Geld, Gerät, GI’S und der eiserne Riegel

Polens korrigierte Verteidigungsdoktrin.

Mit dem Krieg in der Ukraine steigen die polnischen Verteidigungsausgaben stetig und die Polen, das Schicksal der Ermordeten von Butscha und Irpin vor Augen, nehmen das billigend in Kauf.

In einer Umfrage, die Anfang April 2023 das Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk”) in Auftrag gab, wurde gefragt, welche Art von Armee Polen haben sollte. Nur 32 Prozent der Befragten antworteten, dass eine Armee, die das Land so lange verteidigen kann, bis  die Alliierten Polen zur Hilfe kommen, ausreicht. Dagegen waren 68 Prozent der Meinung, dass es eine Armee geben muss, die in der Lage wäre, einen feindlichen Angriff aus eigener Kraft abzuwehren.

Daraus lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ziehen. Die Polen unterschätzen den Krieg in der Ukraine nicht und er macht ihnen Angst. Diese Angst jedoch, und das ist eine weitere Beobachtung, lähmt sie nicht und macht sie nicht zu Defätisten, die zu weitreichenden Zugeständnissen bereit wären, nur um sich in einer trügerischen Sicherheit wähnen zu können. Für die meisten Polen ist die Verteidigung ihres Landes, das bekunden sie zumindest, eine selbstverständliche Antwort auf einen möglichen Überfall.

Und schließlich die vielleicht wichtigste Schlussfolgerung. Polen sollte sich in einem eventuellen Krieg in erster Linie auf sich selbst verlassen. Das zeigt schlussendlich, dass die Polen in der Lage sind, aus dem bisherigen Verlauf des Krieges in der Ukraine und aus ihrer eigenen Geschichte zu lernen.

Ernüchterung

Der Krieg wirkte ernüchternd und hat so manche frühere polnische Illusion zunichtegemacht. Die Ukraine war in der Lage gewesen, den russischen Überfall in den ersten Kriegswochen aus eigener Kraft abzuwehren. Erst dann erhielt sie nennenswerte militärische Unterstützung. Vorher bekam der ukrainische Botschafter in Berlin von deutschen Spitzenpolitikern, wie Christian Lindner, zu hören „Euch bleiben nur wenige Stunden“ und deswegen könne man nur humanitären Beistand leisten.

Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass es versteckte, aber erhebliche Unterschiede in der Politik der einzelnen Nato-Mitglieder im Umgang mit dem Aggressor gibt. Während die am stärksten bedrohten Staaten Ostmitteleuropas eine entschlossene Reaktion forderten, reagierten andere, vor allem Deutschland und Frankreich, mit Zögern und Zaudern, in der Hoffnung, mit Moskau bald einen Deal machen zu können, selbst wenn das auf Kosten der Ukraine gehen sollte. Bei vielen Polen weckte das sofort Assoziationen an die Vergangenheit, als verschiedene europäische Mächte, trotz Unterstützungszusagen, Polen den Aggressoren zum Fraß vorwarfen.

Ein solches Verhalten der Franzosen, Deutschen und manch anderer in Westeuropa gibt Anlass zur Sorge. Es stellt deren Glaubwürdigkeit als  Verbündete in Frage und untergräbt das Vertrauen innerhalb der Nato. Wird sich ihre Reaktion nicht, wie im Falle Englands und Frankreichs im September 1939, in leeren Gesten erschöpfen? Die haben damals zwar dem Dritten Reich den Krieg erklärt, aber zu Hilfe gekommen sind sie dem überfallenen Polen nicht.

Umso mehr als der berühmte Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, der im Falle eines Angriffs zur Anwendung kommt, von der Verpflichtung der Vertragsparteien spricht, Maßnahmen zu ergreifen, die sie als notwendig erachten, um einem angegriffenen Verbündeten beizustehen. Das muss nicht unbedingt militärisches Eingreifen sein. Man kann sich auch, wie Deutschland zu Beginn des Ukrainekrieges, darauf beschränken, 5.000 Helme zu schicken. Zumal der lang anhaltende Frieden und der daraus resultierende Wohlstand  Westeuropa geistig demobilisiert und militärisch impotent gemacht haben.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die Nato wenig wert ist. Sie ist viel wert. Das aber nur, wenn sich das Bündnis weiterhin nicht nur auf Berlin, Paris und einige andere Partner stützt, die mut- und hoffnungslos die eigene Sache für aussichtslos halten und glauben, ohne Russland nicht auskommen zu können. Hätten allein sie das Sagen, stünde Putin schon längst an der polnischen Grenze. Daran gibt es leider keinen Zweifel. Deswegen gilt, frei nach Vergil, die Einschränkung, „traut nicht den Deutschen, auch wenn sie eine Zeitenwende verkünden”.

Hilf dir selbst, dann hilft dir Amerika

Die Stärke und Lebenskraft der Nato wird nach wie vor von den Vereinigten Staaten bestimmt, zu denen die Polen mit wesentlich mehr Vertrauen aufschauen als so manche westeuropäische Bündnismitglieder. Nur sind die Amerikaner ziemlich weit weg und haben nicht nur Probleme mit Russland, sondern auch mit China. Gerade deshalb muss sich Polen selbst helfen, damit ihm die Amerikaner helfen wollen und können.

Die ukrainische Erfahrung beeinflusst heute stark das Denken amerikanischer Strategen. Das „Wall Street Journal” veröffentlichte Anfang April einen Artikel von John Bolton, eines Diplomaten und zeitweisen Beraters von Donald Trump. Bolton schrieb unter anderem, dass die Vereinigten Staaten in erster Linie auf jene Verbündeten setzen sollten, die Amerikas Stärke stärken, also auf aktive und gut bewaffnete Verbündete, die in der Lage sind, einen Angriff aus eigener Kraft abzuwehren. Denn nur sie sind es wert, dass man ihnen hilft. Da ist kein Platz für Abtrünnige, die kostenlos vom amerikanischen Militärschirm profitieren. In dieser Denkweise, die auch von Joe Bidens demokratischem Team weitgehend geteilt zu werden scheint, macht der Aufbau einer starken Armee Polen zu einem wertvollen und schützenswerten Partner für Amerika.

Die Zahl der amerikanischen Truppen in Polen, die heute auf über 10.000 geschätzt wird, mag nicht überwältigend sein, aber drei Dinge sind erwähnenswert.

Erstens: Amerikanische GIs sind in Polen stationiert, was noch vor wenigen Jahren undenkbar schien.

Zweitens: In Poznań wurde ein vorgeschobenes Kommando des V. Landkorps der US-Armee eingerichtet, der erste ständige Stützpunkt der amerikanischen Streitkräfte auf polnischem Territorium.

