05.2022. Putin und die Selbstzerfleischung des Westens

Es ist eine der Binsenwahrheiten unserer Tage: Der russische Überfall auf die Ukraine hat sich faktisch in einen Krieg verwandelt zwischen Russland und der westlichen Welt, wie sie am Ende des Kalten Krieges vor dreißig Jahren entstanden ist. Die bisher akademisch geführten Debatten des Westens über den Zusammenprall der Kulturen oder das globale Ringen zwischen Staaten wie den USA, China und Russland, haben plötzlich die greifbare Form blutiger militärischer Schlachten und  russischer Kriegsgräuel, begangen bei Kiew oder im Donbass, angenommen.


Es sei jedoch daran erinnert, dass seit geraumer Zeit niemand den Westen so sehr bekämpft hat wie der Westen sich selbst. Er hat irgendwann begonnen, sich selbst aufrichtig zu hassen und so seine Daseinsberechtigung grundsätzlich zu verneinen. Diese Selbstaggression zergliedert die westliche Welt, schwächt ihre Position fortwährend und stellt die Aussicht auf ihren Fortbestand infrage.


Die Fähigkeit, sich selbst kritisch zu hinterfragen, war schon immer ein wesentliches Merkmal der westlichen Zivilisation, die sie vor dem Erstarren bewahrt hat. Sie war eine wesentliche Triebkraft für die anhaltende Erneuerung, die dem Westen im Laufe der Zeit einen Vorsprung in der Welt verschafft hat.


Was sich jedoch inzwischen in den westlichen Gesellschaften durch die kulturelle Linke und Rechte entwickelt hat, hat nichts mehr mit gesunder Selbstkritik zu tun, sondern gleicht einem hirnlosen Drang zur vollkommenen Selbstverneinung und Selbstzerstörung. Es stellt sich nämlich heraus, dass der Westen der einzig Schuldige für alles Böse in der Welt war und ist.

Es ist der Westen, der die Sklaverei, den Rassismus, die Ausbeutung und die Kriege erfunden hat, es ist der Westen, der die Welt ausplündert und vernichtet. Niemand sonst in der Geschichte hat so etwas getan. Alle anderen waren Opfer. Wenn sich der Westen also in sein Schneckenhaus zurückziehen (die extrem rechte Sichtweise) oder einfach aufhören würde zu existieren (der Traum der extremen Linken), würde die Welt unvergleichlich besser dastehen.

Das sehen Putin und seinesgleichen genauso. Russische Politik und Propaganda pflichteten jahrelang westlichen Politikern, Intellektuellen und Aktivisten, die das behaupten, eifrig bei. Putin&Co. hofierten sie im Kreml, umgarnen mit Komplimenten, Dialogangeboten, Stipendien und diskreten finanziellen Zuwendungen.

Die Energieabhängigkeit des Westens von Russland war das Eine. Das Andere war ein in schwere Selbstzweifel verstrickter Westen, der nicht an sich glaubt, sich geistig zerfleischt. Beides zusammen schuf die Überzeugung, dass sich die westliche Welt den russischen Kriegsabenteuern nicht oder nur schwach widersetzen wird.

Gewiss, Putin hat sich verrechnet, doch den Toten des Ukraine-Krieges bringt das nichts.

RdP




1.05.2022. Es gibt ein Leben ohne russisches Gas in Polen

Das bis vor Kurzem Unvorstellbare hat sich ereignet und nichts ist passiert. Weder die polnische Industrie, noch die Haushalte merken etwas davon, dass Russland Polen am 27. April 2022 den Gashahn zugedreht hat. Das Land ist gut gewappnet. Wie war das möglich?

Lange hieß es, die russophoben Polen haben geradezu einen Narren an der Energieunabhängigkeit ihres Landes vom großen Nachbarn gefressen. Und man weiß ja nicht erst seit heute, dass jedem Narren seine Kappe gefällt. Also ernteten die Polen jahrelang das selbstgefällig-süffisante Lächeln deutscher Politiker, das man gemeinhin nur keck auftretenden Kleinkindern zuteilwerden lässt.

Das Mitleid galt ausdrücklich Polens „hinterwäldlerischen“ Nationalkonservativen, die sich der Energieunabhängigkeit von Russland restlos verschrieben haben. Der 2010 tödlich verunglückte Staatspräsident Lech Kaczyński hatte diesbezüglich bereits versucht, gemeinsame Projekte mit Litauen, Aserbaidschan, der Türkei und der Ukraine einzufädeln.

Doch Frau Merkels politischer Ziehsohn und Günstling Donald Tusk, zwischen 2007 und 2014 polnischer Ministerpräsident, und seine Mannschaft fielen dem polnischen Staatsoberhaupt immer wieder in den Arm. Sie steuerten, wie ihre geistige Heimat Deutschland, kräftig dagegen, in Richtung Abhängigkeit von Russland.

Der 2006 von der Regierung Jarosław Kaczyński begonnene Bau des Flüssiggas-Terminals in Świnoujście/Swinemünde wurde nach dem Machtwechsel 2007 zu Tusk als nicht vorrangig betrachtet und bis 2015 verschleppt. Im Jahr 2010 unterschrieb die Tusk-Regierung zudem einen preislich äußerst ungünstigen Gasvertrag mit Russland, der ursprünglich bis 2037 gelten sollte. Nach heftigen Protesten im Land und dem Einspruch der EU-Kommission wurde er vonTusk, notgedrungen, auf Ende 2022 verkürzt.

