Kommunen zum Leben erweckt

Am 12. Februar 2015 starb Prof. Jerzy Regulski.

Er verkörperte eine Spezies, die im kommunistischen Polen in der Wissenschaft lange Zeit anzutreffen war. Alles an diesen Menschen schien aus der Vorkriegszeit zu sein. Ihr Auftreten und Benehmen, ihre Haltung und ihre Umgangsformen standen im schroffen Gegensatz zur allgegenwärtigen, primitiven Propaganda, zur Rüpelhaftigkeit, Tristesse und Alltagsmühsal des Lebens im Kommunismus.

Die kultivierten Damen und Herren „der alten Schule“ wahrten zu ihrer Umgebung eine gewisse Distanz, und doch waren sie bestens integriert. Eingeschüchtert und mit Doktor- bzw. Professorentiteln ausgestattet, brauchten sie den Sozialismus nicht zu rühmen. Der rote Staat lieβ sie gewähren, er benötigte ihr Fachwissen, ihre Sprachkenntnisse, ihre guten Manieren, um nach Auβen einen positiven Eindruck zu erwecken. Es genügte, dass sie sich auf ihr Fachgebiet beschränkten, ansonsten wegschauten, den Mund hielten, ihre Privilegien genossen und im Ausland eine gute Figur machten. Ganz im Sinne der Lehre Lenins über „die Fachleute, die von Dienern des Kapitalismus, zu Dienern der werktätigen Massen, zu ihren Ratgebern gemacht werden müssen.“

Abkömmling parasitärer Bourgeoisie

Jerzy Regulski wurde 1924 geboren in Zarybie, einem Vorort von Warschau, wo die Unternehmerfamilie eine Residenz bewohnte. Vater Janusz war General- und Finanzdirektor des damals gröβten polnischen Energiekonzerns Siła i Światło SA („Kraft und Licht AG“), der bis 1939 gut 30 Mio. Dollar in Polen investierte, was heute einer Summe von etwa 450 Mio. Dollar gleichkäme. Einen Namen hatte er sich aber vor allem als langjähriger Präsident des noblen Polnischen Automobil-Clubs gemacht.

Während der Belagerung Warschaus durch deutsche Truppen, zwischen dem 8. und 28. September 1939, wurde Regulski-Senior zum Kommandanten des Ordnungsdienstes berufen, der an Stelle der Anfang September 1939 aus der Stadt evakuierten Polizei, deren Aufgaben wahrnahm.

Während der Besatzungszeit unterstützte er unermüdlich Flüchtlinge und Häftlinge durch seine Arbeit in Hilfskommitees der polnischen Caritas und des Polnischen Roten Kreuzes. Als eine herausragende Persönlichkeit des „kapitalistischen Polens“ wurde er 1948 von den Kommunisten zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zuge des langsam einsetzenden politischen Tauwetters nach dem Tode Stalins im März 1953, kam er als gebrochener Mann 1955 frei.

Sein Sohn Jerzy hatte bereits 1946, als junger Student, für ein Jahr lang Bekanntschaft mit dem kommunistischen Kerker gemacht. Schwer misshandelt und psychisch gebrochen, entließ man ihn „auf Probe“. Seitdem wurde Jerzy Regulski nicht müde Selbstkritik zu üben.

Die strikt antikommunistischen „Nationalen Streitkräfte“ (NSZ), eine starke Untergrundorganisation, in der er im Krieg Mitglied gewesen war, war für ihn nun, entsprechend der kommunistischen Propagandaauslegung, „faschistisch“. Der Warschauer Aufstand von 1944, in dem er gekämpft hatte – ein „unverantwortliches Abenteuer“. Der antikommunistische Widerstand nach 1945 – „ein Fehler“.

Kompromiss Kompromissowitsch

Diese „Läuterung“ war für den „Abkömmling der parasitären Bourgeoisie“ der Passierschein zum Studium an der Warschauer Technischen Hochschule, später sogar am Pariser Centre de Rechreche d’Urbanisme. Der studierte Bauingenieur, promovierte und habilitierte an der Architekturfakultät der Warschauer Technischen Hochschule, war Professor an der Universität Łódź, später an der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

Kurz vor seinem Tod offenbarte Jerzy Regulski in einem Zeitungsinterview: „Das Jahr im Gefängnis hatte einen kolossalen Einfluss auf meine Weltanschauung. Dort habe ich mir meine Philosophie des Überlebens geschaffen, der Wahrung eines Gleichgewichts zwischen den eigenen Werten und dem Leben in einer Umgebung, wie sie damals war.“

Regulski sagte von sich, er sei ein Anhänger der „organischen Arbeit“ (praca organiczna). Dieser im 19. Jh. von polnischen Positivisten geprägte Begriff umschreibt eine Ideologie, die die sinnvolle Arbeit zur Stärkung der Kräfte der Nation (Bildung, Steigerung des ökonomischen Potentials) den angeblich fruchtlosen Aufständen vorzieht. Der Spielraum für organische Arbeit war jedoch im totalitären Kommunismus, der jede Eigeninitiative, jeden undogmatischen Gedanken als Bedrohung ansah, denkbar gering und lieβ Legionen von Gutwilligen „Positivisten“ schier verzweifeln. Die Kompromisse, die ihnen abverlangt wurden, machten sie letztendlich zu Mitläufern und Unterstützern des Systems.

Steckenpferd kommunale Selbstverwaltung

Während der „ersten Solidarnośc“, zwischen August 1980 und der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981, in einer Zeit, in der die Freiheit in Polen brodelte, entdeckte Regulski sein Steckenpferd, das er bis zu seinem Tode mit Leidenschaft pflegte: die kommunale Selbstverwaltung.

Im Kommunismus war sie abgeschafft und durch ein von Oben herab staatlich kontrolliertes System der „Volksräte“ ersetzt worden. Diese hatten keine Autonomie, kein Vermögen und keine eigenen Einnahmen. Alles, auch die simpelste Fassadenrenovierung oder Straβenausbesserung, wurde in Warschau (Ost-Berlin, Budapest, Moskau usw.) bewilligt und von dort finanziert. Gepaart mit anderen Grundübeln des Kommunismus (Materialmangel, Tonnenideologie, eine alles lähmende Bürokratie usw.) führte das zu einer geradezu beklemmenden Verwahrlosung der Provinz zwischen Elbe und Wladiwostok.

Arbeiterselbstverwaltung und Gewerkschaftsrechte, das waren die Themen, die die Gemüter in der Solidarność-Bewegung, zuerst in der Legalität und dann im Untergrund, erhitzten. Kaum jemand im Polen jener Zeit war sich nach vierzig Jahren Kommunismus der Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung für die Demokratisierung und den Wiederaufbau des Landes bewusst. Regulski tastete sich Ende der 1980er Jahre vorsichtig an die Opposition heran. Es gelang ihm und seinen engagierten Getreuen, die im Stillen an dem Thema arbeiteten, dieser Opposition ein Bewusstsein für das Thema zu vermitteln.

Der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki ernannte Jerzy Regulski Ende 1989 zum Bevollmächtigten für die kommunale Verwaltungsreform. In Windeseile wurden ganze Gesetzespakete verabschiedet, und bereits am 27. Mai 1990 fanden die ersten freien Wahlen nach dem Krieg in Polen statt: zu den Gemeinderäten.

Die kommunale Selbstverwaltung zog in die Gemeinden ein. Die zweite Etappe – die Einrichtung der kommunalen Selbstverwaltung auf Kreis- und Woiwodschaftsebene konnte erst 1999 umgesetzt werden. Regulski beaufsichtigte sie als stellvertretender Innenminister in der Regierung Jerzy Buzek.

Reformbedürftige Reform

Am Ende seines Lebens wurde Jerzy Regulski zunehmend zu einem lebendigen Denkmal der Erfolgspropaganda der seit 2007 in Polen regierenden Bürgerplattform. Als Berater von Staatspräsident Komorowski, verinnerlichte er dessen These, Polen erlebe gerade sein „goldenes Zeitalter“ und jeder, der diese Meinung nicht teilt, ist ein „Querulant und Extremist“. Regulski lieβ auch keine grundlegende Kritik an seinem Werk zu.

Dabei führt die fehlende Beschränkung auf zwei Amtsperioden, gepaart mit einer weitgehenden politischen Passivität der Polen, dazu, dass die meisten (direkt gewählten) Ober- und Gemeindebürgermeister Polens seit zwölf, oft sechzehn und manchmal zwanzig Jahren ununterbrochen amtieren.

In vielen Kommunen sind Ämterpatronage und das Entstehen von Geflechten, die auf gegenseitiger Hilfeleistung und auf Gefälligkeiten beruhen, die Folge. Dieses verdeckte Zusammenwirken führt zur Vermischung von gesellschaftlichen, politischen und unternehmerischen Interessen, und es überschreitet nicht selten die Grenze zur Korruption.

Die Kommunen werden mit immer neuen Aufgaben überfrachtet, ohne dass sie von der Zentralregierung Geld dafür bekommen. Das parallele Vorhandensein von zentralstaatlichen (dem von Warschau ernannten Woiwoden-Regierungspräsidenten unterstellten) und kommunalen (dem gewählten Woiwodschaftsmarschall unterstellten) Verwaltungsstrukturen in den sechzehn Provinzen Polens, leistet einer enormen Bürokratie Vorschub. Alle diese Probleme harren einer Lösung.

Trotz alledem, es war Regulski, der den Durchbruch zur Errichtung einer kommunalen Selbstverwaltung in Polen umgesetzt hat. Das ist sein bleibender Verdienst.

© RdP




Was darf die Kirche kosten. Zwei Meinungen

In der heftigen Debatte um eine weitest gehende Einschränkung der Anwesenheit der katholischen Kirche im öffentlichen Raum, die  die polnische Linke ständig anmahnt, steht die Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“) an vorderster Front. Am 7. August 2014 hat sie wieder einmal das Thema aufgegriffen. Hier die wichtigsten Thesen des Artikels mit dem Titel:

                                         Teure Soutane

Wieviel kosten die Stellen und die Pensionen von Priestern und Nonnen.

Halina Bortnowska, bekannte katholische Publizistin: „In der Kirche gibt es seit Jahrhunderten den Begriff „Diakonie“ für selbstlosen Dienst, kostenlose Seelsorge. Ich befürchte, dass die Vergabe von bezahlten Stellen die Diakonie verdrängen wird.“

Professor Janusz Czapiński, Sozialpsychologe: „Die Laisierung schreitet in Polen voran. Es wird immer mehr Menschen geben, die dem Staat vorwerfen werden, dass er ihr Geld für den Religionsunterricht in den Schulen oder für den Seelsorger im Nachrichtendienst ausgibt.“

Das meiste,  ca. 1,5 Mrd. Zloty (ca. 365 Mio. Euro – RdP) im Jahr, zahlt der Staats für die Gehälter der Religionslehrer. Es gibt keine genauen Angaben aus den letzten Jahren, wie viele von ihnen Geistliche und wie viele Nichtgeistliche sind. 2009 jedenfalls waren von den 18.348 Religionslehrern 15.144 Priester oder Nonnen. Nicht alle hatten eine volle Stelle.

Die Geistlichen machen kein Geheimnis daraus, dass für viele von ihnen die Arbeit in der Schule eine wichtige Einkommensquelle ist. „Wäre nicht der Religionsunterricht, dann müssten wir wohl von der Sozialhilfe leben. Die Bischofskonferenz weiβ das sehr gut“, so ein Kaplan aus der Diözese Kraków.

Auch die Priester vom Militärordinariat der Polnischen Armee haben staatliche Stellen inne. Das sind lukrative Militärposten. Es gibt 200 davon, von denen 113 katholische Geistliche bekleiden. Ein einfacher Priester in Uniform verdient zwischen 3.000 und 5.000 Zloty (ca. 730 bis 1.200 Euro – RdP), ein Propst zwischen 5.000 und 7.000 Zloty (ca. 1.200 bis 1.700 Euro – RdP). Auβerdem zahlen die Steuerzahler  den Strom und die Beheizung von Militärkapellen, und sogar  die Organisten-Stelle.

Sie bezahlen auch die hohen Renten der uniformierten Geistlichen. So bezieht der Generalbischof Sławoj Leszek Głódź 10.000 Zloty (ca. 2.500 Euro – RdP) Rente im Monat, und als er aus dem  Dienst ausschied, bekam er 250.000 Zloty (ca. 61.000 Euro – RdP) Abfindung.  Das sind nun mal die Sätze für Generäle.

Staatliche Stellen bekleiden auch die 16  Seelsorger bei der Staatlichen Feuerwehr. Nach dem Charakter seiner Arbeit fragten wir den Brigadierpfarrer Henryk Betlej von der Woiwodschafts-Feuerwehrkommandantur in Łódź.  „Es kommen Beamte, die mit mir sprechen wollen. Vor nicht langer Zeit kam ein Feuerwehrmann, der sich bei der Räumung von medizinischen Abfällen mit einer Nadel gestochen hat. Er hatte Sorge, ob er sich nicht infiziert hat.“

Seelsorger gibt es auch bei der Polizei, doch im Gegensatz zur Feuerwehr, sind sie Zivilangestellte, haben also  nicht die Privilegien der Uniformträger. Von ihnen gibt es neunzehn. Pfarrer Bogusław Głodowski begleitet Polizisten immer wieder bei Einsätzen, oft in Wohnungen.

Einen Seelsorger für 5.671 Zloty hat auch die Personenschutzabteilung der Regierung. Im Finanzministerium stehen Schreibtisch und Schrank des Seelsorgers der Zöllner, der zugleich auch die Beamten des Finanzamts  betreut. Die Sprecherin des Ministeriums sagte, dass zu seinen Aufgaben auch die Segnung neuer Dienststellen von Zoll- und Finanzamt- gehören.

Mindestens eintausend Priester beschäftigt das staatliche Gesundheitswesen. Im Woiwodschafts-Krankenhaus von Bielsko-Biała gibt es zwei festangestellte Geistliche, und das, obwohl der Direktor die Zulagen der Krankenschwestern beschnitten hat . „Es ist besser mit ihnen einen günstigen Arbeitsvertrag abzuschlieβen, als  sie für jedes Kommen  zu bezahlen, auch nachts“, so Krankenhausdirektor Ryszard Batycki über die Beschäftigung von Geistlichen.

Keine der erwähnten Formen der Unterstützung der katholischen Kirche mit staatlichen Geldern ist in der Verfassung oder im seit 1998 geltenden Konkordat vorgesehen. Sie wurden  aufgrund separater Vorschriften eingeführt. Die staatliche Finanzierung erwähnt das Konkordat nur in drei Fällen.