Drittens: Seit Anfang April gibt es in Powidz, etwa 80 Kilometer östlich von Poznań, ein Dienstleistungs- und Rüstungslager der US-Armee, das schon bald mehrere Tausend Panzer und Kampffahrzeuge beherbergen soll. So wird sich die amerikanische Reaktionszeit auf eine russische Bedrohung von anderthalb Monaten auf wenige Tage verkürzen. Es wird lediglich erforderlich sein, die GI-Besatzungen nach Polen zu verlegen.

Umsonst kann man nicht in Frieden  leben

Die amerikanische Unterstützung bekommt dadurch einen greifbaren Charakter, der nicht nur mit der Verschärfung der Lage in Europa, sondern auch mit dem Aufbau der Glaubwürdigkeit Polens als Verbündeter zusammenhängt. In diesem Sinne ist auch die Verteidigungspolitik der derzeitigen Regierung zu verstehen, die davon ausgeht, dass Polen in diesem Jahr über 130 Milliarden Zloty (ca. 28.2 Milliarden Euro) für das Militär ausgeben wird. Das sind etwa 4 Prozent des polnischen BIP und damit doppelt so viel wie das auf dem Nato-Gipfel im September 2014 in Newport/Wales festgelegte Minimum von 2 Prozent. Im Jahr 2022 gehörte Polen mit Ausgaben in Höhe von 2,45 Prozent des BIP bereits  zu den lediglich neun NatoMitgliedern, die ihre Verpflichtungen erfüllten.

Durch den Krieg in der Ukraine wird der Unterhalt der Armee immer teurer, aber es gibt keine Alternative. Denn die Alternative zu diesen Kosten könnte das Schicksal der ermordeten Einwohner von Butscha und Irpin sein. Mit anderen Worten: umsonst kann man nicht in Frieden leben.

Eine Brandmauer

Die Aggression Moskaus gegen die Ukraine hat viele bisherige Verteidigungspläne auf den Kopf gestellt. Bisher war man davon ausgegangen, dass die Hauptverteidigungslinie gegen einen Angriff aus dem Osten entlang der Weichsel verlaufen würde. Die polnische Armee sollte dort kämpfend auf die Unterstützung der Alliierten warten.

Heute wissen wir viel mehr. Erstens ist klar, dass eine solche Strategie mit dem Abschlachten von Zivilisten in den von Moskau besetzten Gebieten enden könnte, wie man es in der Ukraine gesehen hat. Zweitens darf man nicht erwarten, dass die Unterstützung der Alliierten vollständig und sofort erfolgt. Ohne die amerikanische Präsenz, müsste Polen möglicherweise sehr lange darauf warten. Und es wäre nicht sicher, dass die Russen bis dahin nicht Warschau eingenommen und eine ihnen genehme Marionettenregierung eingesetzt hätten.

Jetzt müssen die Verteidigungspläne, unter Berücksichtigung der Geschehnisse in der Ukraine, neu erstellt werden. Es kommt nicht mehr in Frage, den Feind auf polnisches Gebiet einzulassen. Dazu bedarf es  einer starken Brandmauer aus Raketenartillerie und Panzern. Ein eiserner Riegel soll durch den Kauf von 506 amerikanischen HIMARS-Raketenwerfern, die Raketen mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern abfeuern können, und 218 südkoreanischen K239 Chunmoo Geschosswerfern (Reichweite je nach Rakete bis zu 290 Kilometer) geschaffen werden.

Die ersten der 20 HIMARS-Raketenwerfer, die Polen 2019 bestellt hat, werden im Mai bzw. Juni 2023 eintreffen, aber auf die nächsten 486 wird man noch einige Jahre lang warten müssen. Genau aus diesem Grund hat man entschieden, zusätzlich südkoreanische Raketenwerfer zu kaufen, die schneller beschafft werden können. Im September werden 18 K239 Chunmoo zur Bewaffnung der 18. mechanisierten Division gehören, und der Rest soll bis 2027 nach und nach an Polen geliefert werden.

Auch Panzer, die von vielen Theoretikern der Kriegskunst vorschnell zum Aussterben verurteilt wurden, haben bewiesen, dass sie in den europäischen Ebenen noch immer unverzichtbar sind. Zumal ein potenzieller Gegner seine Bodentruppen gerade auf gepanzerte Waffen und Artillerie stützt. Polen, das den größten Teil seiner T-72- und PT-91-Twardy-Panzer an die ukrainische Armee abgegeben hat, gleicht das Defizit nun durch den Kauf von wesentlich moderneren Waffen aus.

Dabei handelt es sich vor allem um schwere Abrams-Panzer. Premierminister Morawiecki, der Mitte April 2023 das Werk in Alabama besuchte, in dem die Abrams-Panzer hergestellt werden, bestätigte, dass die ersten Fahrzeuge im Juni in Polen eintreffen werden. Dabei handelt es sich um eine Charge von 14 aufgerüsteten Panzern aus dem Bestand der Marines. Insgesamt hat Polen 116 solcher Maschinen gekauft. Die USA werden außerdem 250 Abrams in der neuesten Version liefern, wobei die Lieferungen 2026 enden sollen.

Das ist noch nicht alles an Panzerwaffen, denn jetzt kommt der südkoreanische K2-Panzer ins Arsenal – ein leichterer, weniger gepanzerter, aber hoch automatisierter Panzer mit einer Langstrecken-Kanone, die einen besseren Schutz vor feindlichem Feuer ermöglicht. Es sollen 1.000 solcher Panzer angeschafft werden, von denen mindestens die Hälfte in Polen, in den Militärischen Motorenwerken (WZM) in Poznań hergestellt werden soll.

Zu den Panzerwaffen gehören die Kanonenhaubitzen vom polnischen Typ Krab und ihre koreanischen Gegenstücke vom Typ K9, die zur Beschleunigung der Modernisierung der Armee angeschafft wurden. Ende März 2023 unterzeichnete die Regierung außerdem einen Vertrag über die Lieferung von 1.400 der neuesten Borsuk-Schützenpanzer des polnischen Herstellers Huta Stalowa Wola.