In seiner unverbrüchlichen Treue zu Frau Merkel handelte Tusk, nicht nur in diesem Fall, gegen lebenswichtige Interessen Polens. Brav sein war oberstes Gebot. Als „antirussischer Störenfried“ hätte Tusk 2014 keine Chance gehabt, von Frau Merkel für seinen langersehnten Traumjob als EU-Ratspräsident protegiert zu werden. Hätte Putin Polen damals den Gashahn zugedreht, wäre die Panik in Polen riesengroß gewesen. Das Land war auf russische Gaslieferungen angewiesen.

Das zu ändern war, wie wir heute sehen, für Polen überlebenswichtig. Deswegen drückten die regierenden Nationalkonservativen 2015, nach ihren Siegen in den Staatspräsidenten- und Parlamentswahlen, in Sachen Energieunabhängigkeit aufs Gaspedal.

Endlich wurde das Flüssiggas-Terminal in Świnoujście in Betrieb genommen. Es deckt heute, durch Tankerlieferungen aus Katar, den USA, Norwegen und Nigeria, ein Drittel des polnischen Gasbedarfs, der sich auf 20 Milliarden Kubikmeter jährlich beläuft. Die Lieferungen aus Norwegen kommen von Gasfeldern vor der Küste des Landes, die Polen gekauft hat und die der staatliche polnische Mineralölkonzern Orlen betreibt.

Das wichtigste Projekt jedoch ist die Baltic Pipe, eine Erdgasleitung, die von Norwegen über Dänemark durch die Ostsee bis nach Polen reicht. Im Oktober 2022, genau zu Beginn der Wintersaison, soll die Baltische Röhre in Betrieb genommen werden. Durch sie sollen bis zu 10 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Polen gepumpt werden, was der Hälfte des polnischen Bedarfs entspricht.

Zudem achten die Behörden seit einigen Jahren penibel darauf, dass die Gaslager stets gut gefüllt sind. Während die Gasspeicher in der EU im Durchschnitt nur zu 30 Prozent voll sind, beträgt der entsprechende Wert in Polen 78 Prozent – Tendenz steigend. Mit den 4 Milliarden Kubikmetern jährlicher Eigenförderung reicht das aus, um den laufenden Verbrauch zu decken.

Zudem entstehen jetzt zusätzliche Gasleitungen nach Deutschland, Litauen und in die Slowakei, um im Ernstfall auch von dort Gas zu beziehen oder umgekehrt von Polen aus in diese Länder zu liefern. Wenn demnächst ein weiteres Flüssiggas-Terminal in Danzig betriebsbereit sein wird, soll Polen zu einem der größten Erdgas-Exporteure innerhalb der EU aufsteigen.

Haben ist allemal besser als brauchen.

Lesenswert auch: „Und Tschüss… Polens Abschied von Gasprom“

RdP




28.04.2022. Macron ist nicht gut für Polen

Auch in Polen läutet das linksliberale Lager die Glocken des Triumphs. Emmanuel Macron hat Marine Le Pen besiegt und sich das Recht gesichert, das Land der Gallier weitere fünf Jahre lang zu führen.

Was ist davon zu erwarten? Der sprunghafte Chefkoch Macron wird uns weiterhin seinen politischen Lieblings-Mischsalat servieren. Ein Allerlei aus Träumen von einer europäischen Armee, mehr Distanz zu Amerika, dem anhaltenden Glauben daran, dass man sich mit Putin einig werden kann, dem Drang, die EU-Schulden zu vergemeinschaften, und weiteren Reformbemühungen, um Frankreich wettbewerbsfähiger zu machen.

Polen wird für Macron, wie gehabt, Gegenstand kaum verhohlener Abneigung bleiben. Die Liste seiner verbalen Angriffe ist lang. Schon vor fünf Jahren ließ sich Wahlkämpfer Macron immer wieder zu heftigen Drohungen gegen Polen hinreißen. Er setzte damals, 2017, die polnische Regierung mit Putins Herrschaft gleich. Er wetterte gegen angebliches polnisches Sozialdumping, weil die Firma Whirlpool ihren Betrieb aus Amiens nach Łódź/Lodsch verlegte.

Was Whirlpool angeht, wird innerhalb von drei Monaten nach meiner Wahl eine Entscheidung in Sachen Polen gefällt. Ich übernehme dafür die Verantwortung. Ich möchte, dass man sich den Fall Polen in seiner Gänze anschaut und dass (…) Sanktionen verhängt werden“.

Macron blieb dieser Linie treu, als er während seines diesjährigen Wahlkampfes den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki als einen „rechtsextremen Antisemiten, der LGBT verbietet“, diffamierte. Beweise dafür bleibt er bis heute schuldig.

Einzig zu solch einem Kommentar war Macron fähig, als der polnische Regierungschef, erschüttert von den russischen Gräueltaten in Butscha, zu mehr europäischer Einigkeit gegen Russland aufrief und den Hausherrn im Élysée-Palast beschwor: „Präsident Macron, Sie haben so oft mit Putin verhandelt. Was haben Sie erreicht? Haben Sie auch nur eine der Gräueltaten gestoppt? Mit Kriminellen darf man nicht verhandeln, Kriminelle müssen bekämpft werden. Würden Sie auch mit Hitler, mit Stalin, mit Pol Pot verhandeln?“, fragte der polnische Premierminister.

Was kann Polen von einem Macron erwarten, für den, anders als für US-Präsident Joe Biden, Putin kein „Schlächter“ ist und die russischen Gräuel in der Ukraine kein „Völkermord“ sind, dafür, so seine Meinung, handelt es sich bei den Russen und Ukrainern um zwei „Brudervölker“.