Bei der Bezuschussung von kirchlichen, der Allgemeinheit dienenden Schulen und Erziehungseinrichtungen.

Weiterhin ist  die Rede davon, dass der Staat es „erwägen“ werde die Päpstliche Theologische Akademie in Kraków und die Katholische Universität Lublin finanziell zu unterstützen.

Auβerdem werde der Staat sich „nach Möglichkeit“ an der Renovierung von sakralen Kulturdenkmälern beteiligen.

Im Zusammenhang mit dem  Religionsunterricht und der Gefangenenseelsorge ist lediglich von der „Organisation“ und „Schaffung von Möglichkeiten“ die Rede. Im Falle der Armeeseelsorge wird die staatliche Beteiligung überhaupt nicht erwähnt. Auch die Verfassung  schweigt über die Finanzierung.

Da sie aber stattfindet, bedarf jede Veränderung in dieser Hinsicht, nach Meinung der Bischofskonferenz, der Zustimmung der Kirche, so z. B. wenn man die staatliche Finanzierung der Seelsorge im Zollwesen einstellen wollte.  Die Auslegung des Art. 27 des Konkordats durch die Bischofskonferenz lautet wie folgt: „Angelegenheiten die neuer oder zusätzlicher Regelungen bedürfen, werden auf dem Wege neuer Abkommen zwischen den vertragschlieβenden Parteien oder in Absprachen zwischen der Regierung der Republik Polen und der Polnischen Bischofskonferenz geregelt“.

Mit dem Artikel in der „Gazeta Wyborcza“ polemisierte Polens auflagenstärkstes Nachrichtenmagazin, das katholische „Gość Niedzielny“ („Der Sonntagsgast“) vom 24. August 2014 unter der Überschrift

                  Die Geizhälse von der „Gazeta Wyborcza“

Die  „Gazeta Wyborcza“ kämpft mit groβem Engagement um einen weltlichen Staat, zu verstehen  als die Verbannung jeglicher Erscheinungsformen des Katholizismus aus dem öffentlichen Leben. Diesmal widmeten sich die weltlichen Fundamentalisten den finanziellen Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Auf der Titelseite der Zeitung vom 7. August 2014 erschien der Artikel „Teure Soutane“ und in der illustrierten Beilage die Reportage „Göttliche Stellen“. Beide Texte beschreiben ausführlich (…) wieviel Geld aus dem Staatshaushalt die bei staatlichen Stellen arbeitenden Geistlichen bekommen. Es ist ein Thema, das oft von anti-kirchlichen Kreisen angesprochen wird und als Beweis dienen soll für die angebliche Habgier der Kirche und die These, dass Polen ein Glaubensstaat sei. Es lohnt sich, diese beiden Artikel unter die Lupe zu nehmen, denn sie entblöβen das Denken der Linken.

Die Journalisten der „Gazeta Wyborcza“ zählen minuziös die Summen auf, mit denen aus dem Staatshaushalt Seelsorger, Religionslehrer usw. entlohnt werden. Diese Angaben erwecken den Anschein, als würde die Zeitung sorgfältig gehütete Geheimnisse aufdecken, derweil handelt es sich um seit Jahren bekannte Tatsachen. Es genügt  in den Bericht der Katholischen Nachrichtenagentur (KAI) aus dem Jahr 2012 mit dem Titel „Die Finanzen der katholischen Kirche in Polen“ reinzuschauen,  in dem noch viel mehr Details zu finden sind, auch über die Unterstützung des Staates durch die Kirche, die  ihn bei der Bewältigung verschiedener Aufgaben im Bereich der sozialen Fürsorge, der Bildung und der Kultur ersetzt. Dieser Gesichtspunkt wird in der „Gazeta Wyborcza“ selbstverständlich nicht erwähnt. (…)

In einem Kommentar zu den beiden Artikeln heiβt es, dass die Kirche „finanziell vom Staat abhängig“ sei, während in Wirklichkeit die Transfers aus dem Staatshaushalt nur wenige Prozent der Einnahmen der Kirche ausmachen.

(In Polen gibt es keine Kirchensteuer, die Kirche finanziert sich hauptsächlich von der Kollekte – Anm. RdP)

Gleichzeitig wird in dem Kommentar suggeriert, die staatliche Bezahlung, die eine Gruppe von Geistlichen bekommt, sei das Ergebnis einer seit Jahren andauernden Expansion der Kirche. Als weitere Belege für diese Ausweitung der Kirche gelten z. B. der Brauch Kruzifixe in öffentlichen Gebäuden anzubringen, oder, dass Ärzte sich auf die Gewissensklausel berufen können. Des Weiteren wird behauptet, dass die Kirche sich nicht an das  Gebot halte, sich nicht in Bereiche einzumischen, die ausschlieβlich dem Staat vorbehalten seien. Ein riesiger Skandal sei zudem, so die Zeitung, dass die Regierung der Bischofskonferenz Gesetzesentwürfe zur Konsultation schickt, die mit der Tätigkeit der Kirche nichts zu tun haben, was ein weiterer Beleg für das „Nachgeben gegenüber den Forderungen der Bischöfe“ sein soll.

Es wird behauptet, dass „der Staat“ Stellen von Geistlichen bezahlt. Das ist nicht wahr. Der Staatshaushalt besteht aus Steuern, die die Bürger zahlen, und wir haben das Recht zu bestimmen wofür sie verwendet werden sollen. In der Demokratie sind wir der Staat, anders als im Kommunismus als der Staat über den Menschen stand. Die Behauptung „der Staat bezahle die Kirche“ verdeutlicht das kommunistische Erbe unserer Linken.

In Polen sind die Katholiken eindeutig in der Mehrheit. In Meinungsumfragen sprechen sich rund 70% der Polen für die Anwesenheit der Religion in der Schule aus, und dafür, dass Religionslehrer an Schulen arbeiten. Die Linke schockiert damit, dass deren Gehälter angeblich pro Jahr 1,5 Mio. Zloty (ca. 365 Mio. Euro – RdP) verschlingen. In Wirklichkeit sind es 1,1 Mio. Zloty (ca. 270 Mio. Euro – RdP). Zudem sollte man wissen, dass unter den  35.500 Religionslehrern mehr als 18.000 keine Geistlichen sind.

Doch etwas anderes ist noch wichtiger. Es stimmt nicht, dass der Staat, in dem er die Gehälter der Religionslehrer zahlt, die katholische Kirche bezuschusst. Der Staat erfüllt den Willen der Bürger, die den Wunsch äuβern, dass der Religionsunterricht in der Schule anwesend sein soll , weil er der Bildung und Erziehung der Jugend dient. Wie alle anderen Lehrer verrichten die Religionslehrer, ob Geistliche oder nicht, eine Arbeit für die sie entlohnt werden.

Die wütenden Attacken gegen den Religionsunterricht an den Schulen werden nicht aus finanziellen sondern aus ideologischen Gründen geritten. Die Linke weiβ, dass im Religionsunterricht das christliche Wertesystem vermittelt wird.

Die „Gazeta Wyborcza“ widmet ihre Aufmerksamkeit auch der Arbeit der Seelsorger. Sie ist empört darüber, dass sie für den Dienst, den sie in der Armee oder in Krankenhäusern verrichten, Gehälter bekommen. In Wirklichkeit geht es um ihre Anwesenheit in verschiedenen öffentlichen Einrichtungen. Doch, ähnlich wie in den Schulen, ist diese Anwesenheit erwünscht.

In Krankenhäusern und Pflegeheimen arbeiten etwa 1.500 Seelsorger und es sind die Kranken, die einen Kaplan im Krankenhaus haben wollen. Er begleitet Leidende, Sterbende, spendet ihnen die Sakramente, hilft Angst und Schmerz zu ertragen, bereitet sie auf dem Tod vor. Es fällt schwer, sich einen Katholiken vorzustellen, der in einem Hospiz ohne die Begleitung eines Geistlichen aus dem Leben scheidet.

Die weltlichen Fundamentalisten können es nicht ertragen, dass die Armee 200 Seelsorger einstellt, wovon 113 katholische Seelsorger sind. Soldaten in Afghanistan, oder früher im Irak, unterstreichen dagegen immer wieder, wie wichtig ihnen die Anwesenheit eines Priesters sei. Er zelebriert die heilige Messe, nimmt Beichten von Soldaten ab, die jeden Augenblick fallen können. Gefängniskaplane wiederum verrichten mit der Seelsorge eine riesige Resozialisierungsarbeit, dank der die Gefangenen oft dem Verbrechen abschwören.

Es ist wichtig festzustellen, dass der Staat pro Jahr 20 Mio. Zloty (ca. 4,8 Mio. Euro – RdP) für die Bezahlung der Seelsorger in Armee, Gefängnissen und Krankenhäusern ausgibt. Gut 26 Mio. Zloty (ca. 6,3 Mio. Euro – RdP) kostete das Aussetzten der Maut an vier August-Wochenenden 2014 auf der Autobahn A1 von Warschau nach Gdańsk, weil die Mautstellen den Andrang nicht bewältigen konnten.

Wer den Katholiken die Seelsorge im Krankenhaus oder in der Armee verweigert, der verletzt das in der Verfassung verankerte Prinzip der freien Religionsausübung. (…).

Die Kirche gibt viel mehr als sie bekommt. Der finanzielle Einsatz der Kirche zugunsten des Staates und der Allgemeinheit beläuft sich, rund gerechnet, auf mehrere Milliarden Zloty.

Allein die Caritas Polska unterstützt Arme, Arbeitslose, Kranke und kinderreiche Familien mit Leistungen in Höhe von 480 Mio. Zloty (ca. 117 Mio. Euro – RdP) pro Jahr. Das ist so viel, wie die Kirche vom Staat für alle durch sie übernommenen (seelsorgerischen bzw. den Religionsunterricht an Schulen betreffenden – Anm. RdP) Aufgaben erhält . Doch dabei handelt es sich  nur um einen Teil  ihrer sozialen Aktivitäten. Neben der Caritas Polska gibt es ja noch weitere 44  Caritas-Verbände in den Diözesen, und darüber hinaus hat fast jede Pfarrei  eine Caritas-Station. Allein die Caritas der Diözese Tarnów leistete im Jahr 2010 Hilfe für Bedürftige im Wert vom 30 Mio. Zloty (ca. 7,5 Mio. Euro – RdP). Und Diözesen gibt es, wie gesagt, 44 in Polen. (…)

In den mehr als 500 von katholischen Einrichtungen getragenen Schulen lernen einige Zehntausend Kinder und Jugendliche. Frauen- und Männerorden betreiben in Polen knapp zweitausend verschiedene  soziale Einrichtungen, die Kranken, Alten, Sterbenden und unter Sucht leidenden Menschen helfen. Entsprechend der Gesetzgebung bekommen viele von ihnen staatliche oder kommunale Gelder, aber niemals decken diese Zuwendungen alle Kosten. Niemand fragt dort die Bedürftigen nach ihrem Taufschein. Kirchliche Hochschulen, die vom Staat, wie alle anderen Hochschulen, mitfinanziert werden, dienen der ganzen Gesellschaft. Ihre Absolventen, vor allem die der Katholischen Universitär Lublin, stellten in der Legislaturperiode 2007-2011 beinahe 10% der Sejm-Abgeordneten.

Die Kirche gibt auch riesige Summen  für den Erhalt von fast elftausend sakralen Architekturdenkmälern aus. Landesweit sind  das etwa 1 Mrd. Zloty (ca.245 Mio. Euro – RdP) pro Jahr. Derweil bezuschusste der Staat diese Arbeiten, z.B. im Jahr 2010, mit sage und schreibe 26,6 Mio. Zloty (ca. 6,5 Mio. Euro – RdP).  Auβerdem sollte mit aller Deutlichkeit unterstrichen werden, dass alle kirchlichen Einrichtungen jeden vom Staat erhaltenen Zloty abrechnen müssen.

Die Linke behauptet allen Ernstes, dass die Zuwendungen für die Kirche aus dem Staatshaushalt ein Beweis dafür seien, dass sich Polen in einen Glaubensstaat verwandle. Gemessen an dem, wie das Problem anderswo gehandhabt wird, liegen diese Vorwürfe völlig daneben. In Polen nämlich zählen die öffentlichen Zuwendungen für die Kirche zu den niedrigsten In Europa.

Hier einige ausgewählte Beispiele. In Belgien und in dem völlig verweltlichten Tschechien werden die Gehälter und die Renten der geistlichen vom Staat bezahlt. In Dänemark sind Geistliche Staatsbeamte und werden dementsprechend entlohnt. Die orthodoxe Kirche in Griechenland hat den Status einer „herrschenden Religion“ und ihre Tätigkeit wird weitgehend vom Staat finanziert. Das gilt für die Bischofsgehälter, für die Bezahlung der Priester in den Pfarreien -, für die Diakone und für alle weltlichen Personen, die die Kirche beschäftigt. Von alldem kann die Kirche in Polen nur träumen.

In allen EU-Ländern wird die Seelsorge in der Armee, im Strafvollzug und im Gesundheitswesen vom Staat finanziert. Weitverbreitet sind Steuerermäβigungen für kirchliche Einrichtungen, in sechs Staaten gilt das auch für die kirchliche Gewerbetätigkeit. In Österreich sind alle Schenkungen zugunsten der Kirchen steuerfrei. In allen EU-Staaten werden konfessionsgebundene Schulen gänzlich oder fast  ganz vom Staat finanziert. In England ist die Religion an staatlichen Schulen ein Pflichtfach. In der Slowakei finanziert der Staat teilweise die katholische Caritas und die evangelische Diakonie. Gelder aus kirchlichen Sammlungen und Gewinne aus kirchlicher Gewerbetätigkeit sind steuerfrei. Befreit von Steuern und Abgaben sind alle kirchlichen Gebäude und Friedhöfe. In Ungarn werden kirchliche Krankenhäuser genauso finanziert wie staatliche. Sogar im laizistischen Frankreich unterhält der Staat, und bezahlt die Renovierung, aller Kirchengebäude, die vor 1905 errichtet wurden.

Unterstellungen, dass der Staat die Kirche finanziere, sind Bestandteil einer von der Linken geführten Kampagne. Die Finanzen dienen hier nur als Vorwand. In der Tat geht es um die Vertreibung der Kirche aus dem öffentlichen Raum, weil sie einer weltanschaulich-sittlichen Revolution im Wege steht, die die Linke in Polen umzusetzen versucht.

RdP

 

 




Meister des roten Charmes

Am 9. Januar 2015 starb Józef Oleksy.