Solche Waffen hatte Polen noch nie

Obwohl die Verstärkung der Landstreitkräfte, wie die ukrainischen Erfahrungen zeigen, Vorrang hat, geht es bei den Anschaffungen auch um andere Waffen. Im kommenden Jahr werden polnische Piloten hinter dem Steuer des modernsten Flugzeugs der fünften Generation, der amerikanischen F-35 sitzen. Ursprünglich war die Pilotenausbildung in den USA für zwei Jahre geplant und die Maschinen sollten 2026 in Polen in Dienst gestellt werden, aber unter den aktuellen Umständen soll der Termin vorverlegt werden. Die neuen Flugzeuge, aber auch die  älteren F-16, die die polnische Luftwaffe bereits besitzt, sollen mit den neuesten JASSM-XR-Raketen mit einer Reichweite von bis zu 1.800 Kilometern bewaffnet werden, die gerade in den Werken von Lockheed Martin in Produktion gehen.

Polen hat noch nie eine Waffe mit solch einer Reichweite besessen. Und es geht nicht nur darum, mit diesen Raketen Moskau zu treffen, sondern auch darum, dass die Flugzeuge im Falle eines Angriffs an der polnischen Grenze Ziele aus einer sehr sicheren Entfernung, nämlich außerhalb der Reichweite des Feindes, treffen könnten.

Hinzu kommen ebenfalls südkoreanische Flugzeuge des Typs FA-50, die bereits in diesem Jahr auf dem Stützpunkt in Minsk-Mazowiecki unweit von Warschau eintreffen werden, sowie AW101 Merlin-Seehubschrauber und AW149-Mehrzweckhubschrauber. Derweil bereitet sich das polnische Verteidigungsministerium auf Gespräche über die Lieferung von Apache-Kampfmaschinen und MQ-9B Reaper-Drohnen vor. Andere Drohnen, die berühmten türkischen Bayraktar TB2, sind bereits auf dem Stützpunkt in Mirosławiec in Pommern eingetroffen, wo die Ausbildung an der neuen Waffe begonnen hat.

Der Umbau der Luftverteidigung ist seit einigen Jahren im Gange, beginnend mit dem Mittelstreckensystem Vistula (Patriot-Batterien) und endend mit dem Kurzstreckensystem Pilica Plus.

Auch zur See gibt es Veränderungen: Minenzerstörer vom Typ Kormoran II werden in Dienst gestellt. Drei von ihnen sind bereits im Einsatz, und die Produktion eines weiteren hat gerade begonnen. Dennoch bleiben die Seestreitkräfte das größte Sorgenkind der polnischen Armee. Ersatz für alle aus Altersgründen ausgemusterten U-Boote und für die zwei altersschwachen Fregatten ist nicht in Sicht.

Trotz aller Investitionen gibt es noch viel zu tun. Die polnische Armee braucht eine bessere Aufklärung, die nicht nur notwendig ist, um die Absichten des Feindes zu durchschauen, sondern auch, um weit entfernte Ziele für die eigene Artillerie und Raketen ausfindig zu machen. Die Luft- und Seeverteidigung muss kontinuierlich verstärkt werden. Und schließlich müssen Zehntausende von Soldaten gefunden und ausgebildet werden, um das alles zu bewältigen.

Vielleicht wäre dieser Aufwand heute geringer, wenn die Regierung Donald Tusk in den Jahren 2007 bis 2015 im Rahmen eines aufgezwungenen Reset mit Russland die polnische Armee im Osten des Landes nicht entwaffnet hätte. Fast alle militärischen Standorte östlich der Weichsel wurden geschlossen, die wenigen verbliebenen hatten Symbolcharakter. Die gesamte polnische Armee mit 60.000 Soldaten und Offizieren konnte bequem im Warschauer Nationalstadion Platz finden. Heute zählt sie knapp 170.000 Mann. Deswegen ist es so wichtig, die Verteidigungskapazitäten wieder aufzubauen, und zwar in einem beschleunigten Tempo. Dabei weiß niemand, wie viel Zeit Polen dafür bleibt.

© RdP

 

 




1.03.2022. Österreichs tiefer Knicks vor Putin

Wien war am 23. und 24. Februar 2023 Schauplatz der Wintertagung der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die 1995 gegründete OSZE ist die größte regionale Sicherheitsorganisation der Welt. Der Parlamentarischen Versammlung (PV) gehören 323 Abgeordnete aus 57 Staaten an. Die diesjährige Winterberatung fand am Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine statt.

Bei vorangegangenen OSZE-Treffen hatten die Gastgeber Großbritannien und Polen keine Russen einreisen lassen. Trotz etlicher Bitten und Appelle es genauso zu halten, haben die österreichischen Behörden russische Vertreter eingeladen, um „die Tür der Diplomatie nicht zuzuschlagen“. Es kamen neun russische Abgeordnete, von denen sechs auf Brüsseler Sanktionslisten stehen und eigentlich mit einem Einreiseverbot in die EU belegt sind. Darunter Delegationschef und Duma-Vizepräsident Pjotr Tolstoi sowie Leonid Sluzki, Leiter des Duma-Außenausschusses, beide begeisterte Verfechter der Krim-Besetzung und des Ukraine-Krieges.

Um den russischen Gästen Unannehmlichkeiten durch Proteste vor dem Haupteingang zu ersparen, wurden sie durch eine Hintertür in den Tagungsort, die Hofburg am Wiener Heldenplatz, gelotst. Medien waren bei dem zweitägigen Termin nicht erlaubt. Die zu erwartenden Teilnehmer-Proteste im Tagungssaal sollten möglichst wenig Echo finden, wofür eine starr auf das Präsidium ausgerichtete Videoübertragung zu sorgen hatte. Offiziell kam wieder einmal die berühmte österreichische Schlitzohrigkeit zur Geltung, indem es hieß, man möchte verhindern, „dass russische Journalisten hineinkommen, um eine riesige Propagandashow zu machen“.

Die österreichischen Gastgeber taten allen Ernstes so, als würden sie wirklich daran glauben, dass Dialog und Diplomatie mit Russland unter den gegebenen Umständen möglich seien. Jedenfalls war ihnen die Anwesenheit der Russen wichtiger als die der Ukrainer, die zu der Konferenz gar nicht erst angereist sind.

Doch es kam, wie es kommen musste. Statt Beratungen gab es permanent Aufruhr. Die Russen und die übrigen Teilnehmer verließen abwechselnd, unter Protest, den Saal. Es kam zu wüsten Beschimpfungen, flammende Manifeste ersetzten normale Redebeiträge. Dieses unwürdige Schauspiel drang auf verwackelten Handy-Aufnahmen nach außen und hinterließ einen üblen Nachgeschmack. Am Ende lag allen Beobachtern nur eins auf der Zunge: Außer Spesen nichts gewesen.

Das alles war leicht vorhersehbar. Wieso also haben sich die Österreicher darauf eingelassen? Die einzige plausible Antwort lautet, es sollte in Richtung Moskau ein deutliches Zeichen des Wohlwollens gesendet werden.