Im Hagel russischer Raketen setzt Macron weiterhin auf Diplomatie. Noch vor kurzem hat er Putin im Schloss von Versailles und im Fort de Brégançon hofiert. Heute mimt er den großen Vermittler, der Putin in langen Telefongesprächen zu zähmen vermag. Macron will es nicht wahrhaben, dass im Ukraine-Krieg das von ihm errichtete intellektuelle Gebäude eines „gemeinsamen Europas mit Russland und ohne Amerika“, unter der Last seiner eigenen, lange gepflegten Illusionen und Widersprüche, zusammengebrochen ist.

Die widerspenstigen polnischen Nationalkonservativen, die in Warschau regieren und stets vor Russland warnten, sind Macron seit eh und je ein Dorn im Auge gewesen. Ostmitteleuropa habe gefälligst den Mund zu halten, wenn Macron in seiner blinden Unterstützung für die Föderalisierung Europas immer neue Pläne schmiedet, auch um der lächerlichen Kleinstaaterei im Osten des Kontinents ein Ende zu bereiten.

Sehr zum Leidwesen Macrons sind für die meisten Menschen in diesen Ländern nicht er und seine französischen Wähler, sondern die Amerikaner, die ihre Truppen in Polen und im Baltikum massiv verstärken und Russland mit Sanktionen hart anpacken, die besseren Europäer.

Gewiss, in den letzten Jahren erlebte Polen einige wenige plötzliche und vehemente Sympathiebekundungen des nervös auftretenden, leicht reizbaren Präsidenten. Da versuchte Macron, sehr unbedarft, seine Abneigung zu kaschieren, um französische Atomkraftwerke oder U-Boote in Warschau an den Mann zu bringen. Doch sich verstellen gehört nicht zu seinen Stärken.

Paris und Berlin, das über den Zusammenbruch der deutschen Russlandpolitik zutiefst verwirrt ist, werden, wie üblich, versuchen, die Stärke des deutsch-französischen EU-Motors aufrechtzuerhalten. Den Polen, mit Ausnahme von Donald Tusk und den Seinen, hat eine solche Zusammenarbeit, die den Anspruch erhebt, die europäische Politik willkürlich zu bestimmen, noch nie gefallen. Und Macron wird seine Sichtweise auf Polen als ein fernes Land, das der aufgeklärten Politik des Visionärs aus Paris nur Probleme bereitet, wohl nicht ändern.

Das ist bedauerlich, aber c’est la vie.

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RdP




24.04.2022. Jetzt ist klar, warum Putin Memorial verbieten liess

Völkermord ist auch ein Problem der russischen Gegenwart.

Ende Dezember 2021 ordneten russische Behörden das Verbot von Memorial, der Gesellschaft für historische Aufklärung, an. Doch warum sollte sich das Regime an einer Organisation stören, die Verbrechen aus der fernen kommunistischen Zeit dokumentiert? Warum kann das Sammeln von Beweisen für den stalinistischen Völkermord als „staatsfeindliche“, „extremistische“ oder gar „terroristische Betätigung“ betrachtet werden?

Putin hat wiederholt erklärt, dass es so etwas wie eine eigene ukrainische Nation nicht gibt. Alles, was dagegen spricht, sollte beseitigt werden. Das ist mit der „Entnazifizierung“ der Ukraine gemeint, die, wie der Politologe des Regimes, Timofej Sergejew, wörtlich sagte, einer „Ent-Europäisierung“ und „Ent-Ukrainisierung“ gleichkommt.

Damit die Ukraine aufhört, Ukraine zu sein, und das ukrainische Volk Teil des russischen Volkes wird, ist es notwendig, deren Führung und die intellektuellen Eliten auszulöschen, d.h. diejenigen, die die Bildung des kollektiven Bewusstseins und der nationalen Identität bestimmen. Deshalb bestand der ursprüngliche Plan des Kremls darin, die politische und intellektuelle Elite des ukrainischen Staates zu liquidieren, also, nach internationalem Recht, Völkermord zu begehen.

Da nach dem russischen Angriff der Widerstand viel größer ist als erwartet, wurde beschlossen, die „Entnazifizierung“ viel breiter anzulegen. Deswegen werden in den besetzten Gebieten lokale Regierungsbeamte, Kommunalpolitiker, Nichtregierungsaktivisten, Lehrer, Trainer, Sportler usw. entführt und nicht selten ermordet. Ihre Verbundenheit mit dem ukrainischen Staat ist ihnen zum Verhängnis geworden. Nicht zufällig sprach Putin im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine von einer „Endlösung“, die mit allen verfügbaren Mitteln erreicht werden müsse.

Einige der Opfer wurden mit auf dem Rücken gefesselten Händen in Massengräbern gefunden. Nicht wenige von ihnen starben durch Genickschüsse. Nicht anders als bei den stalinistischen Massenverbrechen, die von Memorial untersucht wurden.

Als das Oberste Gericht Russlands am 28. Dezember 2021 die Auflösung der Vereinigung anordnete, hieß es, Memorial „zeichnet ein falsches Bild von der UdSSR als terroristischem Staat, spekuliert über das Thema Repressionen, verzerrt die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges und rehabilitiert Naziverbrecher“.

Jetzt werden diese Argumente vom Kreml gegen alle verwendet, die versuchen, die Wahrheit über die Massaker in der Ukraine auszusprechen. Um es heute mit den Worten des Gerichts zu sagen: Wer behauptet, dass die Morde in Butscha, Borodjanka, Irpin oder Makariw von der russischen Armee begangen wurden, „spekuliert über das Thema Repressionen und erzeugt ein falsches Bild von Russland als terroristischem Staat, verzerrt die Geschichte der »Militärischen Spezialoperation in der Ukraine« und rehabilitiert Neonazi-Verbrecher“.