Er kam stets wohlgenährt, jovial, gut gelaunt daher, umgeben von der Aura eines herzensguten Lebemannes. Der sympathische Genussmensch Józef Oleksy verkörperte geradezu perfekt die chamäleonhafte Fähigkeit vieler einstiger kommunistischer Apparatschiks sich der neuen Umgebung anzupassen. Schelmisch mit den Augen zwinkernd behauptete er sogar, selbst ein Opfer des Kommunismus zu sein.

Józef Oleksy wurde 1946 in Nowy Sącz geboren, in einer Gegend, die auch heute als eine Hochburg  des Glaubens und traditioneller sozialer Strukturen gilt. Der Vater war Tischler, die Mutter Näherin. Der kleine Józio, eines von fünf Kindern, war mit Leib und Seele Messdiener und kam nach der Grundschule, mit 14 Jahren, auf ein Knabenseminar in Tarnów für Jungs die später Priester werden wollten. Dort das Abitur zu machen, war ihm nicht gegönnt, denn 1963, eine Woche vor Beginn des neuen Schuljahres, schlossen die kommunistischen Behörden das Knabenseminar. Daher rührte sein selbstzuerkannter „Opferstatus“.

Das Abitur legte er an einem staatlichen Gymnasium in Tarnów ab und ging 1964 nach Warschau. Dort, ausgestattet mit Pluspunkten für seine soziale Herkunft als Arbeitersohn, behauptete er sich bei der Aufnahmeprüfung (14 Kandidaten auf einen Studienplatz) zur elitären Fakultät für Auβenhandel an der besten Wirtschafts-Universität des Landes, der Hochschule   für Planung und Statistik (SGPiS). Wer dorthin gelangte und sich geschickt anstellte, konnte sich seine Karriere bereits ausmalen: einen Posten im Ministerium für Auβenhandel oder in einem der staatlichen (andere gab es nicht) Auβenhandelsunternehmen, Westreisen, Devisenspesen, ein gutes Leben, aufgebaut auf dem Schwarzmarktkurs des Dollar.

Natürlich war das alles nicht ohne Parteimitgliedschaft und enge Kooperation mit der Staatssicherheit zu haben. „Ich war ein Opportunist“, gestand Oleksy selbstkritisch in seinem letzten Zeitungsinterview Ende Dezember 2014, auf dem beigefügten Foto war er schon sichtlich vom Tode gezeichnet. Der verhinderte Priester war umgeschwenkt, wurde im Studium kommunistischer Jugendfunktionär, trat 1969 in die Partei ein.

Ende der 90er Jahre kam heraus, dass er 1970 eine Verpflichtungserklärung beim Geheimdienst unterschrieben hatte, den er bis 1978 mit Informationen belieferte, über seine Umgebung, über seine Auslandsreisen in den Westen und über Leute, vor allem polnische Emigranten, die er dort traf. Als er ein Stipendium im elsäβischen Straβburg bekam, soll er die Stadt für eine künftige Einnahme durch Warschauer-Pakt-Truppen auskundschaftet haben.

Oleksy war ein klassischer Apparatschik, arbeitete in den Leitungsstrukturen der kommunistischen Studentenorganisation, ab 1977 im Zentralkomitee der herrschenden kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Dort erlebte er, gut versorgt, die stürmische Zeit der ersten Solidarność zwischen August 1980 und Dezember 1981, die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981. Mitte 1987 wurde er in Anerkennung seiner treuen Dienste Parteichef  der kleinen Woiwodschaft (Provinz) Bielsko Biała im Osten des Landes.

„Opportunist“ zu sein bedeutete für Oleksy sich als Parteifunktionär nicht allzu weit aus dem Fenster zu lehnen. Unrecht geschehen zu lassen und wegzuschauen, nach Oben zu ducken und nach unten möglichst wenig zu treten. Das war der Typus des im Westen damals so geschätzten „liberalen“ Kommunisten.

Zusammen mit den KP-„Jungfunktionären“ Leszek Miller (Jg. 1946), Włodzimierz Cimoszewicz (Jg. 1950) und Aleksander Kwaśniewski (Jg. 1954) verwandelte Oleksy die ausgediente polnische KP, nach dem Zusammenbruch im Jahre 1989, Anfang 1990 in eine „Sozialdemokratie“.

Die vier knüpften noch während der Gespräche am Runden Tisch (Februar-April 1989) gute Kontakte zu den führenden linken Bürgerrechtlern und Dissidenten, wie Adam Michnik, Jacek Kuroń, Bronisław Geremek u. v. a. m., die auf der Seite der Solidarność damals den Ton angaben. Sie stellten den neuen „Sozialdemokraten“ und ihrer Anhängerschaft aus alten Kadern, die das Parteibuch gegen das Scheckbuch eintauschten, den Freibrief in die neue Wirklichkeit aus.

Sie sollten die Verbündeten sein im Kampf gegen den angeblich unbändigen Teufel des polnischen Nationalismus, Antisemitismus, des katholischen Fundamentalismus, den vor allem Adam Michnik und seine Gazeta Wyborcza bis heute unablässig an die Wand malen. Diese, mal sehr enge, mal lockere Allianz, durchlebte verschiedene Stadien, aber sie lebt bis heute.

Schon im September 1993 waren die (Post)Kommunisten wieder an der Regierung. Die Unstimmigkeiten im Solidarność-Lager und der tiefe wirtschaftliche Fall des Landes verhalfen ihnen damals bei den Wahlen zur Macht. Oleksy wurde Parlamentspräsident und im März 1995 Regierungschef.

Mit Lech Wałęsa, dem damaligen Staatspräsidenten, befand er sich in einem Konflikt, ihm war Oleksy nicht folgsam genug.  Laut Verfassung ernannte in jener Zeit der polnische Staatspräsident die Minister für Äuβeres, Inneres und Verteidigung. Der Ministerpräsident hatte das zu akzeptieren.

Mitte November 1995 verlor Wałęsa die Präsidentschaftswahlen für eine zweite Amtsperiode und sollte nur noch bis zur Vereidigung seines Nachfolgers, des Postkommunisten Aleksander Kwaśniewski, am 23. Dezember 1995 amtieren.

Vier Tage zuvor, am 19. Dezember 1995, lieβ der von Wałęsa seiner Zeit berufene Innenminister Milczanowski eine politische Wasserstoffbombe hochgehen. Er erstattete bei der Staatsanwaltschaft Anzeige gegen Oleksy wegen Spionage für Russland und erläuterte den Sachverhalt zwei Tage später im Parlament. Oleksys Deckname soll „Olin“ gewesen sein.

Oleksy musste zurücktreten. Sein Nachfolger wurde Włodzimierz Cimoszewicz. Wie so oft in Polen, blieb jedoch auch die Oleksy-Affäre unaufgeklärt. Jedenfalls hat die Staatanwaltschaft das Verfahren gegen ihn im April 1996 eingestellt, sprach von „ernsthaften Verfehlungen des Staatsschutzes“ und einer „gemeinen politischen Provokation“. Nur, es waren Oleksys Parteifreunde in der Staatsanwaltschaft, die das sagten.

Die Postkommunisten mussten 1997 die Macht an das Wahlbündnis Solidarność abgeben, an eine bunt zusammengewürfelte Allianz der Gewerkschaft Solidarność und einiger Dutzend mit ihr kooperierender liberaler und konservativer Kleinparteien (Ministerpräsident Jerzy Buzek). 2001 gewannen Postkommunisten  noch einmal triumphal die Wahlen und regierten Polen bis zum Herbst 2005 (Ministerpräsident Leszek Miller). Seither befindet sich die postkommunistische Allianz der Demokratischen Linken im Niedergang.

Józef Oleksy hat sich von der Olin-Affäre politisch nie wieder erholt. Er wurde zwar noch 2004 für kurze Zeit Innenminister im Kabinett Miller, dann noch einmal Parlaments- und Parteivorsitzender, sein politischer Einfluss aber war mehr als gering. Nach den von den Postkommunisten  dramatisch verlorenen Wahlen von 2005 ist er nicht einmal Abgeordneter gewesen, trat nur noch als politischer Kommentator  in Erscheinung.

Dann, im März 2007, wurden Tonaufnahmen publik, in denen Oleksy, im ungezwungenen Gespräch mit dem postkommunistischen Geschäftsmann Aleksander Gudzowaty, hemmungslos über seine Parteikollegen, u. a. den damals schon ehemaligen Staatspräsidenten Kwaśniewski, als Steuerhinterzieher, Schmiergeldempfänger und Dummköpfe herzieht. Er wurde daraufhin aus der Partei ausgeschlossen. 2010 hat man ihm vergeben und er durfte wieder eintreten.

Politisch bedeutungslos, doch stets freundlich, guter Dinge, leicht ironisch und redegewandt, wurde OIeksy in seinen letzten Lebensjahren gern von den Medien nach seiner Meinung gefragt, vor allem weil er nie um eine gute Pointe verlegen war. Sich dessen bewusst, dass er mit seinem Habitus und der hohen Tonlage seiner monotonen Stimme nur noch eine Soutane bräuchte, um einen polnischen Dorfpfarrer abzugeben, wie er im Buche steht, wurde Oleksy zuletzt nicht müde zu beteuern, wie eng verbunden er sich mit der katholischen Kirche fühle.

Im letzten Interview gefragt, ob er sich ein weltliches Begräbnis wünsche, antwortete er prompt: „Selbstverständlich ein kirchliches! Es soll die Klammer sein, die mein Leben zusammenhält.“

Bevor Józef Oleksy auf dem Warschauer Powązki-Friedhof bestattet wurde, fand in der Kathedrale der Polnischen Armee am Rande der Warschauer Altstadt ein Staatsakt statt, an dem u. a. Staatspräsident Komorowski, Ministerpräsidentin Kopacz und EU-Rastpräsident Tusk teilnahmen. Der Charme des Appratschiks wirkte bis zuletzt.

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Die älteste Polin

Am 7. Januar 2015 starb Łucja Sobolewska.

Sie wurde knapp 114 Jahre alt.

Łucja Sobolewska wurde 1901 im Dorf Kosobuszczyzna in der Nähe von Wilno/ Wilna geboren. Damals befand sich der Ort im russischen Teilungsgebiet Polens. Wilno und das Wilnaer Land, wo die Polen in jener Zeit bis zu 70% der Bevölkerung ausmachten, wurde nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918, nach 123 Jahren der Teilungen, ein Bestandteil des polnischen Staates.

Frau Sobolewska erlebte 1939 die Besetzung ihrer Heimat durch die Sowjets, einige Wochen später die Übergabe des Gebietes an Litauen, im Juni 1940 die Einverleibung in die Sowjetunion, den deutschen Einmarsch im Juni 1941, die Rückkehr der Sowjets im Sommer 1944. Dass sie den Massenmorden und Deportationen der Sowjets und der Deutschen entkam, betrachtete sie als ein Wunder. „Einige Male mussten wir tagelang im Wald übernachten“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet wieder sowjetisch, war Bestandteil der Litauischen Sowjetrepublik.

Das kleine Gut, auf dem sie mit ihren Eltern und zwei Schwestern damals wirtschaftete, nahmen die Sowjets ihnen weg und machten es zum Bestandteil einer Kolchose. Dort mussten die Sobolewskis arbeiten. Ab 1945 wurden etwa 200.000 Polen, die den Krieg überlebt hatten, über die Grenze abgeschoben. Łucja Sobolewska kam 1957, mit der zweiten Ausweisungswelle (etwa 50.000 Polen waren davon betroffen), aus Sowjet-Litauen nach Szczecin.

Bis zu ihrem 80. Lebensjahr arbeitete sie als Aushilfskraft, sie hatte nie geheiratet und wohnte nach dem Tod der Schwestern alleine. Im Mai 2014 feierte sie ihren 113. Geburtstag. Szczecins Oberbürgermeister Piotr Krzystek gratulierte persönlich mit einem Blumenstrauβ und einem Präsentkorb. Die Jubilarin sagte damals den zahlreich in ihrer Wohnung erschienen Medienvertretern, das schönste Geschenk seien die Menschen in ihrer Umgebung, die sich um sie kümmern.

In Polen leben gut viertausend Menschen, die älter als einhundert Jahre sind. Nach Frau Sobolewskas Tod ist der älteste Pole 109 Jahre alt.

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Solidarność-Legende

Am 30. Dezember 2014 starb Marian Jurczyk.

Er war kein Volkstribun, eher ein Macher mit Kanten, an denen sich viele gestoβen haben, und einer der ganz Groβen in der Gründergeneration der „Solidarność“. Jurczyk, der Mann der ersten Stunde, wurde gefeiert, geachtet, gefürchtet. Er war aber auch ein Getriebener, von Ereignissen über die er die Kontrolle verloren hatte und von Herausforderungen, die ihn als einen Politiker der nachkommunistischen Zeit manchmal überfordert haben.

Mann der ersten Stunde

Marian Jurczyk wurde 1935 im Dorf Karczewice bei Częstochowa/Tschenstochau geboren. In dieser waldreichen Gegend gab es im Zweiten Weltkrieg eine rege Partisanentätigkeit. Am 8. September 1944 gelang es in der Nähe des Dorfes einer Kampfeinheit der Heimatarmee (Armia Krajowa) eine knapp 20 Mann zählende Patrouille der deutschen Gendarmerie zu beseitigen, die auf dem Weg zu einer Strafaktion war.

Auf der Suche nach Partisanen drangen kurz darauf deutsche Gendarmen in das Haus der Jurczyks ein. Marian sollte einen Strick holen, damit sie seinen Vater hängen konnten. Dazu kam es nicht, aber die tiefe Abneigung gegen Deutsche und Deutschland konnte er sein Leben lang nicht überwinden.

Wie Zehntausende andere Bauernsöhne suchte Jurczyk in der Zeit der forcierten, oft brutalen, kommunistischen Nachkriegsindustrialisierung sein Glück in der Groβstadt. Er kam 1954 ins ferne Szczecin/Stettin und ging zur Werft, war Kranführer, Schweiβer, Lagerverwalter.

Der miserable Lebensstandard, die kargen Löhne und die kurz vor Weihnachten, am 12. Dezember 1970, eingeführte beträchtliche Lebensmittelpreiserhöhung lösten in den polnischen Küstenstädten eine Arbeiterrevolte aus. An den Generalstreik in Szczecin schlossen sich mehrtägige schwere Unruhen an, bei denen das Parteigebäude in Flammen aufging. Es gab 16 Tote und knapp 180 Verletzte. In Gdańsk/Danzig starben 6 Menschen, in Gdynia/Gdingen 18, in Elbląg/Elbing kam 1 Person ums Leben. 5000 Polizisten und 27.000 Soldaten waren an der Küste im Einsatz. An diesem 20. Dezember 1970 musste Parteichef Władysław Gomułka zurücktreten, an seine Stelle trat Edward Gierek.