In Wien gefällt man sich in der Rolle des Vermittlers zwischen West und Ost. Dahinter verbergen sich diverse dubiose, milliardenschwere Geschäfte mit Moskauer Oligarchen, ergänzt durch zwielichtige Mafia- und Geheimdienstkontakte. Wien, einst Moskaus wichtigstes Spionagezentrum hinter dem Eisernen Vorhang, hat diesbezüglich bis heute nichts an Bedeutung eingebüßt.

Nicht zufällig war Bundeskanzler Karl Nehammer nach dem Kriegsausbruch der erste Regierungschef eines EU-Landes, der bereits Mitte April 2022 Putin in Moskau seine Aufwartung machte. Er ist bis heute der einzige geblieben.

Sein Amtsvorgänger Wolfgang Schüssel hatte erhebliche Mühe, sich nach dem Ukraine-Überfall von seinem mit 100.000 Euro pro Jahr dotierten Aufsichtsratsposten beim russischen Mineralölkonzern Lukoil zu lösen. Und bis Mai 2022 saß die ehemalige österreichische Außenministerin Karin Kneissl im Aufsichtsrat des russischen Mineralölkonzerns Rosneft. Noch im Amt, lud sie 2018 Russlands Präsidenten Wladimir Putin zu ihrer Hochzeit in die Steiermark ein. Nach einem gemeinsamen Tanz machte Kneissl einen tiefen Knicks vor ihm. Es war eine trotzige Demonstration der einflussreichen Position Russlands an der Donau.

Die angebliche österreichische Neutralität ist schon vor langer Zeit dauerhaft in eine prorussische Schieflage geraten. In Wien hat man sich bis heute nicht einmal dazu durchgerungen, eine 1949 im Stadtteil Meidling zu Ehren Stalins angebrachte Gedenktafel abzuhängen.

Sich mit Russland einlassen ist wie eine Kobra tätscheln. Ehe man sich umsieht, ist man schon  gelähmt. Deshalb ist Österreich heute Putins Fürsprecher.

RdP




Nachdenklicher Jude, begeisterter Israeli, Polens guter Freund

Am 3. Februar 2023 starb Schewach Weiss.

Der Ruf eines Freundes Polens und der Polen eilte ihm voraus. Er wurde in Israel oft zu Rundfunkdebatten eingeladen. Eines Tages erteilte ihm einer der Moderatoren mit der spitzbübischen Bemerkung das Wort: „Und jetzt wird uns Professor Weiss, wie gewohnt, etwas Gutes über Polen erzählen“.

Schewach Weiss, der ehemalige israelische Botschafter in Polen, war ein „Kind des Holocaust“, ein namhafter israelischer Politiker, Diplomat, Professor der Politikwissenschaften, Autor zahlreicher wissenschaftlicher und literarischer Bücher, Publizist. Mit unnachahmlicher Geduld und Gutmütigkeit setzte er sich jahrzehntelang für die Annäherung zwischen Polen und Israel ein und war eine Autorität in polnisch-jüdischen Angelegenheiten.

Gerührt, wieder in Polen zu sein

Weiss kam 1985 zum ersten Mal nach vierzig Jahren nach Polen zurück, um das ehemalige deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz zu besuchen. „Es war eine surreale Situation, eine Reise hinter den Eisernen Vorhang, in ein damals graues, tristes, kommunistisches Land. Aus politischen Gründen unterhielt Israel zu jener Zeit, seit 1967, keine diplomatischen Beziehungen zu Polen. Moskau hatte nach dem Sechstagekrieg seinen Satellitenstaaten befohlen, jegliche Beziehungen zu Israel abzubrechen, also musste sich auch Warschau dem anpassen. Nur Rumänien hatte sich nicht gebeugt.

Schewach Weiss in Auschwitz 1994.

Eine Gruppe ehemaliger jüdischer Kinder, Opfer von Dr. Josef Mengele und die das Lager überlebt hatten, reiste nach Auschwitz. Ihnen konnten die kommunistischen Warschauer Behörden die Einreise nicht verweigern. Sie sollten von zwei Mitgliedern des israelischen Parlaments begleitet werden. Wie durch ein Wunder erhielten auch wir beide polnische Visa und fuhren nach Auschwitz. Es war schrecklich, diejenigen zu begleiten, die furchtbare Gräueltaten als Kinder überlebt hatten. Sie zeigten uns, wo Mengele sie gequält hatte, was er ihnen angetan hatte. Für jeden, der auch nur einen Funken Menschlichkeit in sich trägt, ist ein erster Besuch in Auschwitz ein Schock. Für mich war es eine doppelt schreckliche Erfahrung, gerade wegen dieser Kinder. So etwas vergisst man nie“, berichtete Weiss Jahre später.

„Ich war gerührt, nach so vielen Jahren wieder in Polen zu sein. Mein Polnisch war nach all den Jahren zu einem grammatisch fehlerhaften und dürftigen Idiom verkommen, aber jedes polnische Wort, das ich hörte, fühlte sich an wie die Rückkehr in eine verlorene Kindheit“, erinnerte er sich.

Von 2000 bis 2003 war Weiss israelischer Botschafter in Polen. „Ich hätte es in mehreren anderen Hauptstädten sein können, aber ich habe mich entschieden, nach Polen zurückzukehren. Ich fühle mich zu diesem Land, das einst meine Heimat war, hingezogen, zu seiner Natur und Kultur, zur polnischen Sprache. Andererseits war es schwer zurückzukehren, weil es für uns ein furchtbar trauriger Ort ist. Hier hat sich die größte Tragödie unserer Nation abgespielt“, sagte Weiss damals.

Er begann seine diplomatische Mission in Warschau in einer schwierigen Zeit, als um Jedwabne, einem Ort in Nordostpolen, eine heftige Kontroverse ausbrach. Am 10. Juli 1941, etwa drei Wochen nach dem deutschen Einmarsch, fand dort ein Pogrom an der jüdischen Bevölkerung statt. Angestachelt und begleitet vom deutschen Einsatzkommando des SS-Hauptsturmführers Hermann Schaper, durchgeführt von mehreren Dutzend polnischen Einwohnern. Mindestens 350 Juden wurden getötet; die meisten von ihnen starben in einer in Brand gesetzten Scheune.

Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski in Jedwabne während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Pogroms.

Am 10. Juli 2001, während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag dieser Tragödie, entschuldigte sich Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski in Anwesenheit des israelischen Botschafters Schewach Weiss offiziell in eigenem und „im Namen der Polen, deren Gewissen durch dieses Verbrechen berührt wurde“. Am Rande der Feierlichkeiten in Jedwabne sagte Weiss: „Es gab auch andere Scheunen, in einer von ihnen habe ich mich mit Erfolg versteckt.“

Irena Sendler rettete etwa 2.500 jüdische Kinder.