Moskau verhält sich heute im Fall Butscha genauso, wie einst nach der Ermordung von etwa 25.000 polnischen Kriegsgefangenen im April und Mai 1940 in Katyn und an anderen Orten. Die Sowjets bestritten hartnäckig, irgendetwas mit diesem Verbrechen zu tun gehabt zu haben, sie schoben die Schuld auf die Deutschen. Jetzt sollen die Ukrainer die Schuldigen sein.

Erst gut fünfzig Jahre nach den Morden von Katyn hat die Sowjetunion, durch Gorbatschow, diese Taten nur widerwillig gestanden. Der Verein Memorial war anschließend an der Aufdeckung der Einzelheiten der sowjetischen Geschichtsfälschungen beteiligt. Spätestens seit Butscha sind für Moskau, selbst Untersuchungen des einst von Stalin begangenen Völkermordes sehr heikel geworden. Sie könnten unerwünschte Assoziationen hervorrufen oder gar jemanden in Russland dazu ermutigen, Putins Verbrechen zu erforschen. Und das darf nicht sein.

RdP




19.04.2022. Franziskus irrt. Die Polen verwirrt

Kriege bringen fast immer tiefgreifende Veränderungen mit sich. Das sehen wir auch in diesem Frühjahr. Die deutsche Ostpolitik stirbt unter schmerzhaften, beschämenden Zuckungen. Die russischen Illusionen über die eigene Macht ruhen bereits, zusammen mit dem Lenkwaffenkreuzer „Moskwa“, auf dem Grund des Schwarzen Meeres. Auch die seltsamen gedanklichen Kapriolen zum Thema Ukraine-Krieg von Papst Franziskus werden obsolet.

Die meisten Polen sehen das so: Russland, der ewige, despotische Feind der freien Menschen, will wieder einmal einen Nachbarn versklaven. Abermals bringt er Zerstörung, mordet und raubt. Er hat sich nicht verändert, weil er sich nicht verändern wollte. Nach dem Zarentum und dem Kommunismus kommt er lediglich in einem neuen Gewand daher.

Was sieht Papst Franziskus? Er lenkt die Aufmerksamkeit von der Ukraine ab, indem er sagt: „Schauen wir uns doch die Kriege in Afrika, im Nahen Osten und in Asien an.“ Ein Krieg von vielen? Im Prinzip ja, nur dass keiner der anderen Kriege im Moment so blutig ist und dermaßen den Weltfrieden bedroht, wie jener in der Ukraine, weil er sich am leichtesten von allen in einen Atomkrieg verwandeln kann.

Schuld an ihm sind wir alle, jeder Einzelne von uns, sagt Franziskus. Er verteilt die Schuld im Wesentlichen gleichmäßig und lässt seinen Staatssekretär, Kardinal Parolin, verkünden: „Viele schicken Waffen in die Ukraine. Es ist schrecklich, denn das kann eine Eskalation auslösen, die nicht zu kontrollieren ist.“

Dabei verschlimmern Waffenlieferungen nicht, sondern verbessern die Situation der Ukrainer. Russische Truppen werden so daran gehindert, weitere Gebiete zu erobern und dort Gräueltaten zu begehen. Eigentlich ist das sehr einleuchtend.

Franziskus jedoch erblickt nur ein allgemeines Übel, eine schlimme Sünde der Menschheit und deren Verfall. Klar unterscheiden zwischen Überfall und Notwehr, zwischen Opfer und Täter will er offensichtlich nicht. Russland, den ewigen Feind der freien Menschen, scheint er nicht zu sehen. Er tariert das Gleichgewicht aus, sucht die Symmetrie.

Dabei liegt die Wahrheit niemals in der Mitte, sondern immer dort, wo sie nun einmal liegt, sie kann nicht „ausgemittelt“ werden. Ebenso sind wir nicht alle schuldig, auch kann nicht jeder mit einem Olivenzweig begrüßt werden. Selbst wenn wir manchmal die andere Wange hinhalten sollten, dürfen wir den Kopf nicht unter das Fallbeil legen. Vor allem nicht, wenn es sich dabei um den Kopf eines anderen handelt. Daher rührt das Konzept des gerechten Verteidigungskrieges, das von der Kirche seit Jahrhunderten ausdrücklich akzeptiert wird.

Doch Franziskus ging in seiner friedensbewegten Verwirrung noch weiter. Er ließ eine Ukrainerin und eine Russin beim diesjährigen Kreuzweg im römischen Kolosseum gemeinsam das Kreuz tragen. Dahinter verbergen sich gute Absichten, aber stellen wir uns vor, dass Papst Pius XII., mitten im Zweiten Weltkrieg, einer deutschen Frau und, sagen wir, einer Polin etwas Ähnliches vorschlägt (der Gedanke an eine Jüdin kommt einem erst gar nicht in den Sinn).

Inmitten eines völkermörderischen Krieges kann das nur als Gleichsetzung von Opfern und Henkern verstanden werden. Der Krieg muss beendet sein. Danach kommt die quälende Zeit der ehrlichen Reue über die Sünden, und noch später die der Vergebung. Nur die Opfer und ihre Familien können sie gewähren. Man muss kein Kirchenlehrer (Doctor ecclesiae) sein, um das zu verstehen.