Jurczyk war damals Mitglied des Streikkomitees der Werft und blieb der Belegschaft als guter Redner und Mann der Tat in Erinnerung.

Zehn Jahre später, im Sommer 1980, waren die meisten Streikführer vom Dezember 1970 tot. Bogdan Gołaszewski hatte man bald nach dem Streik in seiner Wohnung tot aufgefunden. Todesursache: Gasvergiftung. Adam Ulfik wurde von zwei Unbekannten in seiner Wohnung überfallen. Sie betäubten ihn mit Chloroform und drehten die Gashähne auf. Ulfik wachte noch rechtzeitig auf und konnte das Fenster öffnen. 1976 kam er unter mysteriösen Umständen ums Leben. Die Todesliste umfasst noch weitere Namen. Der Chef des Streikkomitees von 1970, Edmund Bałuka, überlebte wahrscheinlich nur deswegen, weil er nach Skandinavien flüchten konnte.

Als Chef des Überbetrieblichen Streik-Koordinationskomitees (Międzyzakładowy Komitet Strajkowy – MKS), in dem 340 streikende Betriebe aus Szczecin und Umgebung vertreten waren, hegte Jurczyk im Sommer 1980 ein grundsätzliches Misstrauen, sowohl gegen oppositionelle Warschauer Intellektuelle, die sich als Berater anboten, als auch gegen westliche Journalisten. Beide Gruppen wurden im August 1980 in die Szczeciner Werft, wo sich der Sitz des MKS befand, nicht hinein gelassen, während sie in Gdańsk, wo Lech Wałęsa das Sagen hatte, hochwillkommen waren.

Am 30. August 1980, einen Tag früher als Wałęsa in Gdańsk, unterschrieb Jurczyk im Namen des MKS Szczecin Vereinbarungen mit Vertretern der kommunistischen Regierung. In dem Szczeciner Dokument, das u.a. die Gründung der „Solidarność“ zulieβ, war keine Rede von der „führenden Rolle der Partei“, die die freie Gewerkschaft respektieren werde. In den Danziger Vereinbarungen hingegen war das der Fall.

Hierin lag der Grund für die erste Missstimmung zwischen Jurczyk und Wałęsa.

Der Szczeciner galt als der Hardliner, scheute, wenigstens in Worten, die Konfrontation mit den Kommunisten nicht. Den Kult um Wałęsa betrachtete er als einer demokratischen Gewerkschaft unwürdig. Die Intellektuellen Berater Wałęsas: Jacek Kuroń, Adam Michnik, Bronisław Geremek, Tadeusz Mazowiecki u.e.m. waren, seiner Meinung nach, politische Intriganten, die die „Solidarność“ den Arbeitern entreiβen und sie für sich benutzen wollten.

Jurczyk fühlte sich Wałęsa ebenbürtig und war sein wichtigster Gegenspieler. Während des I. Landesweiten Delegiertenkongresses der „Solidarność“ im Herbst 1981 verzeichnete er bei der Vorsitzenden-Wahl das zweitbeste Ergebnis (201 Stimmen = 24,01%) nach Wałęsa (462 Stimmen = 55,2%).

Haft und Schicksalsschlag

Nach Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde Jurczyk zunächst interniert und anschlieβend, im Dezember 1982, vorläufig festgenommen. Zusammen mit einigen anderen „Solidarność“-Aktivisten sollte ihm, einem „Extremisten“, der angeblich die kommunistische Staatsordnung „gewaltsam beseitigen“ wollte, der Prozess gemacht werden. Dazu kam es nicht, Jurczyk fiel im Juli 1984 unter eine Amnestie und kam frei.

Während der Haftzeit, am 5. August 1982, begingen sein 23jähriger Sohn Adam und die Schwiegertochter Dorota Selbstmord. Die Vater-Sohn-Beziehung soll von gegenseitiger Kälte geprägt gewesen sein. Als Jurczyk sich von seiner ersten Frau scheiden ließ, war sein Sohn noch ein Kleinkind. Nicht einmal zur Hochzeit Adams soll der Vater erschienen sein.

Adam sei eine labile Persönlichkeit gewesen, alkoholabhängig verkehrte er in der Drogenszene. Dorota lernte er während einer Entziehungskur in der Psychiatrie kennen, wo sie als suizidgefährdet in Behandlung war. Die beiden stritten pausenlos miteinander, trennten sich, um sich dann wenig später ewige Liebe zu schwören.

Während eines Streits sprang Dorota um ca. 1.30 Uhr in der Nacht aus dem Fenster der gemeinsamen Wohnung und starb einige Stunden später im Krankenhaus. Adam sprang am Abend des selben Tages aus der Wohnung seines Freundes, der sich gerade in der Küche aufhielt, um Tee zu machen. Er nahm sich das Leben, weil er sich den Tod seiner geliebten Frau nicht verzeihen konnte.

Zu diesem Ergebnis kam eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung aus dem Jahr 2007. Beweise oder Indizien für einen, womöglich politisch motivierten Mord der Staatssicherheit, fand man nicht.

1982 jedoch lag dieser Verdacht sehr nahe. Jurczyk wurde zur Beerdigung in Handschellen gebracht. Mit Mühe und Not gelang es der Polizei ihn wieder vom Friedhof abzutransportieren. Schwere Ausschreitungen erschütterten Szczecin bis spät in die Nacht.

Erzrivale, Senator, Bürgermeister

Seinem Hardliner-Image treu, lehnte Jurczyk die Verhandlungen des Runden Tisches die von Februar bis April 1989 stattfanden, ab. Ebenso die damals ausgehandelte Neuzulassung der „Solidarność“. Der damit verbundene „Neuanfang“ beseitigte die 1981 existierenden Gremien und machte Wałęsa, bis zu einem Kongress (der jedoch erst im April 1990 stattfinden sollte), zu einem Quasi-„Alleinherrscher“, der über die Zusammensetzung der provisorischen Gremien entschied. Für den Erzrivalen Jurczyk war da natürlich kein Platz.

Jurczyk gründete mit Gleichgesinnten ein „Übereinkommen für Demokratische Wahlen in der »Solidarność«“ und später eine neue Gewerkschaft, die „Solidarność 80“, deren Chef er bis 1994 war. Trotz mehrerer Abspaltungen, hat sie heute noch etwa 100.000 Mitglieder.

Jurczyk wurde 1997 für die Woiwodschaft Westpommern in den Senat (eine der beiden Kammern des polnischen Parlaments) gewählt. Der damaligen Wahllosung auf seinen Plakaten („Nur er hat sich nicht verkauft“) vermochte er jedoch nicht treu zu bleiben, als er ausgerechnet eine Allianz mit den Postkommunisten einging, um sich im November 1998 vom Szczeciner Stadtrat zum Oberbürgermeister wählen zu lassen. Dieses Amt bekleidete er zweimal: von November 1998 bis Januar 2000 (das Verfassungsgericht entschied damals, dass ein Parlamentsmandat und ein kommunales Mandat gleichzeitig von ein und derselben Person nicht ausgeübt werden dürfen; Jurczyk verlieβ daraufhin das Rathaus) und von November 2002 bis Dezember 2006 (seit 2002 werden die Oberbürgermeister in Polen direkt gewählt).

In seine erste Amtsperiode als Oberbürgermeister fiel seine umstrittene Entscheidung, den von seinem Vorgänger unterzeichneten Vertrag mit der deutschen Firma „Euroinvest Saller“ über den Bau eines Handelszentrums, mit sofortiger Wirkung aufzulösen. Die Firma ging vor Gericht und bekam ihre erbrachten Vorleistungen samt Zinsen zurück. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin gegen Jurczyk und seine Mitarbeiter Anklage wegen Nachlässigkeit im Amt und Verursachung eines Schadens in großer Höhe. Das Urteil für Jurczyk (zwei Jahre Haft auf Bewährung) wurde 2009, in letzter Instanz, in einen Freispruch umgewandelt.

Nichtspitzel-Spitzel

Wie alle polnischen Politiker musste auch Jurczyk unter Eid versichern, dass er kein Zuträger der Staatssicherheit gewesen ist. Das tat er 1997, als er in den Senat gewählt wurde. Die Stasi-Erklärungen der Politiker wurden damals auf ihren Wahrheitsgehalt von einem sog. Anwalt des Öffentlichen Anliegens und seiner Behörde überprüft. Einen allgemeinen Zugang zu den Stasi-Akten gab es damals noch nicht.

Später, bei der Überprüfung der Archive, kamen Akten zutage, die zeigten, dass Jurczyk im Juni 1977 eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hatte. Er fungierte als IM „Święty“ („Der Heilige“), quittierte Geldbeträge, u.a. wie folgt: „Ich bestätige den Erhalt von 1000 Zloty von einem Mitarbeiter der Staatssicherheit, als Entgelt für die Zusammenarbeit und die Weitergabe von Informationen über Józef Szymański“. Szymański war Mitglied des Streikkomitees im Dezember 1970.

Die Stasi benutzte Jurczyk auch, um zu erfahren auf welchen Wegen die antikommunistische Zeitschrift „Szerszeń“ (“Die Hornisse“) nach Polen gelangte. Herausgeber war Edmund Bałuka, der nach Schweden geflüchtete Streikchef der Werft im Dezember 1970, 1979 brach Jurczyk seine Kontakte zur Stasi ab und wurde bald darauf selbst Objekt der Bespitzelung.

Der Anwalt des Öffentlichen Anliegens erhob gegen Jurczyk Anklage wegen so genannter Lustrationslüge. Die Höchststrafe bei diesem Vergehen: das Verbot zehn Jahre lang öffentliche Ämter zu bekleiden. Im November 1999 und März 2000 wurde Jurczyk in zwei Instanzen schuldig gesprochen. Das Oberste Gericht ordnete jedoch eine Wiederaufnahme des Verfahrens an. Ergebnis: wieder zwei Schuldsprüche im März und Juni 2001.

Jurczyks Verteidiger beantragten daraufhin die Kassation des Urteils in allen Punkten. Das Oberste Gericht folgte im Oktober 2002 diesem Antrag: Jurczyk sei zur IM-Tätigkeit gezwungen worden, seine Berichte seien „unbrauchbar“ gewesen und deswegen könne man ihn nicht als einen Stasi-IM betrachten.

Dieses in Polen sehr umstrittene Urteil war ein Freispruch zweiter, wenn nicht gar dritter Klasse. Zwar gewann Jurczyk einen Monat später, im November 2002, in Szczecin die Oberbürgermeisterwahlen, aber der Makel des Stasi-Spitzels lastete schwer auf ihm.

Beim Versuch 2006 wiedergewählt zu werden, bekam er nur noch knapp 5% der Stimmen. Verbittert und vereinsamt zog er sich daraufhin in seinen Schrebergarten zurück, wo er in einer winterfesten Laube sein Leben fristete.

Marian Jurczyk starb am 30. Dezember 2014 in Szczecin. Staatspräsident Komorowski verlieh ihm posthum das Komturkreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).

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Foto-Chronist der Solidarność

Am 30. Dezember 2014 starb Bogusław Nieznalski.

Einige seiner Fotos sind Ikonen der Solidarność-Bewegung geworden.

Bogusław Nieznalski wurde 1948 in Sopot/Zoppot. Nach einer Ausbildung zum Mechaniker studierte er an der Abendfakultät der Technischen Hochschule in Gdańsk/Danzig, wo er anschlieβend bis 1990 als technischer Assistent arbeitete.

Der miserable Lebensstandard, die kargen Löhne und die kurz vor Weihnachten 1970, am 12. Dezember, eingeführte beträchtliche Lebensmittelpreiserhöhung, hatten eine Arbeiterrevolte in den polnischen Küstenstädten ausgelöst. An den Generalstreik in Gdańsk und im benachbarten Gdynia/Gdingen schlossen sich mehrtägige schwere Unruhen an, bei denen das Parteigebäude in Flammen aufging. Es gab 24 Tote. In Szczecin/Stettin starben 16 Menschen, in Elbląg/Elbing 1 Person. 5.000 Polizisten und 27.000 Soldaten waren an der Küste im Einsatz. Am 20. Dezember 1970 musste Parteichef Władysław Gomułka zurücktreten, an seine Stelle trat Edward Gierek.

Nieznalski hielt sich am 15. Dezember 1970 vor dem brennenden Parteigebäude auf. Er flüchtete vor den Polizeischüssen und beobachtete von den alten Befestigungen, oberhalb des Zentrums, das Geschehen. Damals fasste er den Entschluss, die Wirklichkeit im kommunistischen Polen fotografisch zu dokumentieren. Ein Onkel brachte ihm das Fotografieren bei.

Als Mitte August 1980 eine neue Streikwelle, diesmal ganz Polen erfasste, lief Nieznalski mit seinem Fotoapparat zum Tor Nr. 2 der Gdansker Werft. Dort traf er einen Schulkameraden, der mit einigen anderen Brotlaibe in den vom Besatzungsstreik erfassten Betrieb schleppte. Der Schulkamerad hieβ Bogdan Borusewicz und war einer der Begründer der illegalen Freien Gewerkschaften in Gdańsk. Dank ihm wurde Nieznalski vom Arbeiter-Ordnungsdienst aufs Gelände gelassen und durfte fotografieren. So wurde Nieznalski zum offiziellen Foto-Chronisten der „Solidarność“.

Er dokumentierte die Unterzeichnung der Vereinbarungen von Gdańsk am 31. August 1980 durch Lech Wałęsa mit dem, inzwischen schon legendären, riesigen Papst-Kugelschreiber. Seine Fotos zeigen alle Phasen der Errichtung des Gdansker Denkmals der Drei Kreuze für die im Dezember 1970 gefallenen Arbeiter. Nieznalski war anwesend bei der ersten Begegnung Wałęsas und einer „Solidarność“-Delegation mit Papst Johannes Paul II. im Vatikan im Januar 1981. Seine aussagestarken Bilder führen alle wichtigen Momente in der Geschichte der „Solidarność“ bis Anfang der 90er Jahre vor Augen.

Nach Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde er mehrere Male bei Protesten und Unruhen festgenommen, einmal sogar, während der heftigen Demonstrationen am 31. August 1982, angeschossen.