„Unter den Polen gab es viele Retter. Einige, wie Irena Sendler, retteten Tausende, andere retteten Einzelne. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen, was unser Talmud lehrt: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“, sagte Weiss.

„Man wirft den Polen vor, nicht genug für die Rettung der Juden getan zu haben. Das sagen Leute, die keine Ahnung davon haben, in welchem schrecklichen Dilemma die Polen steckten, die Juden gerettet haben. Für Fremde mussten sie ihr eigenes Leben und das ihrer Familie riskieren, denn auf das Verstecken von Juden stand im okkupierten Polen die sofortige Todesstrafe für alle Familienmitglieder. Das gab es sonst nirgendwo im besetzten Europa. Die polnischen Gerechten waren große Helden. Aber niemand kann eine solche Haltung von der gesamten Gesellschaft verlangen“, schrieb er seinerzeit in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“.

Weiss protestierte scharf, als der Begriff „polnische Todeslager“ in westlichen Medien auftauchte. „Das ist eine schändliche Lüge und Niedertracht. Schließlich starben in diesen Lagern neben Juden auch Hunderttausende von Polen“, argumentierte er. „Das polnische Land, das für die Juden über achthundert Jahre lang ein Gebiet des gemeinsamen Lebens und des Friedens war, wurde von den Deutschen in ein verfluchtes Land verwandelt“.

21 Monate lang im Keller

Schewach Weiss wurde 1935 im damals polnischen Borysław (heute Ukraine) als Sohn eines vermögenden Lebensmittelhändlers geboren. Die Stadt zählte damals etwa 41.000 Einwohner, darunter ca. 13.000 Juden und war ein bedeutendes Zentrum der Erdölförderung.

„Bis 1939 hatte ich eine schöne Kindheit in Borysław: Mama, Papa, Familie, Bruder, Schwester, Opa eins, Opa zwei, Oma – fantastisch! Von September 1939 bis Juni 1941 war es hart, weil wir unter sowjetischer Besatzung waren, aber es war sehr gut, weil es nicht die deutsche Besatzung war.“

Glückliche Kindheit in Borysław. Schewach Weiss (im Kinderwagen), Mutter (i.d.M), Tante Fajga, Schwester Mila, Bruder Aarin.

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 1. Juli 1941 gelang der Familie Weiss die Flucht aus dem bald darauf eingerichteten örtlichen Ghetto. „Meine ganze Familie wurde gerettet, ohne die polnischen Helfer wäre das nicht möglich gewesen. Geliebte, wunderbare Menschen. Das sind meine Helden“, schrieb Weiss.

„Zuerst versteckten wir uns im Haus von Herrn und Frau Góral, dann im Haus von Frau Maria Potężna (phonetisch: Potenschna – Anm. RdP) und ihrem Sohn Tomasz. Sie waren unsere polnischen Nachbarn aus Borysław. Dann zogen wir in ein Versteck, eine Doppelwand, die mein Vater in unserem Haus gut vorbereitet hatte. Dort waren wir sieben bis acht Monate lang. Wir haben Frau Lasotowa, eine Ukrainerin, die Freundin meiner Mutter, gebeten, in unser Haus zu ziehen, ohne ihre Hilfe hätten wir nicht überleben können.“

Es gab dramatische Momente. „Eines Tages dachte ich, ich würde verrückt, ich schrie, ich will ein Bonbon haben. Mein Vater sagte zu mir wie zu einem Erwachsenen: »Schewach, wir sind hier acht, du wirst uns umbringen. Wenn du nicht still bist, werden wir dich erwürgen müssen.« In einer Sekunde hatte ich alles verstanden.“

Schewach Weiss mit Großvater Itzchak kurz vor Kriegsausbruch.

„Als die Deutschen gelernt hatten, dass man in solchen doppelten Wänden Juden aufspüren kann“, folgten weitere Verstecke: ein von Großvater Jitzchak eigens eingerichteter Kellerraum in einem Nachbarhaus, dann ein Kuhstall, schließlich die örtliche Kapelle. „In dem Keller lebten wir 21 Monate lang. Seine Deckenhöhe betrug maximal sechzig Zentimeter, wir sind dort nur auf allen vieren gekrochen. Manchmal konnten wir ihn nachts kurz verlassen. Das Essen warfen uns die Górals und die Potężnys durch ein kleines Kellerfenster rein. Frau Lasotowa betrieb einen Laden und versorgte uns mit Zigaretten und mit Benzin für den Feldkocher“, erinnerte sich Weiss.

„Und dann meine Mutter. Sie war eine Anführerin. Ihre Weisheit, ihr Sinn für Sparsamkeit, wie man das Stück Brot für acht Leute aufteilt, wie man aus einer Kartoffel eine Suppe macht, wie man einen Teller, eine Gabel und einen Löffel für acht Leute benutzt, wie man die Hygiene in diesem schrecklichen Loch aufrechterhält!“

Schewach Weiss Vater lebte bis 1992 in Israel, die Mutter bis 1999. Sie gehörten zu den etwa vierhundert Borysławer Juden, die überlebt hatten.

Auf Umwegen nach Israel

Am 14. Juli 1944 besetzte die Rote Armee Borysław erneut. „Wir hatten bereits zwei Wochen zuvor Kanonendonner gehört. Frau Lasotowa hatte uns einen Zettel zugeworfen, auf dem stand, was gerade passierte. Am Morgen des 14. Juli sahen wir die ersten sowjetischen Soldaten durch unser Fenster. Wir gingen langsam aus dem Keller. Auf der Straße standen Hunderte von Autos, Pferdewagen, Panzern, Soldaten. Wir sahen aus wie Höhlenmenschen, nur Haut und Knochen, lange Haare, wir waren alle schmutzig, verlaust und wankten. Zum ersten Mal seit zwei Jahren konnten wir aufrecht stehen, mein Bruder hielt mich aufrecht. Ich werde diesen Sonnenschein nie vergessen, die Luft war wunderbar, nicht feucht. Ein Essenswagen hielt an und wir bekamen heiße Erbsensuppe von einem sowjetischen Major. Als ich Botschafter war und mit meinem lieben Fahrer Wojtek durch Polen reiste, hielten wir immer am Straßenrand an, um Erbsensuppe mit Brot zu essen. Für mich ist das, das beste Essen der Welt.“

Bald darauf wurden die polnischen Ostgebiete der UdSSR einverleibt. Zwischen 1945 und 1946 zwangen die Sowjets beinahe die gesamte polnische Bevölkerung Ostpolens zur Ausreise hinter die neu gezogene polnische Ostgrenze. Die dabei angewandten Methoden: Drohungen mit Deportationen hinter den Ural, administrative Schikanen, willkürliche Enteignungen; hinzu kamen gewalttätige Übergriffe einer entfesselten Soldateska. Die meisten geretteten Juden, die, wenn sie nicht Kommunisten waren, unter denselben Repressalien zu leiden hatten, schlossen sich diesem Exodus an, so auch die Familie Weiss.