Woher rühren solche Ideen? Am ehesten von der Massenkultur mit ihrer billigen Symbolhaftigkeit und politischen Korrektheit. Ihr Wesen ist es, Unterschiede zu verwischen. Auch die ethischen, indem sie Sprüche wie „Jeder ist ein Held“ oder „Jeder ist schuldig“ klopft. Man spricht diesbezüglich von Homogenisierung.

Franziskus jedoch, anstatt in in Polen und woanders Verwirrung zu stiften, sollte in diesem Fall dringend das Feld räumen und es Paulo Coelho, dem berühmtesten Vielschreiber der Welt, überlassen. Während Kardinal Parolin Angst hatte, Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine würden den Krieg befeuern, war die einzige Sorge des Meisters der Trivial-Literatur, dieser Angriffskrieg könnte der Russophobie Vorschub leisten. Solche Ähnlichkeiten machen sich nicht gut.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 13. März bis 16. April 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Polens politische Aktivitäten im Ukrainekrieg. Vorläufige Bilanz ♦ Ukrainische Flüchtlinge. Aufnahme konfliktlos aber nicht problemlos ♦ Viktor Orbans Haltung zum Ukrainekrieg beschädigt die polnisch-ungarischen Beziehungen ♦ Deutsche Zeitenwende aus polnischer Perspektive ♦ Angela Merkel. Ein Denkmal bröckelt.




14.04.2022. Fehl am Platze. Steinmeier in Kiew

Mit ausgesprochener Herzlichkeit begrüßte Wolodymyr Selenskyj die Staatspräsidenten Polens und der drei baltischen Staaten in Kiew. Lachende Gesichter, Umarmungen und fünf miteinander verflochtene Hände ergaben symbolträchtige Medienbilder mit einer eindeutigen Aussage. „Die Ukraine fühlt sich von euch stark und zuverlässig unterstützt. Mit Partnern wie euch werden wir siegen“, sagte Selenskyj.

Auch der deutsche Bundespräsident wollte mit von der Partie sein. Doch offensichtlich war er, nach Meinung des Gastgebers, in dieser Runde fehl am Platze und wurde ausgeladen. Dieser Affront empört viele Deutsche. Deutschland wurde brüskiert und gekränkt, heißt es in den Medien.

Bei so viel Verbitterung könnte der Versuch, sich in die Lage der Ukrainer zu versetzen, heilsam wirken. Seit Wochen bitten, betteln, schimpfen Selenskyj und sein Botschafter in Berlin, Melnyk, Deutschland möge seiner von Kanzler Scholz im Bundestag mit feierlicher Ergriffenheit verkündeten Zeitenwende endlich Taten folgen lassen: schwere Waffen liefern, Sanktionen gegen Russland verschärfen. Vergeblich.

Deswegen sollte dringend der deutsche Kanzler nach Kiew reisen, und zwar mit konkreten Zusagen. Herr Scholz telefoniert jedoch offensichtlich lieber mit Putin.

Fahren wollte Frank-Walter Steinmeier, der jedoch, erstens, nichts von dem mitbringen konnte, was die Ukraine gerade braucht, stattdessen sollte es einen warmen Händedruck geben, der vor allem ihn selbst gut aussehen ließe. Und der, zweitens, wie kaum ein anderer, als ehemaliger Chef des Bundeskanzleramtes und Außenminister, für die verfehlte deutsche Russlandpolitik der vergangenen Jahre steht.

Und hierin besteht der Affront aus ukrainischer Sicht. Nicht die Absage an Steinmeier belastet die ukrainischen Beziehungen mit Deutschland, sondern die über Jahre falsche und heute ungenügende Ukraine-Politik Deutschlands. Statt endlich seinen Solidaritätsversprechen gerecht zu werden, schickt Deutschland ausgerechnet den einstigen Lawrow-Vertrauten und Putin-Versteher Steinmeier, damit der seine symbolische Läuterung vor der Kulisse der Kiewer Kriegslandschaft und mit dem ukrainischen Präsidenten als Nebendarsteller inszenieren kann. Ein netter Händedruck der beiden hätte das falsche Signal gesendet, dass schon alles in Ordnung ist und sich gar nicht mehr so viel ändern muss. Dass Selenskyj dabei nicht mitmachen wollte, leuchtet ein. 

Noch mehr Deutsche werden jetzt der Meinung sein, dass sich die Ukrainer Deutschland gegenüber unverschämt benehmen. Dass sie allmählich auch einmal dankbar sein könnten. Dass ihr Botschafter zu heftig vom Leder zieht, ihr Präsident immer nur ermahnt und fordert. Dass das ganze Land lieber weiterkämpft und dafür Waffen haben will, statt endlich einzusehen, dass man Wladimir Putin einen gesichtswahrenden Ausweg bieten muss und es mit Waffen keinen Frieden geben kann.

Traurig stimmt die selbstgewisse Überheblichkeit, mit der nicht wenige in Deutschland, nach zwanzig Jahren verfehlter Russland- und Ukraine-Politik, den Ukrainern jetzt schon wieder erklären wollen, was für ihr Land das Beste ist. Diese verfehlte Politik beinhaltete auch die Nichtbeachtung der Sorgen und Ängste der Staaten Ostmitteleuropas, das Ignorieren der eigenen Nato-Verpflichtungen, die sträfliche Vernachlässigung der Bundeswehr.

Jetzt steht den Ukrainern das Wasser bis zum Hals. Es geht um alles, um Sein oder Nichtsein. Der Ertrinkende ruft nach Hilfe, aber er soll, bitte schön, auf die Befindlichkeiten der Deutschen Rücksicht nehmen, damit sie, wie kleine Kinder, bloß nicht bockig werden.