Seine Fotos gingen um die Welt, wurden auf gut zweihundert Ausstellungen gezeigt. Nieznalski bekam viele Auszeichnungen, stand lange Jahre dem Gdansker Ableger des Verbandes Polnischer Kunstfotografen vor. Staatspräsident Lech Kaczyński verlieh ihm 2008 das Offizierskreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).

Hier kann man Bogusław Nieznalskis eindrucksvolle Fotos sehen:

Internet-Ausstellung des Radiosenders Radio Maryja

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Dichter-Koryphäe

Am 26. Dezember 2014 starb Stanisław Barańczak.

Er hat sich einen groβen Namen in vierlei Hinsicht gemacht: als Dichter, als Dissident, als Literaturkritiker und als Übersetzter. Er war ohne Zweifel eine Koryphäe der modernen polnischen Literatur.

Bürgerrechtler

1946 in Poznań/Posen, in einer gutbürgerlichen Arztfamilie geboren, war er ein Kind der Volksrepublik Polen, gegen die er seit seinen Jugendjahren stets rebellierte. Begabt und belesen studierte Barańczak Polonistik an der Poznaner Adam-Mickiewicz-Universität. Die geistige Enge des Kommunismus war ihm zutiefst zuwider. Die letzten Illusionen in Bezug auf das System raubten ihm die Ereignisse des Frühjahrs 1968, als in allen polnischen Universitätsstädten Studentenunruhen ausbrachen. Beim Auseinandertreiben der Studentendemonstration in Poznań kassierte er einige schmerzhafte Schlagstockhiebe. Kurz darauf, als er als Mitglied einer Studentendelegation die Forderungen der Protestierenden nach mehr Freiheit in Forschung und Lehre im Uni-Rektorat vorbringen wollte, wurde er Zeuge äußerster Arroganz und Verachtung der Apparatschiks.

Barańczak setzte viel aufs Spiel, denn mit seinen unkonventionellen Gedichten hatte er bereits auf sich aufmerksam gemacht, bekam erste Auszeichnungen. Es war gewiss: ihm stand eine groβe literarische Karriere bevor. Schon als Student war er Chefdramaturg des Poznaner experimentellen „Theaters des Achten Tages“. Noch wurde er geduldet. Sein erstes Gedichtband „Przyczyny zgonu“ („Todesursachen“) durfte 1968 erscheinen. 1971 erhielt er den Doktortitel und bekam eine Stelle an der Poznaner Universität, obwohl er bereits 1969, nach wenigen Jahren der Mitgliedschaft, aus der herrschenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgetreten war.

Im Jahr 1977 trat Barańczak dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) bei. KOR war eine Gruppe der polnischen Bürgerrechtsbewegung. Mitglieder waren namhafte Intellektuelle. Sie entstand als Reaktion auf zahllose Drangsalierungen, Schikanen und brutale Übergriffe (Verhaftungen, bestialische Misshandlungen auf Polizeistationen, Entlassungen, Verhängung hoher Haftstrafen in fingierten Strafprozessen usw.) auf Teilnehmer an Arbeiterprotesten gegen die Lebensmittelpreiserhöhungen im Juni 1976 in der Stadt Radom. Das Hauptziel war die finanzielle Unterstützung und die Bereitstellung eines Rechtsbeistands für verfolgte Arbeiter. KOR war eine der Keimzellen der späteren Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“.

Barańczak wurde daraufhin entlassen und im Februar 1977, aufgrund eines von der Staatssicherheit konstruierten Vorwurfs der Korruption, zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Er bekam Schreib- und Veröffentlichungsverbot. Nicht der geringste Hinweis auf ihn, keine Gedichte oder andere Texte von ihm durften erscheinen.

Der Dichter lehrte ab diesem Zeitpunkt an der sog. Fliegenden Universität, deren Vorlesungen in Privatwohnungen stattfanden, nahm im Mai 1977 am Hungerstreik in der Warschauer Hl. Martin-Kirche zugunsten politischer Häftlinge teil, unterschrieb Protestaufrufe an die Behörden, war Redaktionsmitglied der illegal gedruckten Literaturzeitschrift „Zapis“ („Niederschrift“). In Poznań, wo die demokratische Opposition sehr schwach war, war Barańczak lange Zeit ihr wichtigster Brückenkopf.

Nach Gründung der „Solidarność“ im September 1980 engagierte er sich für die Arbeit der Bewegung und bekam seine Stelle an der Universität wieder. Im Januar 1981 erreichte ihn ein Angebot, so verlockend, dass er es nicht ausschlagen konnte. Er sollte die Leitung des (in Amerika einzigen) Instituts der Polnischen Literatur an der Harvard-Universität übernehmen. Aus den geplanten drei Jahren Aufenthalt wurde „lebenslänglich“, vor allem da am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde.

Barańczak und sein Schaffen wurden nun zu einem Teil der polnischen Exilkultur. Sie ist seit dem Ende des 18. Jh., aufgrund der stets wiederkehrenden Massenauswanderungen auf der Suche nach Freiheit und Brot, der „zweiter Lungenflügel“ der polnischen Nationalkultur geworden. Barańczaks Gedichte und Essays erschienen in Exilverlagen und gelangten bis 1989 auf illegalen Wegen nach Polen.

Nicht zu unterschätzen sind seine Verdienste darum, der polnischen Literatur den Weg in die Verlage, die Bibliotheken Amerikas und die Köpfe der Amerikaner gebahnt zu haben.

Dichter, Literaturkritiker, Essayist

Ein Teil seines Widerstandes bestand aus seinen scharfsinnigen Analysen der sozialistischen Massenkultur. In Essays und wissenschaftlichen Texten nahm er Krimis, Abenteuerromane und andere im Parteiauftrag entstandene Arten der Populärliteratur, ihre Feind- und Leitbilder unter die Lupe. Barańczak beschrieb die Funktionsweise der Manipulation, Menschen, die kritiklos Propagandainhalte übernahmen, gab seiner Angst Ausdruck vor der stumpfsinnigen, manipulierten Masse.

Sein moralischer Standpunkt hinsichtlich der Dichtung war klar umschrieben: „Misstrauen. Kritizismus. Bloβtellung. Das alles sollte sie sein, so lange bis die letzte Lüge, der letzte Rest der Demagogie, die letzte Gewalttat von dieser Welt verschwinden“. Sein moralisch-dichterisches Manifest legte Barańczak 1971 in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel „Nieufni i zadufani“ („Misstrauisch und eingebildet“) dar.

Ein Merkmal seiner Gedichte war die Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks: Satzfetzen, scheinbar chaotisch aneinandergereiht, dieselben Worte, die in immer neuen Verbindungen wiederkehren. Es ging ihm darum, feste Wortverbindungen, eingeprägte Redewendungen und mit ihnen Denkschemata zu zerschlagen.

Bezeichnend in dieser Hinsicht ist das Gedicht „Blicken wir der Wahrheit ins Auge“ von 1970, in dem er, von der Redewendung ausgehend, die Überzeugung äuβert, dass die Wahrheit zu sagen, eine moralische Pflicht des Dichters sei, gegenüber den anonymen Beobachtern, der Öffentlichkeit:

„…zeigen wir uns auf der Höhe/ des Auges, wie die Kreideschrift an der Mauer, wagen wir es/ der Wahrheit ins Auge zu sehen, das nicht abläβt von uns/ das überall ist, festgetreten im Pflaster unter den Füβen/ festgeklebt im Plakat, versunken in Wolken…“

(übersetzt von Karl Dedecius).

Die Dichtung war für Barańczak vor allem ein Instrument der Verteidigung gegen die alles überflutende Propagandasprache, eine Sprache der Lüge, die es zu entlarven, zu hinterfragen, bloβzustellen galt, um Menschen zum Nachdenken zu bringen, zu zwingen sich selbst Fragen zu stellen. Eine schwere Aufgabe, wie er es in seinem Gedicht „N.N. fängt an sich Fragen zu stellen“ formulierte, in einer Zeit, in der man:

„…beim Wort „Sicherheit“/ Gänsehaut bekommt, in der das Wort „Wahrheit“1)/ ein Zeitungstitel ist, in der Wörter „Freiheit“/ und „Demokratie“ in den Dienstbereich/ eines Polizeigenerals2) fallen…“

(übersetzt von Peter Lachmann).

Die politische Komponente in seiner Dichtung verlor mit der Zeit an Bedeutung, anderes: Liebe, menschliches Verhalten in Zeiten des Überflusses, das Verhältnis zur Natur rückten in den Vordergrund.

Übersetzter

Stanisław Barańczak wird auch als ein begnadeter Übersetzter englischsprachiger Literatur in die Geschichte der polnischen Kultur eingehen. In den 90er Jahren hat er zwanzig Shakespeare-Dramen neu ins Polnische übertragen. Diesen Übersetzungen wird allerhöchste Qualität bescheinigt.

Nicht anders beurteilt werden seine Übersetzungen der Gedichte von Emily Dickinson, Elizabeth Bishop, Edgar Allan Poe, Seamus Heaney, Joseph Brodsky, Thomas Campion, John Donne, Robert Herrick, George Herbert, Henry Vaughan, John Keats, Thomas Hardy, aber auch der Liedertexte der Beatles. Barańczak wurde in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens zu einem unermüdlichen Mittler vor allem zwischen der amerikanischen Dichtung und der polnischen Sprache.

1999 hat man bei ihm die Parkinson-Krankheit festgestellt. Seit dem zog sich Barańczak immer mehr in die Privatsphäre zurück. Er starb in den USA im Alter von 68 Jahren und wurde auf dem Mount-Auburn-Friedhof in Cambridge bei Boston begraben.

Anmerkungen:

1) Gemeint ist „Prawda“, das poln. und russ. Wort für Freiheit. „Prawda“ hieβ das Zentralorgan der sowjetischen KP.

2) Gemeint ist Mieczysław Moczar (1913-1986), kommunistischer Partisan, General der Staatssicherheit und hoher Parteifunktionär, bekannt für sein autoritäres Auftreten. „Freiheit“ und „Demokratie“ waren Bestandteile der offiziellen Bezeichnung des einzigen zugelassenen Veteranenverbandes: „Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie“, dem Moczar vorstand und der ein wichtiger Bestandteil seiner Machtgrundlage war.

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Regisseur ergreifender Filme

Am 24. Dezember 2014 starb Krzysztof Krauze.

Wenn im Filmgeschäft des Westens das Kulturgut aus dem Osten vergleichbare Startchancen hätte wie umgekehrt, hätte „Plac Zbawiciela“ („Erlöserplatz“) aus Polen alle Chancen, auch in Deutschland ein Kassenschlager zu werden“, schrieb im Januar 2007 die deutsche Tageszeitung „Die Welt“. Der Mann, dessen Film damals so gelobt wurde, ist leider von uns gegangen, die Einseitigkeit des Kulturaustausches zwischen West und Ost bedauerlicherweise nicht.

Im Namen der Schwachen

Sein Talent reifte langsam, erst im letzten Lebensjahrzehnt lief er zur künstlerischen Höchstform auf. Krauze starb auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Leistung: populär, gefeiert, mit Auszeichnungen überhäuft, und dennoch stets bescheiden, zurückhaltend, zaudernd. Er stellte sich nur dann hinter die Kamera, wenn er meinte etwas Wichtiges zu sagen zu haben, meistens im Namen der Schwachen, die keine Kraft hatten zu schreien.

Krauze vertrat die Ansicht, Filme mache man, um Menschen in Schutz zu nehmen, um Werte zu bewahren, um für existenzielle Anliegen und Belange Partei zu ergreifen. Aus scheinbar banalen Situationen gelang es ihm auf der Leinwand immer wieder eine zutiefst beklemmende Stimmung zu erschaffen, um so die Ausweglosigkeit von Lebenssituationen zu veranschaulichen. Menschen: naiv, gutwillig, bemüht, motiviert, erfolgsgläubig und konsumhungrig, die unter die Räder des hemdsärmeligen, nachkommunistischen Graswurzel-Kapitalismus geraten sind, waren seine Charaktere.

Krzysztof Krauze wurde 1953 in Warschau geboren. Der Sohn eines renommierten Rechtsanwalts und der bekannten Filmschauspielerin Krystyna Karkowska studierte Kameramann an der angesehenen Filmhochschule in Łódź, aber er wollte nicht Bilder in Szene setzen, sondern Filme machen. Unmittelbar nach dem Studium, nach 1976, versuchte er sich als Kurzfilme-Regisseur.

Dann das Aus aller Hoffnungen auf Freiheit, die im Spätsommer 1980 mit dem erfolgreichen Ende der großen Streiks aufkamen. Das Verbot der Solidarność, die Rückkehr der stumpfsinnigen, trist-grauen kommunistischen Wirklichkeit nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981… Das zu ertragen überstieg seine Kräfte bei weitem. Er ging nach Wien, dann nach Paris, und merkte bald, wie überflüssig, wie fehl am Platze er dort war.

„Die Schuld“

Die Rückkehr nach Polen Mitte der 80er Jahre, war der Beginn seines lang andauernden schöpferischen Reifens, das 1999 mit dem Film „Die Schuld“ („Dług“) ein Meisterwerk hervorgebracht hat. Der Film wurde im Winter gedreht. Kühle, glatte Fassaden neuerrichteter Banken sind die Kulisse der Geschichte. In dieser Kälte drohen die Träume zweier junger Männer zu platzen. Die Warschauer Stefan, ein Volkswirt, und Adam, Architekt, wollen eine Firma gründen, doch die Banken weisen sie ab. Sie geraten an Gerard Nowak, einen ehemaligen Schulkameraden, inzwischen ein Geldeintreiber mit Mafiaverbindungen, der sich auf Erpressung spezialisiert hat. Der Businessman mit kurzem Haarschnitt und starrem Blick verspricht schnelle Hilfe.

Schon kurz darauf, ohne eine Miene zu verziehen, fordert er von ihnen die Rückzahlung absurder Schulden, die sie nie eingegangen sind. Als erster wird der Architekt vor seinem Haus verprügelt. Die Schuld würde ab jetzt täglich um 1000 Dollar anwachsen, teilt Nowak ihm mit. Beim nächsten Mal kündigt der Schuldeneintreiber dem Opfer seine Hinrichtung an, dann wirft er es in den Kofferraum seines Autos. Eine halbe Stunde später steht der Wagen vor einer Polizeidienststelle in Warschau. Der Gangster plaudert mit einem Beamten. Sie duzen sich. „Wen hast du da im Auto?“, fragt der Beamte. „Einen, der mir Geld schuldet“, antwortet der Entführer. Der Polizist beugt sich über den Gefesselten. „Schulden muss man pünktlich zahlen“, sagt er.