Sie landete im oberschlesischen Gliwice, vormals Gleiwitz, und zog bald darauf ins niederschlesische Wałbrzych, zuvor Waldenburg, wo sich, auf Anregung jüdischer Aktivisten, ein Sammelpunkt von Holocaust-Überlebenden bildete. Gut zweitausend von ihnen hielten sich um die Jahreswende von 1945 auf 1946 in der Kohlegrubenstadt auf.

Mit stillschweigender Duldung der kommunistischen Behörden agierten in Wałbrzych und an anderen Orten Polens Vertreter der „Bricha“, einer konspirativen Organisation mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung Ost- und Ostmitteleuropas, die den Holocaust überlebt hatte, ins britische Mandatsgebiet Palästina zu bringen. Insgesamt etwa 70.000 bis 80.000 Juden verlieβen bis 1948 das zerstörte, von kommunistischer Willkür gekennzeichnete Polen auf den Bricha-Routen, auf der Suche nach einem besseren Leben.

Weiss berichtete: „Von Wałbrzych gingen wir über die tschechische Grenze, dann in die Slowakei, nach Bratislava. Es folgten Wien, ein Flüchtlingslager bei Linz und in Innsbruck. Von da an war ich nur noch mit meiner Schwester unterwegs. Meine Mutter und mein Vater blieben in Österreich, um meinen Vater behandeln zu lassen. Er war in unserem Kellerversteck an Tuberkulose erkrankt. Dann Italien, und schließlich bin ich mit einem falschen Pass allein nach Palästina gegangen. Meine Schwester hat in Italien auf meine Eltern gewartet. Wir hatten Kontakt, schrieben uns Briefe, schickten Fotos, aber ich sah meine Eltern erst vier Jahre später, 1952, wieder.“

Traktorfahrer in der Kinderrepublik

Der siebzehnjährige Schewach Weiss, ein Kind des Holocaust, erreichte Palästina ein halbes Jahr vor der Ausrufung des Staates Israel im Mai 1948. „Ich kam mit dem Schiff und sah die Lichter von Haifa. Das gelobte Land. Ich fühlte mich wie Mose auf dem Berg Nebo. Ich war glücklich, ich konnte nicht glauben, dass es wirklich passiert.“

Es war die erste, heroische Phase des dauerhaften jüdischen Fußfassens im „Land der Urväter“, die vom Pathos des Kibbuzim-Kollektivismus stark geprägt war. Das galt auch für die Landwirtschaftsschule in Hadassim, wo Weiss seine ersten sieben Jahre in Israel verbrachte.

„Das Erziehungssystem dort war von den pädagogischen Ideen Janusz Korczaks beeinflusst, die einige der Juden aus Polen mitgebracht haben. Die Schule und ihr Internat waren fast eine unabhängige Kinderrepublik. Dort lebten die Kinder wichtiger zionistischer Führer, wohlhabender Juden, Kinder von Leuten, die aktiv und beschäftigt waren und wollten, dass ihre Kinder Bildung auf hohem Niveau genossen.

Es gab auch eine Gruppe von Holocaust-Kindern. Gemäß der Vereinbarung mit der »Sochnut« (der jüdischen Agentur, die sich mit Emigrationsfragen befasste) machten wir etwa zehn Prozent der Schüler aus. Wir mussten die Räume und die Toiletten sauber halten, wir hatten Dienst in der Küche, wir trugen das Essen in der Kantine aus, aber das Wichtigste war, dass wir jeden Tag vier Stunden gelernt und vier Stunden lang in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Ich war Traktorfahrer und sehr besorgt um mein Ansehen als Kind des Holocaust, denn wir wurden verächtlich »sabonim« – Seife genannt. Es war eine schreckliche Gedankenverknüpfung, aber Kinder kennen nun mal oft kein Erbarmen. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich keine Seife war. In Hadassim wurde ich der beste Sportler unter den jungen Israelis. Als Traktorfahrer fuhr ich übrigens einen alten polnischen „Ursus“-Traktor. Dann war ich in der Armee“.

Unteroffizier Weiss macht die größte Eroberung seines Lebens

In der Armee machte Schewach Weiss die größte Eroberung seines Lebens. „Zuerst sah ich sie 1956 auf der Titelseite einer sehr populären Wochenzeitschrift. Die Bildunterschrift lautete: »Ester Kachanowicz wurde zur schönsten Soldatin Israels gewählt«„.

Schewach Weiss, Ehefrau Ester, Sohn Noam 1976.

„Haben Sie sich in das Mädchen auf dem Titelbild verliebt?“, fragte ihn die Journalistin der Zeitschrift „Viva“ im Juli 2017 in einem Interview.

„Mehr oder weniger. Ich diente zu dieser Zeit in einem Kommando im Norden des Landes, war für die Fahrzeuglogistik und für Kulturveranstaltungen zuständig. Eines Tages kam Ester zu unserem Kommando. Alle waren verrückt nach ihr: der Arzt, der Pressesprecher, die Offiziere. Und ich war nur ein Unteroffizier. Aber das Schicksal hat mich begünstigt. Der Kommandant der Nordtruppen, General Jitzchak Rabin, ordnete an, dass nach dem Seder Pessach, dem Pessach-Essen, etwas für die Soldaten organisiert werden sollte. Ich wandte mich an Ester und sagte: »Hier hast du das Buch von Natan Alterman. Heute Abend wirst du dieses und dieses Gedicht lesen.« Sie war einverstanden.

Und so fing alles an. Ich war 20 Jahre alt. Nach drei Jahren haben wir geheiratet. Und viele Jahre später erzählte mir Ester, dass sie, als sie mich ihrer Mutter vorstellte, von ihr hörte: »Nimm ihn, er wird Premierminister«“. Ich wurde zwar nicht Premierminister, aber ich bin immerhin Vorsitzender der Knesset geworden. Und Premierminister Jitzchak Rabin sagte, wenn er uns sah: „Ich bin euer Ehestifter“.

General Jitzchak Rabin 1967.