Steinmeier-Eklat? Entscheidend ist nicht, wer, wem, wo die Hände schüttelt, sondern ob es der Ukraine gelingt, ihre Freiheit zu bewahren. Die Zeit drängt. Praktische Solidarität mit den Opfern tut not. Sie ist tausendmal wichtiger als ein protokollarischer Affront, über den Deutschland einfach hinwegsehen sollte.

RdP




9.04.2022. Polnische Faschisten

Es gibt kaum ein abgenutzteres Wort als „Faschismus“. Zu oft wurde es als politische Keule benutzt, mit der man auf Gegner einprügelt. In der öffentlichen Debatte ist es zu einem weitgehend inhaltsleeren Schmähruf verkommen.

Die Hauptschuld daran tragen Kommunisten und andere Linksradikale. Ein jeder, der sich ihrem verbrecherischen Herrschaftsanspruch widersetzt, sich ihnen nicht unterordnen will, bekommt dieses Schandmal verpasst. Hierbei blicken sie auf eine lange Tradition zurück. Schließlich waren Sozialdemokraten für die deutschen Kommunisten in der Weimarer Zeit, auf Stalins Geheiß, „Sozialfaschisten“.

In den letzten Jahren haben auch Kreise, die sich als „liberal“ bezeichnen, einen wesentlichen Beitrag zur Aushöhlung des Begriffes „Faschismus“ geleistet. Nach politischen Niederlagen, unfähig, sich mit dem Verlust der Macht abzufinden, greifen sie auf die bewährte bolschewistische Propagandamethode zurück. Dabei gibt es die Faschisten tatsächlich. Doch das sind nicht die Figuren aus den linksliberalen Märchen für dumme Wähler. Und Beispiele hierfür gibt es zuhauf.

Erinnern wir uns nur an die vielbeachtete Aussage des ehemaligen belgischen Premierministers, Europaabgeordneten und bis 2019 Vorsitzenden der Liberalen im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt, der im November 2017 behauptete, dass in Warschau ein „100.000 Mann starker Marsch von Faschisten, Neonazis und weißen Rassisten“ stattfand. „Ich spreche nicht von Charlottesville in den USA, sondern von Warschau. Dieser Marsch fand 300 Kilometer vom Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau entfernt statt. Das hätte in Europa nie passieren dürfen.“

So beschrieb Verhofstadt den alljährlichen Unabhängigkeitsmarsch in Warschau, anlässlich des polnischen Nationalfeiertages am 11. November. Polen, oft ganze Familien mit Kindern, die ihre Verbundenheit mit ihrem Heimatland bekunden wollen, vermischen sich dort nicht selten mit den im Land lebenden Vietnamesen, Schwarzafrikanern, Ukrainern. Niemandem von ihnen ist jemals auch nur ein Haar gekrümmt worden.

Den polnischen Radikallinken und den Euro-Turboliberalen unter Donald Tusk, die seit 2015 sechs Wahlen (Kommunal-, Europa-, zwei Parlaments- und zwei Wahlen des Staatspräsidenten) verloren haben, ist dieser Marsch ein Dorn im Auge. Es sind ihre Beschimpfungen, die Verhofstadt in seiner Rede aufnahm.

Seit Jahren suchen europäische Postkommunisten, Liberale, Progressive und Aktivisten aller Couleur den Faschismus in Mittel- und Osteuropa. In Polen, in Ungarn, in Slowenien, überall dort, wo die Mehrheit der Bürger sie nicht an der Macht haben will.

Dabei übersahen Verhofstadt und andere geflissentlich, was sich in Russland zusammenbraute: einen verbrecherischen Rausch, den jetzt der auf Panzern groß aufgemalte Buchstabe „Z“ symbolisiert. Sie verdrängten alle Warnzeichen: Morde an führenden Oppositionellen, den Georgien-Krieg, die Krim-Annexion, die Massen-Gehirnwäsche im Geist des großrussischen Chauvinismus. Sie nahmen das hin, umwarben und mästeten das Monster mit seinen 144 Millionen Einwohnern, prall gefüllten Atomarsenalen und Rohstoffen. Sie betäubten die Öffentlichkeit, sie lenkten ab. Auf der Suche nach den „Faschisten in Polen“ landeten sie schließlich in der ukrainischen Stadt Butscha.

Verhofstadt hat grausam gelogen. Mit dem Eifer eines Neubekehrten verurteilt er heute Russland und fordert Sanktionen. Gewissensbisse wegen geistiger Mitschuld an dem, was sich in Butscha und anderen ukrainischen Städten ereignet, scheint er nicht zu haben. Dabei griff er in den letzten Jahren pausenlos Polen an, schuf ein künstliches Problem und lenkte von Russland ab. „Polnische Faschisten, Neonazis und weiße Rassisten“ beherbergen inzwischen etwa zwei Millionen ukrainische Flüchtlinge. Verhofstadt sollte sich schämen.

RdP




Geflüchtete Ukrainer. Gut für die Wirtschaft

Arbeitsplätze gibt es in Polen genug.

Mehr als zweieinhalb Millionen Ukrainer haben die polnische Grenze auf der Flucht vor dem Krieg überquert. Einige von ihnen wollen in andere Länder weiterreisen, aber der überwiegende Teil wird in Polen bleiben.

Die meisten Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Die Mehrzahl der Männer verteidigt ihre Heimat. Die enorme Herausforderung besteht momentan  darin, den Ankommenden zunächst einmal eine sichere Bleibe zu bieten, was dank der großen Solidarität der polnischen Gesellschaft gelingt. Auch die Behörden leisten Außerordentliches. Ohne die Hilfe der Armee und Territorialverteidigung, von Polizei, Feuerwehr, Grenzschutz, Gesundheitsdienst und der Kommunen, wäre eine riesige humanitäre Krise an der polnischen Ostgrenze nicht zu vermeiden.