Die Musik des bekannten Jazzkomponisten Michal Urbaniak und die klaustrophobische Kameraführung lassen den Zuschauer die Angst der Opfer bildhaft spüren. Die jungen Leute werden misshandelt und erniedrigt. Als der Architekt versucht die Polizei zu verständigen, schlägt eine Schmollmund-Lolita in Uniform dem verängstigten Mann vor, seinen Verfolger amtlich „zu ermahnen“.

Irgendwann überwältigen Stefan und Adam in ihrer Verzweiflung den Psychopaten und seinen Leibwächter, schlachten die beiden nachts am Weichselufer ab. Die Köpfe trennen sie von den Leichen und werfen sie ins Wasser. Der Mord soll wie eine Hinrichtung der Russen-Mafia aussehen. Dem Film lag ein echter Kriminalfall zugrunde. Die wahren Täter-Opfer, obwohl sie sich gestellt haben, wurden von einer Richterin, die sich im Kriegsrecht mit drakonischen Strafen einen Namen gemacht hatte, zu lebenslänglich verurteilt. Der Sadist war ein V-Mann der Polizei. Es war das unvorstellbare Versagen der Polizei und der Justiz, sowie das unter vielen Polen verbreitete Gefühl, im Raubtier-Kapitalismus zu leben, die Krauzes Film zu einem ungewöhnlichen Kinoerfolg gemacht haben.

„Erlöserplatz“

Ein solcher Erfolg war auch „Plac Zbawiciela“ („Erlöserplatz“) von 2006. Der Film spielt am gleichnamigen Platz, mitten in Warschau. Ein rundes Stück Asphalt und Gras, über das die Straßenbahn rumpelt. Eine hoch aufragende Kirche gab dem Platz den Namen. Hier wohnt Teresa, die Mutter. Ihr Sohn Bartek ist mit Beata verheiratet, einem recht hübschen Mädel vom Lande, zwei Kinder sind auch schon da. Das junge Paar hat in einer entstehenden Siedlung bereits eine Wohnung gekauft, dafür einen horrenden Kredit aufgenommen. Doch die Baufirma geht Pleite. Die frühkapitalistische Variante der aus sozialistischer Zeit gut bekannten Wohnungsnot zwingt die junge Familie, bei Teresa einzuziehen. Auf engem Raum reibt man sich aneinander, ein böser Blick gibt ein böses Wort, ein Wort gibt das andere.

Mutter Teresa giftet Schwiegertochter Beata an, während Bartek fremdgeht. Am Ende zieht Bartek aus; seine Frau will ihn festhalten, doch er tritt und schlägt sich den Weg frei. Dann gibt Beata den Kindern Tabletten und schlitzt sich selbst die Pulsadern auf. Alle drei überleben. Im Gerichtssaal führt Bartek in letzter Minute eine Wende herbei: Er bekennt seine Schuld an Beatas Verzweiflung, worauf er verurteilt und seine körperlich gezeichnete Frau freigesprochen wird.

Es sind großartige schauspielerische Leistungen. Kameramann Wojciech Staron sitzt den Charakteren dicht im Nacken, um die Enge der Wohnung durch die Kameraführung noch zu unterstreichen. Schuldenlast und Angst um den Arbeitsplatz treiben eine Familie in Ratlosigkeit und Selbstzerstörung.

„Papusza“

Den „Erlöserplatz“ drehte Krauze zusammen mit seiner vierten Ehefrau Joanna Kos-Krauze. Sie waren zu Beginn des 21. Jahrhunderts das mit Abstand kreativste Duo der polnischen Filmszene. Einen beeindruckenden Beweis dafür lieferte Krauzes letzter Spielfilm „Papusza“ von 2013. Entstanden ist ein poetisches, in betörenden Schwarz-Weiβ-Bildern gehaltenes Drama, das tief unter die Haut geht. Es erzählt das Leben der Roma-Dichterin Bronisława Wajs, von ihrer Mutter liebevoll Papusza – Puppe genannt.

Den Trailer mit deutschen Untertiteln kann man hier sehen.

Schon bei ihrer Geburt, 1910, im damaligen Russisch-Polen sagten die Roma-Frauen voraus, dass sie ihrem Volk „großen Stolz oder große Scham“ bringen wird. Das wissbegierige Mädchen ließ sich heimlich von einer jüdischen Buchhändlerin Lesen und Schreiben beibringen, entdeckte so die Welt der Poesie. Ihre Gedichte erzählen vom Leben der Roma, ihrer Sehnsucht nach dem gemeinsamen Umherziehen, ihrer unermesslichen Naturverbundenheit.

Papuszas Clan wird vom Unglück verfolgt: Nirgends sind die Roma gern gesehen, werden mit Diebstahl und Betrug in Verbindung gebracht. Doch die Krauzes verklären nicht, entsagen der „Zigeunerromantik“, zeigen auch die Feindseligkeit und Ignoranz der Roma gegenüber anderen Kulturen und dem Fortschritt. Während der Besatzungszeit verfolgen und drangsalieren die Deutschen die Zigeuner gnadenlos, bringen sie zu Zehntausenden barbarisch um. Papusza überlebt.

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Krzysztof Krauze und seine Frau Joanna Kos-Krauze bei den Dreharbeiten zu „Papusza“.

Als kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, 1950, ihre Gedichte ins Polnische übersetzt und veröffentlicht werden, ist dies eine Sensation und schlagartig wird die Dichterin berühmt – doch der Ruhm hat auch Schattenseiten. Ihr Clan wirft ihr vor, sie habe Geheimnisse ihres Volkes preisgegeben und brandmarkt sie als Verräterin…

Begleitet von der melancholischen Musik der Roma entfaltet „Papusza“ eine enorme dramatische Kraft, lässt die archaische und brutale, zugleich wunderschöne und naturverbundene Welt der Roma lebendig werden. Krzysztof Krauze hat sich mit einem Meisterwerk ins Jenseits verabschiedet.

Krzysztof Krauze verlor einen schweren, neun Jahre andauernden Kampf gegen den Prostatakrebs. Mit seinem Tod büβte das polnische Kino einen Regisseur ein, der schon zu Lebzeiten in einem Atemzug mit dem groβen Moralisten der polnischen Leinwand, dem 1996 verstorbenen Krzysztof Kieślowski („Dekalog“, „Drei Farben: blau, weiβ, rot“) genannt wurde.

Krzysztof Krauze wurde, auf seinen ausdrücklichen Wunsch, ohne Beisein eines Priesters, in Kazimierz Dolny an der Weichsel bestattet. Staatspräsident Komorowski verlieh ihm posthum den Komturstern des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).

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Ungebrochen und unversöhnlich

Am 4. Dezember 2014 starb Kazimierz Świtoń.

Er schuf das erste Gründungskomitee freier Gewerkschaften in Polen und damit zugleich im ganzen kommunistischen Machtbereich zwischen Elbe, Wladiwostok und Schanghai. Seine Beharrlichkeit und seine Kompromisslosigkeit brachten ihm viel Bewunderung, am Ende seines Lebens aber auch nicht wenig Ablehnung ein.

Der Oppositionelle

Nicht lange vor seinem Tod erinnerte er sich: „Nachdem ich die freien Gewerkschaften in Katowice gegründet hatte und es den Kommunisten nicht gelang mich davon abzubringen, versuchte die Staatssicherheit mich einzuschüchtern. Als das fehlschlug, machte sie sich daran meine Familie zu bedrängen. Das half auch nicht, also wurde ich brutal zusammengeschlagen. Später hat man meine Söhne wegen Diebstahls angeklagt. Um die Mitglieder der Komitees zur Verteidigung der Arbeiter gegen mich aufzubringen, wurden Gerüchte gestreut, ich sei ein Antisemit. Schlieβlich kamen sie auf die Idee, aus mir, wegen meiner Unnachgiebigkeit, einen Irren zu machen. Das ist gelungen. Mit diesem Stigma bin ich bis heute behaftet“.

Świtoń wurde 1931 in Katowice/Kattowitz geboren. Er arbeitete seit seinem 14. Lebensjahr schwer: im Stahlwerk, als Heizer und Handlanger im Städtischen Krankenhaus, als Vorarbeiter in einer Phosphat-Fabrik. Gleichzeitig absolvierte er 1950 eine Berufsschule für Elektrotechnik, leistete auch den damals drei Jahre dauernden, harten Militärdienst ab. Mit seiner Frau hatte er sechs Kinder, und kurz bevor er starb konnte er auf eine Schar von 24 Enkel- und 8 Urenkelkindern blicken.

Im Jahr 1967 bekam Świtoń die Erlaubnis eine winzige Reparaturwerkstatt für Fernseher zu eröffnen. Zum ersten Mal kam er in Berührung mit sehr vielen, sehr unterschiedlichen Menschen, die er meistens zu Hause aufsuchte. Er weckte Vertrauen, das machte die Leute gesprächig. Świtoń bekam Klagen zu hören über Ungerechtigkeiten, Korruption, Behördenwillkür, über das unendliche Schlangestehen nach allem und überall, sah Armut, die unvorstellbar beengte Wohnsituation…

Der einzige Fluchtort vor der bedrückenden Wirklichkeit war die Kirche. Świtoń fand in Katowice, in Pfarrer Franciszek Blachnicki, dem Begründer der katholischen Jugendbewegung „Licht-Leben“, nicht nur einen Seelsorger, sondern auch ein Vorbild und ein Gegenüber für lange Gespräche über Gott und die Welt. Bei Pfarrer Blachnicki, der wegen seiner Jugendarbeit ständig bespitzelt und drangsaliert wurde, und auch schon im kommunistischen Gefängnis eingesessen hatte, kam Świtoń mit der katholischen Soziallehre in Berührung und der Idee christlicher Gewerkschaften.

Das polnisch sprachige Programm des Senders Free Europe, das aus München ausgestrahlt wurde, war damals, in einer Zeit ohne Faxgeräte, Satelliten-TV, Internet und Handys, die wichtigste und oft einzige unabhängige Informationsquelle hinter dem Eisernen Vorhang. Hunderttausende von Polen versuchten Abend für Abend den Sender zu empfangen, ständig bemüht mit dem Zeiger auf der Skala den Empfang zu justieren, um trotz des Pfeifens, Rauschens, Surrens und Hämmerns der Störsender, irgendetwas mitzubekommen.

So erfuhr Świtoń im Mai 1977 vom Hungerstreik in der Warschauer Hl. Martin-Kirche und fuhr hin, um daran teilzunehmen. Mitglieder des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) wollten so die Freilassung, der zu langen Haftstrafen verurteilten Teilnehmer der Proteste in der Stadt Radom gegen eine Lebensmittelpreiserhöhung im Juni 1976, erzwingen. Der Hungerstreik dauerte acht Tage und erregte auch im Westen groβes Aufsehen. Die Behörden lieβen die Gefangenen, mit „gebührendem“ Zeitabstand, im Rahmen einer im Juli 1977 verkündeten Amnestie, frei.

Nachdem er nach Katowice zurückgekehrt war, gründete Świtoń in seiner Wohnung eine Kontaktstelle für Menschenrechtverletzungen. Immer mehr Menschen kamen zu ihm, um über das ihnen angetane Unrecht zu berichten und um Hilfe zu bitten. Engagierte und mutige Warschauer Rechtsanwälte: Piotr Andrzejewski, Władysław Siła-Nowicki und Jan Olszewski (später, 1991-1992, polnischer Ministerpräsident) nahmen sich vieler dieser Fälle an.

Am 23. Februar 1978 fand in Świtońs Wohnung in Katowice die Gründungsversammlung der Freien Gewerkschaften statt. Aus der Sicht der Behörden war das politischer Sprengstoff.

Sollten in Oberschlesien mit seinen 4 Mio. Einwohnern, in einem industriellen Ballungsgebiet (mit einer enormen Dichte an Kohlegruben, Kokereien, Stahlwerken, Betrieben der Schwerchemie, der Metallverarbeitung), an einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte des Landes, freie Gewerkschaften Fuβ fassen, Forderungen stellen, Streiks verkünden, dann stünde die Existenz des Kommunismus in Polen auf dem Spiel. Kurz darauf entstanden ähnliche Gründungskomitees in Gdańsk/Danzig und Szczecin/Stettin.

Kazimierz Świtoń als Antikommunist und Staatsfeind erkennungsdienstlich erfasst.
Kazimierz Świtoń als Antikommunist und Staatsfeind erkennungsdienstlich erfasst.

Świtoń, die Galionsfigur der neuen Gewerkschaftsbewegung in Oberschlesien, wurde, zwischen März 1978 und September 1980, 58 Mal festgenommen, bis, nach der Streikwelle des Sommers 1980, „Solidarność“ entstand. Er verlor seine Reparaturwerkstatt, sein Telefon wurde abgeschaltet, sein Führerschein eingezogen.

Am 14. Oktober 1978, vor der Kirche der Hl. Peter und Paul in Katowice, überfielen und schlugen ihn vier Polizisten in Zivil krankenhausreif. Kurz darauf wurde er angeklagt, die Vier zusammengeschlagen zu haben und anschließend hat man ihn zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach Protesten im In- und Ausland wurde Świtoń im März 1979 auf Bewährung frei gelassen.

Kurz darauf trat er in der Wallfahrtskirche von Piekary Śląskie/Deutsch Pekar in einen Hungerstreik, weil der polnische Papst Johannes Paul II. während seiner ersten, für Juni 1979 geplanten Pilgerfahrt nach Polen, Oberschlesien nicht besuchen durfte. Świtoń ließ sich nicht brechen.

Eintracht die nicht lange währte. Kazimierz Świtoń, Lech Wałęsa, Marian Jurczyk und Tadeusz Mazowiecki (von rechts) am 24. Septembner 1980 vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten auf dem Warschauer Siegesplatz nach dem sie den Anrtag auf Zulassung der Gewerkachaft Solidarnośc beim Warschauer Woiwodschaftsgeicht eingereicht haben.
Eintracht die nicht lange währte. Kazimierz Świtoń, Lech Wałęsa, Marian Jurczyk und Tadeusz Mazowiecki (von rechts) am 24. September 1980 vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten auf dem Warschauer Siegesplatz nach dem sie den Anrtag auf Zulassung der Gewerkachaft Solidarnośc beim Warschauer Woiwodschaftsgericht eingereicht haben.

Nach der Gründung der ersten „Solidarność“ im September 1980 spielte er in ihrer oberschlesischen Organisation eine wichtige Rolle. Schon damals jedoch machte sich sein schwieriger Charakter bemerkbar. Świtoń kannte keine Kompromisse, kämpfte bis zum letzten verbissen für das, was er für richtig hielt. Im Herbst 1981 wurde er deswegen nicht mehr in die Führung der oberschlesischen „Solidarność“ gewählt.