Sie waren siebenundvierzig Jahre verheiratet. „Dreizehn Jahre lang kämpften wir um ihr Leben. Es gab keinen Ort in Israel, in Europa, in der Welt, an dem wir nicht waren. Ester ist am Valentinstag 2005 verstorben. In den letzten anderthalb Monaten ihres Lebens waren wir ständig zusammen. Ich schlief neben ihrem Krankenhausbett. Wir haben bis zum letzten Tag miteinander gesprochen. Ich habe bis zum Schluss auf ein Wunder gewartet.“

„Wie war Ester so?“, lautete eine weitere Frage.

„Intelligent, freundlich, gut, wunderschön. Ich habe Ester immer geliebt, aber ich war in Jerusalem, sie war in Haifa. Nach ihrem Tod liebe ich sie noch mehr. Ich vermisse sie sehr. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich Tag und Nacht bei ihr sein wollen, um sie nicht einmal für eine Sekunde zu verlassen.“

„Heilt die Zeit nicht die Wunden?“

„Nein, es wird immer schlimmer. Ich schaue auf ihren Platz am Tisch. Er ist leer. Ich habe morgens immer das Frühstück vorbereitet, jetzt gibt es niemanden, für den ich es machen könnte. Ich habe ihr Dutzende von Briefen geschrieben, sie mehrmals am Tag angerufen. Nach ihrem Tod habe ich im Haus nichts verändert. All ihre Sachen, Mäntel, Schuhe, Kleider sind noch so, wie sie sie hinterlassen hat. Freunde sagen: »Schewach, wechsle die Wohnung«.“

„Wäre es danach einfacher für Sie?“

„Aber ich will kein leichteres Leben haben. Meine Ester im Grab, und ich soll ein leichteres Leben führen? Ein Paar sollte gemeinsam sterben.“

Sein Mentor war Jitzchak Rabin

Als 1968 die Awoda, die Arbeitspartei, eine zionistische Partei der linken Mitte, gegründet wurde, begann Weiss, sich in ihr zu engagieren. Er promovierte 1969, erhielt 1974 eine Professur und wurde Direktor für Politikwissenschaft an der Universität Haifa. Danach war er Dekan der Fakultät für Journalismus an derselben Hochschule. Anschließend ging er in die Kommunalpolitik, wurde Ratsmitglied in Haifa für die Arbeitspartei. 1981 hat man ihn für die Arbeitspartei in die Knesset gewählt. Weiss gehörte ihr fünf Wahlperioden lang an, bis 1999, davon zwei als stellvertretender Vorsitzender und eine (von 1992 bis 1996) als Vorsitzender.

„In dieser Zeit war Jitzchak Rabin der Mann, mit dem ich sehr eng verbunden war, der mich beeinflusst hat, und ich habe ihn auch beeinflusst. Er war einer der Führer der Arbeitspartei. Er war von 1974 bis 1977 Premierminister, dann verlor er die Wahl. Er kehrte 1984 als Verteidigungsminister in die Koalition, in die Regierung zurück und war Ministerpräsident von Israel von 1992 an bis zu seinem tragischen Tod, als er von einem Juden, dem Faschisten Jigal Amir, ermordet wurde. Wir standen uns bei der Planung der Koalition mit der linken Meretz und der ultraorthodoxen Schas-Partei sehr nahe; er schlug mich als Präsidenten der Knesset vor.

Schewach Weiss in Warschau am Ende eines ereignisreichen Lebens.

Jitzchak Rabin war eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein politischer Falke, der sich in eine Friedenstaube verwandelt hat. 1993 begann er den Friedensprozess mit den Palästinensern. Als Vorsitzender der Knesset bin ich sechs Mal an der Seite von Rabin mit Jassir Arafat zusammengetroffen. Ich war 1994 in Oslo, als beiden der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Das waren wirklich hoffnungsvolle Zeiten. Leider gehören sie der Vergangenheit an.

Als Rabin am Abend des 4. November 1995 während der großen Friedenskundgebung auf dem Platz der Könige Israels in Tel Aviv ermordet wurde, stand ich nur wenige Meter von ihm entfernt. Wenn ich einen idealen Politiker wählen müsste, dann wäre es Jitzchak Rabin: sachlich, gründlich, pedantisch, eine Autorität. Er hat nicht zu viel geredet, bevor er etwas versprochen hat, aber wenn er etwas versprochen hat, hat er es gehalten. Ein sehr verantwortungsbewusster Mann! Wir haben uns so sehr geliebt! Es ist eine sehr, sehr traurige Sache!“, sagte Weiss in einem Interview für die Zeitung „Rzeczposopolita“.

Polen die Leviten gelesen

Nach dem Tod seiner Frau verbrachte Weiss immer mehr Zeit in Polen. Er richtete sich ein Büro in Warschau ein, in dem seine polnische Assistentin Ewa Szmal stets die Stellung für ihn hielt. Mit ihr bereitete er seine Vorlesungen und Seminare an der Fakultät für Politische Wissenschaften der Warschauer Universität vor. Sie führte seinen Terminkalender, der gut gefüllt war mit Medienauftritten und Gedenkveranstaltungen. Als Quartier diente dem grauhaarigen Ex-Botschafter das Warschauer Uni-Hotel „Hera“ am Łazienki-Park, wo man ihn oft bei ausgedehnten Spaziergängen treffen konnte.

Schewach Weiss in seinem Büro in Warschau mit Assistentin Ewa Szmal.

Schewach Weiss blieb auch in seinem Ruhestand ein israelischer Patriot, der sich nicht scheute, seiner zweiten Heimat Polen die Leviten zu lesen, wenn sie sich mit der israelischen Politik auf Kollisionskurs befand.

Das betraf die, letztendlich zurückgenommene, Novelle zum Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens, die die pauschale Behauptung unter Strafe stellte, Polen als Staat oder die Nation als Ganzes hätten sich am Holocaust beteiligt. Er unterstütze auch das Anliegen Israels, das schwerst kriegsgeschädigte Polen solle jüdischen Organisationen Entschädigungen in Höhe von Abermilliarden von Euro für das Eigentum der drei Millionen von den Deutschen ermordeten polnischen Juden zahlen. Hier blieb Polen standhaft und verwies, unter Berufung auf stichhaltige Argumente, auf Deutschland als den eigentlichen Adressaten dieser Forderungen.

Schewach Weiss am 18. Januar 2017 in Jerusalem nach der Verleihung des Ordens des Weißen Adlers mit Staatspräsident Andrzej Duda und Ehefrau Agata.