Freiwillige, der Staat, die Kommunen, die Armee u.v.a. leisten Außerordentliches.

Die Logistik der Flüchtlingsaufnahme ist eine Herausforderung für das ganze Land. Kurzfristig wurde bereits viel getan, aber der verheerende Krieg kann länger dauern. Es ist daher wichtig, die Flüchtlinge in Arbeit zu bringen, damit sie ihren Lebensunterhalt verdienen können.

Ukrainische Arbeiter in Polen

Schon nach 2014 kamen vor allem Männer aus der Ukraine, um in Polen zu arbeiten. Die Einnahme der Krim durch Russland und der Krieg im Donbass hatten einen wirtschaftlichen Einbruch in der Ukraine verursacht. Zerstörte Industriezentren im Osten des Landes, der blockierte Handel mit Russland, der begrenzte Zufluss ausländischer Investitionen und die von der Inflation angeschlagene Landeswährung Hrywnja trugen zu einem enormen Rückgang der Wirtschaftsleistung in den Jahren 2014 und 2015 bei. Insgesamt betrug der Rückgang in diesem Zeitraum 16,5 Prozent. Die schlechte wirtschaftliche Lage motivierte Millionen von Ukrainern dazu, außerhalb ihres Landes nach Arbeit zu suchen, auch in Polen.

Statistiken belegen, dass die Ukrainer zunächst hauptsächlich einfache körperliche Arbeiten, einschließlich Saisonarbeit, in Polen verrichteten. Doch mit der Zeit kamen immer mehr Facharbeiter und Handwerker hinzu. Man schätzt, dass mittlerweile rund 60 Prozent der Arbeiter in der Bauindustrie aus der Ukraine stammen, mehr als 100.000 waren noch vor Kurzem in Polen als Fahrer tätig. Auch kamen immer mehr junge Leute von jenseits der Ostgrenze zum Studium nach Polen, von denen einige, gut ausgebildet und ausgestattet mit den entsprechenden Sprachkenntnissen, blieben.

Vor Ausbruch des Krieges lebten in Polen rund 550.000 Ukrainer, die hier legal beschäftigt waren und Sozialversicherungsbeiträge zahlten. Geht man davon aus, dass möglicherweise doppelt so viele Menschen keine Beiträge zahlten, also illegal arbeiteten, kommt man auf über 1,5 Millionen Ukrainer, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs am 24. Februar 2022 in Polen ihren Unterhalt verdienten. Die meisten von ihnen haben ihre Familien im Osten zurückgelassen. Das wird dadurch belegt, dass rund 60 Prozent der in Polen arbeitenden Ukrainer Geld nach Hause überweisen. Im Durchschnitt waren es mehr als 8.000 Zloty (ca. 1.700 Euro) pro Jahr. In den letzten Jahren beliefen sich die jährlichen Geldtransfers in die Ukraine auf insgesamt mehrere Milliarden Zloty.

Dank der allgemeinen Akzeptanz der Arbeiter aus dem Osten, ihrer guten Landeskenntnisse und der im Laufe der Zeit entstandenen Kontakte, war es für viele von ihnen selbstverständlich, Polen als den Ort zu wählen, an dem sie den Schrecken des Krieges entkommen konnten. Auch spürten sie die unter der polnischen Bevölkerung weitverbreitete Solidarität mit dem ukrainischen Volk, die nach der russischen Aggression gegen ihr Land entstanden war.

Mangel an Arbeitskräften

Die polnische Wirtschaft wächst in einem sehr schnellen Tempo. Die Arbeitslosigkeit ist eine der niedrigsten in Europa, die Unternehmen sind auf der Suche nach Arbeitskräften. Im Februar 2022 wurden täglich mehr als 600.000 Arbeitskräfte in Online-Stellenbörsen gesucht. Da auch anderweitig nach Arbeitskräften gesucht wird, sind die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt und der Bedarf an Arbeitskräften noch größer.

Informationen auf Ukrainisch in einem polnischen Arbeitsamt.

Die rasante Entwicklung bestimmter Wirtschaftszweige führt dazu, dass Fahrer, Verkäufer (einschließlich Kassierer), Hotel- und Gaststättenpersonal, Reinigungskräfte oder Produktionsarbeiter gesucht werden. Wichtig ist, dass es Arbeitsplätze sowohl dort gibt, wo eine besondere Ausbildung nicht immer erforderlich ist (Saisonarbeit wie Obstpflücken, Gartenarbeit, Gastronomie, Reinigung), als auch dort, wo qualifizierte Mitarbeiter (z. B. im Verkehrswesen oder auf dem Bau) und Fachleute (z. B. Programmierer oder Ärzte) benötigt werden.

Arbeitsplätze für Frauen

Arbeitsplätze für Flüchtlinge gibt es eigentlich genug, aber die derzeitige Situation ist spezifisch. Die meisten von ihnen sind Frauen mit Kindern. Dies wirft mehrere Probleme auf. Viele Angebote richten sich an Männer, nämlich genau dort, wo ukrainische Arbeitnehmer in den letzten Wochen nach Hause zurückgekehrt sind, um nach ihren Familien zu sehen und ihr Land zu verteidigen. Das ist insbesondere im Baugewerbe oder im Verkehrswesen der Fall. Viele Unternehmen dieser Branchen haben bereits jetzt Probleme mit der termingerechten Einhaltung laufender Aufträge. Schätzungen zufolge haben bereits mehr als 30.000 Fahrer aus der Ukraine Polen verlassen.