Nach Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde er interniert, jedoch nach drei Monaten, aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes, entlassen und in Rente geschickt. Auf Schritt und Tritt beobachtet und bespitzelt, immer wieder zu Verhören und „Ermahnungsgesprächen“ vorgeladen, konnte er nicht viel ausrichten. Immer wieder versuchte er 1982 und 1983 eine Gedenktafel an der Grube „Wujek“ in Katowice anzubringen, wo die Polizei kurz nach Verhängung des Kriegsrechts neun Bergleute erschossen hatte, und wurde deswegen verhaftet.

Der Politiker

Nach dem Ende des Kommunismus lief er zur politischen Hochform auf. In Rage brachte ihn vor allem, die sich nach 1989 schnell abzeichnende Kumpanei nicht weniger ehemaliger „Solidarność“-Aktivisten mit den früheren Parteibonzen und Stasi-Leuten, ihre gemeinsamen dunklen Geschäfte, betrügerischen Privatisierungen und Machenschaften, die die Industrieregion Oberschlesien dem Verfall und die Menschen der Massenarbeitslosigkeit aussetzten. Świtoń war ein Störenfried im neuen allgemeinen Trend zum schnellen Geldverdienen, Konsumieren, Genieβen und Seine-Ruhe-Haben.

Er gründete 1989 eine eigene, die Christlich-Demokratische Partei der Arbeit, eine politische Eintagsfliege, wie sich schnell herausstellte. 1991 wurde er in den Sejm gewählt, als Abgeordneter der Schlesischen Autonomiebewegung. 1993 hatte sich der Sejm selbst aufgelöst, um vorzeitige Neuwahlen zu ermöglichen. Świtoń kandidierte seither bei jeder Wahl, aber ein erneuter Einzug in den Sejm gelang ihm nicht.

Der Hitzkopf

Am 14. Juni 1998 katapultierte er sich für knapp ein Jahr mit einer aufsehenerregenden Aktion in die Schlagzeilen der polnischen und internationalen Medien. An diesem Tag schlug Świtoń, gemeinsam mit einigen Getreuen, sein Lager am so genannten Papstkreuz in der einstigen Kiesgrube am Rande des ehemaligen Stammlagers Auschwitz auf. Das Kreuz wurde dort im Juli 1988 aufgestellt. Es war Bestandteil des Altars, an dem Papst Johannes Paul II. im Juni 1979 im nahegelegenen Birkenau, bei seiner ersten Pilgerreise nach Polen, eine Messe zelebriert hatte. Das Kreuz sollte an die 1941 in der Kiesgrube von den Deutschen erschossenen 152 Polen erinnern.

Kazimierz Świtoń (links im Bild) mit seinen Unterstützern beim Aufstellen eines weiteren Kreuzes in der ehem. Kiesgrube am KL Auschwitz im Sommer 1998.
Kazimierz Świtoń (links im Bild) mit seinen Unterstützern beim Aufstellen eines weiteren Kreuzes in der ehem. Kiesgrube am KL Auschwitz im Sommer 1998.

Für viele Juden war das ein Stein des Anstoβes, weil sie das christliche Symbol, in der Nähe des gröβten jüdischen Friedhofes in Auschwitz/Birkenau, als Versuch christlicher Vereinnahmung empfanden. Świtońs Aktion war die Antwort auf massive jüdische Forderungen das Kreuz zu entfernen. Mit der Zeit entstand an der Stelle ein Wald aus etwa 300 Holzkreuzen, die Świtońs Unterstützer aus allen Gegenden Polens herbeibrachten. Świtoń harrte 349 Tage am Papstkreuz aus.

Nachdem der Pachtvertrag für das Gelände aufgelöst wurde, was juristisch gesehen, die Kiesgrube in absehbarer Zeit in die so genannte Schutzzone um das ehemalige Lager einbezogen hätte, und somit aus der Protestaktion Hausfriedensbruch gemacht hätte, drohte Świtoń damit, Sprengstoff zu zünden. Am 28. Mai 1999, nach stundenlangen Verhandlungen, gewährte er dem Sprengstoffkommando der Polizei Zutritt auf das umzäunte Gelände. Er kam für einige Wochen in Untersuchungshaft und wurde Mitte Januar 2000 vom Amtsgericht Oświęcim zu sechs Monaten Haft auf Bewährung und 400 Zloty (ca. 100 Euro) Geldbuβe wegen Volksverhetzung verurteilt, dies, unter Hinweis auf antisemitische Inhalte in seinen Flugblättern.

Trotz anfangs anderslautender Berichte erwies sich der Sprengstoff als eine Attrappe. Alle mitgebrachten Kreuze wurden in ein nahe gelegenes Franziskanerkloster gebracht. Das Papstkreuz ist geblieben, was von jüdischer Seite mehrheitlich nicht mehr beanstandet wurde. Świtońs Befürworter sind bis heute der Meinung, nur seine Beharrlichkeit habe das Papstkreuz „gerettet“. Der Konflikt ebbte ab.

Im Sommer 2010, nachdem Staatspräsident Komorowski neuer Staatschef geworden war, tat sich Świtoń, bei Scharmützeln, als Verteidiger des Kreuzes vor dem Präsidentenpalais in Warschau zu Ehren des bei Smoleńsk tödlich verunglückten Staatspräsidenten Lech Kaczyński, hervor. Das Kreuz wurde entfernt. Später machte er noch einige Male durch skurrile antisemitische Äuβerungen auf sich aufmerksam, womit er sich selbst endgültig ins Abseits manövrierte. Die Öffentlichkeit nahm ihn zunehmend als einen betagten Wirrkopf wahr.

Kazimierz Świtoń starb mit 83 Jahren in Katowice. Auf Anordnung von Parlamentspräsident Sikorski wurde die, von der konservativen Opposition beantragte Schweigeminute für den Antikommunisten Świtoń, „der Einfachheit halber“, mit der von den Postkommunisten beantragten Schweigeminute für den regimetreuen Schauspieler Stanisław Mikulski „zusammengelegt“.

Kein offizieller Vertreter des Parlaments, der Regierung Ewa Kopacz oder des Staatspräsidenten Bronisław Komorowski nahm an Świtońs Begräbnis teil.

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Die Tochter des Staatsgründers

Am 16. November 2014 starb Jadwiga Piłsudska-Jaraczewska.

Die Kindheitserinnerungen der jüngeren Tochter Józef Piłsudskis waren vor allem geprägt vom mucksmäuschenstillen, beinahe allabendlichen zuschauen, wie der Vater, ein leidenschaftlicher Patience-Spieler, kartenlegend über die Staatsgeschäfte nachdachte. Ab und zu nahm er sie auf den Schoβ und sie legten die Karten gemeinsam. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Wanda hatte nicht so viel Geduld.

Jadwiga Piłsudska wurde 1920 in Warschau geboren. Es war Februar. Dem nach 123 Jahren der Teilungen gerade wiederrichteten polnischen Staat stand die schwierigste Probe noch bevor. Im August 1920 gelang es die bolschewistische Offensive vor Warschau zu stoppen und die Sowjets weit in den Osten abzudrängen. Polen, über dessen Leiche, so Lenins Parole, die Fackel der roten Revolution nach Europa getragen werden sollte, war gerettet. Diese Rettung, ebenso wie seine Wiedergeburt 1918, verdankte Polen vor allem Józef Piłsudski.

Man könnte meinen, es sei nicht einfach gewesen, das Kind eines Mannes zu sein, der schon zu Lebzeiten in der allgemeinen Wahrnehmung und Darstellung ein Denkmal war. Doch dem war nicht so.

Beide Töchter kamen auf die Welt als uneheliche Kinder. Der Patriot und einstige Sozialist Piłsudski, der, im übertragenden Sinn, nach eigener Darstellung, „an der Haltestelle »Unabhängigkeit« aus der roten Straβenbahn ausgestiegen sei“, ging in Sachen Sitten, Moral und Religion seine eigenen Wege.

Im Jahre 1899, mit 31 Jahren, wurde Piłsudski evangelisch, um die geschiedene Protestantin und sozialistische Untergrundkämpferin gegen das russische Zarentum, Maria Juszkiewicz heiraten zu können. Ihre gemeinsame Tochter Wanda starb 1908 mit neun Jahren.

1917 wandte sich Piłsudski von Maria ab und einer anderen sozialistischen Kampfgefährtin, Aleksandra Szczerbińska zu. Sie war die Mutter der beiden 1918 und 1920 geborenen Töchter Wanda und Jadwiga. Geheiratet wurde erst im Oktober 1921, nach dem Tod von Piłsudskis erster Ehefrau Maria und nach seiner Rückkehr in den Schoβ der katholischen Kirche.

Józef Piłsudski mit seinen Töchtern Wanda (rechts) und Jadwiga
Józef Piłsudski mit seinen Töchtern Wanda (rechts) und Jadwiga

Verzogen waren Wanda und Jadwiga nicht. Piłsudski pflegte einen bescheidenen Lebensstil: zuerst als „Staatvorsteher“ bis 1923, dann bis Mai 1926, als er sich für drei Jahre demonstrativ von der Politik abwandte und nach Sulejówek bei Warschau ins Private zurückzog. Nicht anders war es nach dem Mai 1926, als er an der Spitze ihm ergebener Truppen putschte und in Polen ein halbautoritäres Regime errichtete, in dem die Opposition zwar zugelassen war, jedoch behindert wurde. Józef Piłsudski starb im Mai 1935.

Seine beiden Töchter erlebten eine ungezwungene, fröhliche, von materieller Bescheidenheit geprägte Kindheit, weil der Vater fast alles Geld stiftete und Mutter Aleksandra die beiden in ihre Wohltätigkeitsarbeit einspannte. Normale Schulen, viel Umgang mit Gleichaltrigen aus normalen Verhältnissen, auch wenn stets ein Kriminalbeamter in der Nähe war. Piłsudski und seine Frau wagten sich immer wieder unbewacht in die Öffentlichkeit, bei den Kindern war ihnen das Risiko zu groβ.

Jadwiga entdeckte mit zwölf Jahren ihre Begeisterung für die Fliegerei. 1937, mit 17 Jahren, machte sie ihren Segelflugschein. Bis 1939 erlangte sie alle Segelflugscheine, die es damals gab: von A bis D, und absolvierte im Sommer 1939 einen 270 km langen Streckensegelflug .

Geplant war ein Studium an der  Fakultät Maschinenbau der Warschauer Technischen Hochschule. Jadwiga wollte Flugzeugkonstrukteurin werden. Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 mache diese Pläne zunichte. Mutter und beide Töchter pflegten Verwundete in einem Warschauer Lazarett, wurden aber am 10. September auf Anordnung der Behörden ins damals polnische Wilno/Wilna gebracht. Als am 17. September 1939 auch die Sowjets über Polen herfielen, flüchteten die drei ins lettische Riga, flogen von dort mit einer Linienmaschine nach Stockholm und dann weiter nach London. Den Sowjets in die Hände zu fallen, das belegen die Schicksale fast aller polnischen und baltischen Prominenten denen das widerfuhr, hätte  mit dem sicheren Tod in einem der sibirischen Arbeitslager geendet.

Jadwiga Piłsudska als RAF-Pilotin 1941
Jadwiga Piłsudska als RAF-Pilotin 1941

Im Mai 1940 meldete sich Jadwiga mit zwei weiteren Polinnen zum Dienst bei der Air Transport Auxiliary (ATA), einer Hilfstruppe der britischen Luftstreitkräfte. Knapp 170 Frauen (1/8 aller Piloten) verrichteten dort freiwilligen Dienst. Ihre Aufgabe war es, neue und ausgebesserte Flugzeuge aus Fabriken und Reparaturwerken zu den Militärflugplätzen in ganz Groβbritannien zu überführen. Jadwigas Leidenschaft waren die 600 km/h schnellen Spitfire Jagdflugzeuge. Knapp eintausend Flugstunden absolvierte sie damals an den Steuerknüppeln verschiedenster Flugzeuge, wurde zum Leutnant befördert.

Mit Eheman Andrzej Jaraczewski
Mit Ehemann Andrzej Jaraczewski

Ende 1944, als sich die Kampfhandlungen mittlerweile weiter weg von Groβbritannien abspielten, quittierte sie den Dienst. Die Pilotin heiratete einen Seemann, den Schnellbootkapitän Andrzej Jaraczewski. Insgesamt kämpften 200 Tausend polnische Soldaten als Flieger, Seeleute und Infanteristen der polnischen Exilregierung in London unterstellt, zwischen 1940 und 1945 an der Seite der Briten: bei der Luftschlacht um England, in Norwegen (Narvik), Nordafrika (Tobruk), in Italien (Monte Cassino, Bolognia), Frankreich (Falaise), Holland (Arnheim) und Norddeutschland (Wilhelmshaven).

Viele von ihnen konnten und wollten nach 1945 nicht in das von den Sowjets eroberte, kommunistische Polen zurückkehren, weil ihnen dort Verhaftungen, bestialische Verhöre in den Folterkellern der politischen Polizei, langjährige Gefängnisaufenthalte, Hinrichtungen drohten. Es sei denn, man leistete Spitzel-Dienste, lieβ sich das moralische Rückgrat brechen, in dem man sich von seinen Idealen lossagte, war bereit, als „politisch unzuverlässig“ auf Karriere zu verzichten, unter Beobachtung zu stehen.

Die Briten erlaubten ihnen zu bleiben, aber die einstigen Verbündeten blieben sich selbst überlassen. Nun galt es, ohne viel Pathos, Haltung zu bewahren. Polnische Generäle und Offiziere hielten sich als Nachtportiers, Lagerverwalter, Gärtner, Barkeeper über Wasser, und pflegten, so gut es ging, das vielfältige polnische Emigrantenleben mit seinen unzähligen Einrichtungen und Institutionen.  Dazu gehört bis heute das Londoner Józef-Piłsudski-Institut mit seinen Forschungsarbeiten und Sammlungen. Piłsudskis Witwe Aleksandra (sie starb 1963 in London) und beide Töchter haben es mitaufgebaut, genauso wie das gleichnamige Institut in New York.

Die Tochter Wanda (sie starb 2001 in Warschau) war eine erfolgreiche Psychiatrie-Ärztin. Ihre Schwester Jadwiga verdiente sich das Emigranten-Brot zuerst als Architektin. Anfang der 50er Jahre gründete sie mit ihrem Mann eine Firma, die zuerst Lampen, dann auch Möbel erfolgreich entwarf und verkaufte. Haltung bewahren, hieβ auch: knapp ein halbes Jahrhundert lang mit einem Flüchtlings-Pass zu leben ohne die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen.