Nur wenn ihre Kinder versorgt sind, werden die geflüchteten Frauen arbeiten.

Damit Frauen arbeiten können, müssen sie nicht nur ein Dach über dem Kopf haben, sondern sie müssen auch dafür sorgen, dass ihre Kinder in das Schul- und Vorschulsystem einbezogen werden. Das stellt den polnischen Staat und die Kommunen vor eine große Herausforderung. Das Schulwesen ist in der Lage, Zehntausende ukrainischer Kinder und Jugendlicher aufzunehmen. Bei den Kinderkrippen und Kindergärten ist das bei Weitem nicht so.

Nur wenn ihre Kinder versorgt sind, werden Frauen arbeiten. Arbeit gibt es für sie genug. Polnische Lebensmittel-, Bekleidungs- und einige Produktionsunternehmen (z. B. für Hygieneprodukte) haben aufgrund des Konflikts an der Ostgrenze deutlich mehr Aufträge erhalten. Krankenhäuser suchen nach Hilfskräften, Logistikzentren und der Handel nach Verkaufspersonal, sowohl im elektronischen als auch im traditionellen Handel, und auch Reinigungsunternehmen haben einen Mangel an Arbeitskräften. Zudem werden die Fremdenverkehrssaison sowie die Saisonarbeit im Gartenbau und in der Landwirtschaft bald wieder beginnen.

Ein großer Teil der Flüchtlinge sind gut ausgebildete Arbeitnehmer mit viel Berufserfahrung. Leider ist zu erwarten, dass die meisten nicht entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt werden können. Ein großes Hindernis sind die mangelnden Kenntnisse der polnischen Sprache sowie der landesspezifischen Gegebenheiten (z. B. im juristischen Bereich), aber auch die Notwendigkeit, Diplome vorab zu validieren (z. B. bei Ärzten).

Man sollte sich ebenfalls darüber im Klaren sein, dass die meisten offenen Stellen auf dem polnischen Arbeitsmarkt sich im unteren Qualifikationsbereich befinden, ein Phänomen, das bei Massenauswanderung häufig anzutreffen ist. Die Polen kennen es selbst, aus Großbritannien oder Deutschland, wo sie sehr oft unterhalb ihres Bildungsniveaus beschäftigt sind.

Chancen und Gefahren

Arbeitnehmer aus der Ukraine beheben die Engpässe in verschiedenen Branchen der polnischen Wirtschaft. Sie verrichten auch Arbeiten, die die Polen nicht übernehmen wollen. Der Mangel an einheimischen Arbeitskräften tritt vor allem in den Regionen auf, die sich am schnellsten entwickeln, die Ansiedlung zusätzlicher Arbeitskräfte ist erwünscht. Es wird geschätzt, so ein Bericht der Polnischen Nationalbank, dass der Zustrom von Arbeitskräften aus der Ukraine jedes Jahr mit fast 0,5 Prozent zum Wachstum der polnischen Wirtschaft  beiträgt.

Knapp 670.000 Ukrainer arbeiten aktuell legal in Polen, zahlen Sozialbeiträge und Steuern.

Viele Ukrainer sind zwar illegal beschäftigt. Ein großer Teil von ihnen (Ende März 2022 waren es knapp 670.000) zahlt jedoch, wie bereits gesagt, Sozialbeiträge und Steuern, die in das polnische Rentensystem und in den Staatshaushalt fließen. Zum Vergleich: Die Gesamtzahl der Ausländer, die Ende März 2022 legal in Polen gearbeitet haben, betrug 932.000.

Es besteht aber auch die Notwendigkeit, mehr Geld aus dem Staatshaushalt für die Finanzierung des Aufenthalts von Flüchtlingen in Polen auszugeben. Menschen, die vor einem brutalen Krieg fliehen, muss geholfen werden. Angesichts einer nationalen Tragödie, wie sie die Ukraine erlebt, treten wirtschaftliche Aspekte normalerweise in den Hintergrund, dennoch muss Polen die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass die Belastung für den Staatshaushalt beträchtlich sein wird.

Die ersten Schätzungen belaufen sich auf über 2,2 Milliarden Euro bis Ende 2022. Unter diesen Umständen kann das bereits ein Jahr lang dauernde Zögern der EU-Kommission, die Polen zustehenden Gelder aus dem „Wiederaufbaufonds“ endlich freizugeben, nur als ein sehr unwürdiges Spiel bezeichnet werden.

Der plötzliche gewaltige Anstieg der Zahl der Menschen aus der Ukraine ist eine Herausforderung für die Regierung und die gesamte Gesellschaft. Er wird einerseits neue Möglichkeiten für die Wirtschaft, aber andererseits auch vorübergehend Probleme schaffen.

Wenn Polens Wirtschaft weiterhin wächst, werden die Flüchtlinge die Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllen und nicht etwa polnische Arbeitnehmer verdrängen. Die Geschichte lehrt uns aber auch (man erinnere sich an John Steinbecks Buch „Früchte des Zorns“ über Bauern, die aus den von Dürre heimgesuchten Staaten nach Kalifornien flüchten), dass bei einer wirtschaftlichen Stagnation und einem Wettbewerb um knappe Arbeit, Enthusiasmus und Hilfsbereitschaft sehr schnell in Gleichgültigkeit oder sogar Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen umschlagen können. Auch das muss man stets vor Augen haben.

Lesenswert auch:  „Ansturm. Ukrainische Kinder an polnischen Schulen“,   „Ukrainer in Polen. Nutzen und Gefahren“.

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