Im Herbst 1990 kamen alle drei: Wanda, Jadwiga und ihr Mann Andrzej Jaraczewski (er starb 1994) zurück nach Polen. Der damalige Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki wartete mit einem Blumenstrauβ am Flughafen. Ein groβer Bahnhof, auf den ein bescheidenes und unauffälliges Leben in Warschau folgte.

Alles in diesem Leben der Drei drehte sich nun um den Rückkauf, die Renovierung und die Einrichtung eines Józef-Piłsudski-Museums in dem kleinen Herrenhaus „Milusin“ in Sulejówek bei Warschau, das der Marschall 1923 von seinen Soldaten geschenkt bekommen hatte. Es soll am 5. Dezember 2017, zum 150. Geburtstag des Marschalls eröffnet werden. Jadwiga Piłsudska wurde mit militärischen Ehren, im Beisein von Staatspräsident Komorowski, neben ihrer Schwester Wanda und ihrem Ehemann auf dem Warschauer Powązki-Friedhof beigesetzt.

© RdP




„Willkommen in Warschau, Herr Sikorski“

Der deutschlandpolitische Schmusekurs der Regierung Tusk stößt nicht bei allen Beobachtern in Warschau auf Verständnis.

Der Publizist Marek Magierowski gab diese Befindlichkeit wieder, indem er im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 28. Juli 2014 seine Glosse, siehe oben, auf Deutsch betitelte.

Seiner Zeit, so Magierowski, „lud Auβenminister Radosław Sikorski den deutschen Auβenminister Frank-Walter Steinmeier auf seinen Landsitz in Chobielin bei Bydgoszcz ein. Steinmeier revanchierte sich am letzten Mittwoch (23. Juli 2014 – Anm. RdP), indem er ihn aus Brüssel nach Warschau mitnahm.
Auf dem offiziellen Twitter-Konto des Auswärtigen Amtes tauchte eine Serie von Fotos aus dem Inneren der Maschine und von der Ankunft auf dem Warschauer Okęcie-Flughafen auf, wo der Botschafter Deutschlands Rolf Nikel die beiden Gentlemen in Empfang nahm“.

Soweit so gut, meint der Autor, denn: „Eigentlich verlief alles gemäß dem diplomatischen Protokoll. Eigentlich sind unsere Staaten Verbündete und arbeiten auf vielen Feldern zusammen. Eigentlich sind Sikorski und Steinmeier befreundet. Dementsprechend dürfte es keinen Anlass zur Verwunderung, geschweige denn zur Empörung geben“, gibt Magierowski zu bedenken.

Dennoch habe er die Fotos mit wachsendem Staunen betrachtet und schreibt:

„Da kommt der Auβenminister der Republik, der sich auf einer Dienstreise befindet, nach Warschau zurückgeflogen, an Bord einer Luftwaffen-Maschine, als Gast seines Kollegen aus Deutschland. Auf dem Rollfeld begrüβt ihn der Vertreter der Regierung in Berlin. Ein durchschnittlich aufgeweckter Student der Internationalen Beziehungen hätte wahrscheinlich ein besseres Gefühl dafür gehabt, was sich in der Diplomatie gehört und was man lieber lassen sollte. Besonders im Falle der Beziehungen zu Deutschland, das von vielen Europäern als ein Land angesehen wird, das den ganzen Kontinent herumkommandiert und diesem mit Vehemenz seinen Willen aufzwingt“, stellt Magierowski fest, und fährt fort:
„Könnt ihr euch den Auβenminister Griechenlands vorstellen, der mit einer deutschen Regierungsmaschine nach Athen kommt und vom dortigen deutschen Botschafter begrüβt wird? Noch am selben Tag würden ihn die Medien in Stücke reissen.

Nur, der griechische Minister kämpft nicht um einen Posten in Brüssel.“

Anmerkung RdP

Auβenminister Sikorski machte sich im Sommer 2014 groβe Hoffnungen auf den Posten des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (umgangssprachlich EU-Auβenminister genannt). Sikorski wurde letztendlich von seinem Chef, Ministerpräsident Donald Tusk, der lange stillhielt und so tat, als sei er an EU-Posten nicht interessiert, ausgetrickst. Frau Merkels Favorit Tusk bekam den Posten des EU-Ratspräsidenten, was Sikorskis Vorhaben automatisch zunichte machte.Tusks Nachfolgerin, Ministerpräsidentin Ewa Kopacz, entließ Sikorski aus dem Kabinett und schob ihn auf den Posten des Sejm-Präsidenten ab.

RdP




Kalte Winde aus dem Osten

Russsiches Embargo. Polnische Bauern fühlen sich im Stich gelassen.

Sanktionen, die Russland zuerst gegen polnische und bald darauf gegen Agrarprodukte aus allen EU-Ländern im Sommer 2014 verhängt hat, veranlassten den Agrarexperten und Europaabgeordneten der Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) Janusz Wojciechowski zu einer kritischen Bestandsaufnahme der, wie er meint, (Un)Tätigkeit der Regierung und insbesondere des Landwirtschaftsministers Marek Sawicki von der (koalitions)Bauernpartei PSL in dieser Angelegenheit. Wojciechowski schrieb in der Tageszeitung „Nasz Dziennik“ („Unser Tagblatt“) vom 19. August 2014 u.a.:

Agrarexperte und Oppositionspolitiker Janusz Wojciechowski
Agrarexperte und Oppositionspolitiker Janusz Wojciechowski

Warum hat Russland ein Einfuhrverbot für Agrarerzeugnisse aus Polen und danach aus der ganzen EU verhängt? Die Politiker der Bauernpartei PSL (der mitregierenden kleinen Koalitionspartei in der Regierung Tusk – Anm. RdP), die seit sieben Jahren die Macht über die polnische Landwirtschaft haben, behaupten, schuld daran seien die Besuche polnischer Politiker während der Proteste auf dem Maidan in Kiew. In Wirklichkeit setzt Moskau eine Politik um, die der (am 10. April 2010 bei Smolensk tödlich verunglückte – Anm. RdP) Staatspräsident Lech Kaczyński (bei seinem spektakulären öffentlichen Auftritt in Tiflis/Tibilissi am 12. August 2008, als russische Panzer auf die Stadt rollten – Anm. RdP) zutreffend umschrieben hat: „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten und danach Polen“. Sich dieser Politik entgegenzustellen ist eine Frage der polnischen Souveränität. Wir müssen die Unabhängigkeit der Ukraine unterstützen, sonst haben wir Russland bald an unseren Grenzen. Das Embargo ist Bestandteil der russischen imperialen Politik. Die Anwesenheit des einen oder anderen Politikers auf dem Maidan hat in diesem Fall wahrlich nicht die geringste Bedeutung.

Krise vor dem Embargo

Die Probleme in der polnischen Landwirtschaft haben nicht mit dem russischen Embargo begonnen. Noch vor seiner Verhängung hatten die Landwirte in diesem Jahr groβe Mühe Weichobst (Johannisbeeren, Sauerkirschen), Fleisch, Milch und Getreide abzusetzen. Die Abnahmepreise sind sehr stark gefallen. Deutlich zu erkennen waren ungestrafte Preisabsprachen groβer verarbeitender Firmen und Handelsketten zu Ungunsten der Landwirte. (…) Hinzu kommt die Auswirkung von Armut, die den Absatz einiger Agrarprodukte eingeschränkt hat. So ist z. B. der Pro-Kopf-Verbrauch von Schweinefleisch in den sieben Jahren des Amtierens der jetzigen Regierung um acht Kilogramm gefallen. Wären da nicht die Armut und der reduzierte Verbrauch, wir könnten einen Groβteil dessen verzehren, was wir nicht exportieren dürfen.

Deutschland glimpflich davongekommen

Das russische Embargo berührt beinahe die Hälfte der EU-Agrarexporte nach Russland im Wert von 5,25 Mrd. Euro. Die EU-Agrarausfuhren nach Russland beliefen sich 2013, laut Eurostat-Angaben, auf 11,37 Mrd. Euro. Davon entfielen auf Deutschland 1,91 Mrd., auf die Niederlande 1,41 Mrd., auf Litauen 1,25 Mrd. und auf Polen 1,07 Mrd. Euro. Deutschland ist der gröβte europäische Agrarexporteur nach Russland, doch das Embargo trifft nur etwa ein Viertel seiner Ausfuhren im Wert von 595 Mio. Euro. Mit 927 Mio. Euro werden die russischen Sanktionen am empfindlichsten Litauen treffen. Für das kleine Land gleicht das einer Tragödie. An zweiter Stelle liegt Polen. Etwa 80% unserer Agrarexporte nach Russland im Wert von 841 Mio. Euro sind vom Embargo betroffen. Nicht wenige Verluste werden auch die Niederlande (528 Mio. Euro), Dänemark (377 Mio.), Spanien (338 Mio.), Belgien (281 Mio.) und Frankreich (244 Mio. Euro) verbuchen. Die genannten Zahlen sind nicht gleichzusetzten mit den Verlusten der jeweiligen Landwirte und Lebensmittelfirmen. Sie werden geringer ausfallen, da es wahrscheinlich gelingen wird einen Teil der blockierten Ausfuhren woanders zu verkaufen. (Die tatsächlichen polnischen Verluste werden offiziell inzwischen auf 500 Mio. Euro beziffert – Anm. RdP). Fazit: während es Litauen und Polen schwer getroffen hat, ist Deutschland glimpflich davongekommen und im Agrarhandel mit Russland weiterhin stark präsent. Die EU muss helfen. (…) So wie sie das 2011 getan hat, als der Gemüsemarkt zusammenbrach, weil deutsche Gurken mit E.coli-Bakterien verseucht waren. Damals hat auch Polen Kompensationszahlungen der EU in Höhe von 46 Mio. Euro bekommen. Leider gab es viele Ungereimtheiten bei der Umverteilung dieses Geldes, u.a. wurden in der Woiwodschaft Świętokrzyskie (Region in Mittelpolen um die Stadt Kielce – Anm. RdP) einige Tausend Feldgemüsebauern nicht berücksichtigt.

Der Minister lässt sich Zeit

Trotz groβer Versprechungen im Vorfeld, kam Landwirtschaftsminister Marek Sawicki vor einigen Tagen mit leeren Händen aus Brüssel zurück. Eventuelle Entscheidungen über Entschädigungen für Landwirte sollen erst im September fallen. Sawicki prahlte aber damit, dass er einen der zuständigen EU-Kommissare „aufgerüttelt“ hat. Kein Wunder, dass die EU schlummert, sie wurde ja von der polnischen Regierung systematisch eingelullt. Oppositionsführer Jarosław Kaczyński hat noch im April 2014 in einem Brief Ministerpräsident Tusk gewarnt, dass ein russisches Embargo drohe und man sich darauf gut vorbereiten sollte. Tusk hat nicht reagiert und der in seinem Namen antwortende Landwirtschaftsminister Sawicki höhnte und beteuerte, dass es kein Embargo geben wird. Noch am 2. Juli 2014 sprach er öffentlich davon, dass kein Embargo drohe und würgte alle diesbezüglichen Fragen ab, weil sie angeblich das Embargo heraufbeschwören würden. Während er seine hochmütigen Behauptungen in die Welt hinausposaunte ging wertvolle Zeit verloren. Die EU hätte schon im Vorfeld aktiv werden können, früher nach Ersatzabsatzmärkten Ausschau halten und die Landwirte hätten sich besser vorbereiten können.

Wo ist der Ministerpräsident?

Wir verzeichnen in Polen bei fast allen Agrarprodukten einen enormen Zusammenbruch der Nachfrage. Wir haben es nicht nur mit dem russischen Embargo zu tun, sondern auch mit der Afrikanischen Schweinepest, die sich von heute auf morgen in ganz Polen verbreiten und unsere Schweinezucht endgültig vernichten kann. Und wo ist Ministerpräsident Tusk? Im verlängerten Urlaub? In solchen Fällen muss der Regierungschef tätig werden. Er sollte schon längst in Berlin gewesen sein, wo sich (und nicht in Brüssel) die eigentliche EU-Hauptstadt befindet, und dort um die Zustimmung zur Entschädigung der polnischen Bauern nachsuchen. Er hat ja angeblich so gute Beziehungen zu Angela Merkel, dann soll er sie auch nutzen! Doch der Ministerpräsident ist abwesend, aber selbst wenn er da wäre, das Wort „Landwirtschaft“ nimmt er ja grundsätzlich nicht in den Mund. Das Landvolk ist nicht seine Wählerschaft. Der Ministerpräsident des gröβten europäischen Agrarstaates hat angesichts der seit Jahren gröβten Agrarkrise nichts, aber auch gar nichts, zu sagen. Stattdessen schickt er Landwirtschaftsminister Sawicki vor, der nicht in der Lage ist auch nur irgendetwas zu bewirken. Abgesehen von den Versäumnissen der Regierung sollte man hoffen, dass die EU-Hilfe kommt. (…). Doch wir müssen uns auch selbst helfen. Die gröβte Bedrohung für die Landwirte sind Kredite, die sie wegen fehlender Einnahmen nicht werden zurückzahlen können. Die Partei Recht und Gerechtigkeit hat daher einen Gesetzentwurf eingebracht, der ein einjähriges Moratorium für Darlehensrückzahlungen vorsieht. Hierzu müssten die Betroffenen einen Antrag stellen, der durch den Ortsvorsteher zu beglaubigen wäre. Auf diese Weise könnten viele Bauern der Zwangsversteigerung entgehen. Die Zinsen würden zwar weiterhin berechnet, doch würde man die aufgelaufenen Zinsen anschlieβend zu den Verlusten hinzurechnen und mit den EU-Kompensationszahlungen begleichen. Kommen die EU- Hilfen nicht, dann erfolgt der Ausgleich aus dem polnischen Staatshaushalt. So kann man den Landwirten helfen die Krise zu überstehen. Russland hat politische Sanktionen angewandt und daher muss man auch politisch antworten, im Geiste der europäischen und innerpolnischen Solidarität. Wir alle, nicht nur die Bauern, müssen der Gerechtigkeit halber die Kosten der Krise, die das Embargo hervorgerufen hat, tragen. Auf längere Sicht jedoch, müssen wir uns auf einen Wechsel der Absatzmärkte gefasst machen. Auf den russischen Markt kann man nicht zählen, weil aus dem Osten leider sehr kalte Winde wehen… RdP