Andererseits nahm Weiss auch kein Blatt vor den Mund, wenn israelische Politiker oder Medien sich abfällig über Polen äußerten. Wohltuend an seinen Wortmeldungen in den oft sehr emotional geführten Debatten waren seine ruhige Art und auf die Schlichtung bedachte Wortwahl. Darauf beruhte der Respekt, den man ihm an der Weichsel zollte. Das hob auch Staatspräsident Andrzej Duda hervor, als er Schewach Weiss im Januar 2017 in Jerusalem mit der höchsten polnischen Auszeichnung, dem Orden des Weißen Adlers, dekorierte.

Polnische Delegation bei der Beerdigung von Schewach Weiss am 5. Februar 2023.

Schewach Weiss fand seine letzte Ruhestätte auf dem Jerusalemer Nationalfriedhof auf dem Herzlberg, unweit des Grabes seines Mentors Jitzchak Rabin.

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23.02.2023. Joe Bidens klare Warschauer Ansagen. Auch an Deutschland

Neuigkeiten brachte Joe Biden nach Warschau nicht mit. Doch wer die Rede des US-Präsidenten vom 21. Februar 2023 in den Gärten des Warschauer Schlosses mit der geringschätzigen Bemerkung abtut, Biden habe „mit viel Pathos nichts Neues verkündet“, der verkennt nicht nur die enorme Bedeutung der Botschaft, die die Ansprache enthielt, sondern auch den Ernst der Lage, in der Biden das Wort ergriff.

Die Rede des US-Präsidenten fiel nicht nur in die Woche des Jahrestages des russischen Überfalls auf die Ukraine, sondern auch in eine schwierige Phase des Krieges. Den Verteidigern gehen Munition und Männer aus, während Putin immer neue Truppen an die Front wirft. Auch wenn die Frühjahrsoffensive der Russen noch keine Erfolge zeigte, so kommen doch bange Fragen und nagende Zweifel auf: Wie lange hält die Ukraine noch durch? Bekommt sie weiterhin die erforderliche Unterstützung? Spekuliert man im Kreml zu Recht darauf, dass sich Kriegsmüdigkeit im Westen breitmacht und die Ukraine ihrem Schicksal überlassen wird?

All dem musste und wollte Biden entgegentreten, und hielt sich dabei an die antike Erkenntnis „Repetitio est mater sapientiae“, dass „die Wiederholung die Mutter der Weisheit“ sei. Er trug seine Warschauer Rede mit typisch amerikanischem Pathos vor und fand einfache und klare Worte, mit denen er die Haltung Amerikas mit Nachdruck bekräftigte. Falls jemand Zweifel an der Entschlossenheit der USA gehabt haben sollte, der Ukraine weiterhin zu helfen, nach Bidens Warschauer Rede dürften sie zerstreut sein.

Die Ansprache hatte mehrere Adressaten, denen sie unmissverständlich klarmachen sollte, wie Amerika denkt und wie es zu verfahren gedenkt.

Zum einen die Ukraine. Das wichtigste Signal in diese Richtung hatte Biden bereits am Vortag mit seinem unerwarteten Kurzbesuch in Kiew gegeben. In Warschau verkündete er dann ausdrücklich, dass die USA an der Seite der Ukraine bleiben werden, „solange es nötig ist“. „Die Ukraine wird niemals zu einem Sieg für Russland. Niemals“, rief der Präsident. „Es sollte keine Zweifel geben: Unsere Unterstützung für die Ukraine wird nicht nachlassen“.

Zum anderen Russland. Putin erlebe nun etwas, das er nicht für möglich gehalten hätte. Er habe den Westen auf die Probe gestellt mit der Frage, ob sein Angriff unbeantwortet bleibe. „Als er seine Panzer in die Ukraine beorderte, dachte er, wir würden wegschauen“, doch der Westen habe nicht weggeschaut. „Wir waren stark.“ Nun sei klar, dass die Antwort laute: „Russland wird in der Ukraine niemals siegen“.

Der US-Präsident wandte sich auch an die Menschen in Russland: „Die Vereinigten Staaten und die europäischen Nationen wollen Russland nicht kontrollieren oder zerstören“. Der Westen habe vor Kriegsbeginn nicht vorgehabt, Russland anzugreifen, wie Putin behauptet. „Jeder Tag, an dem der Krieg weitergeht, ist seine Entscheidung. Er könnte den Krieg mit einem Wort beenden. Es ist ganz einfach.“

Adressaten waren auch das Gastgeberland Polen und weitere acht Staaten der „Bukarest Neun“, die osteuropäischen Nato-Länder von Estland bis Bulgarien, mit deren Staats- und Regierungschefs sich Biden am Tag darauf in Warschau getroffen hatte. Diese Länder stellen die vorderste Front der kollektiven Verteidigung.

Biden sagte das, was von ihm erwartet wurde. Er bekannte sich unmissverständlich zu Artikel 5 des Nato-Vertrages, der gegenseitigen Beistandsverpflichtung. „Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle“, rief er der Menge zu. Jeder Zentimeter des Bündnis-Territoriums werde verteidigt. Das sei ein „heiliger Eid“. Alles andere wäre eine Überraschung gewesen, doch gerade im östlichen Mitteleuropa kann dieses Bekenntnis nicht oft genug beteuert werden.

Mit seinem zweiten Besuch in Warschau innerhalb eines Jahres unterstrich Biden unmissverständlich, dass er Polens Schlüsselrolle und seine enormen Anstrengungen, der Ukraine zu helfen, zu würdigen weiß. An das Leid der Flüchtlinge erinnernd, lobte er die Polen für ihre „außerordentliche Großzügigkeit“ in deren dunkelster Stunde. Der polnischen Präsidentengattin rief er gar „I love you“ zu, nachdem er ihren Einsatz für Flüchtlinge gewürdigt hatte.

Polen mit seiner knapp 500 Kilometer langen Grenze zur Ukraine hat fast zwei Millionen Ukrainer aufgenommen und inzwischen weitgehend integriert, ohne sie in Flüchtlingslager oder Sammelunterkünfte zu stecken. Es liefert in großem Ausmaß Munition, Waffen, darunter gut dreihundert Panzer, Kampfausrüstung jeglicher Art, repariert unter Hochdruck beschädigtes Kriegsgerät, trainiert ununterbrochen ukrainische Soldaten und fungiert als Drehscheibe für fast alle ausländischen Waffenlieferungen, die die Ukraine auf dem Landweg erreichen.Gleichzeitig finanziert es zu einem bedeutsamen Teil die Stationierung von knapp 11.000 amerikanischen Soldaten auf seinem Territorium.

Warschau preschte auch wiederholt mit Initiativen zur militärischen Unterstützung für Kiew vor, es fordert ständig neue Sanktionen, mobilisiert andere hilfswillige Staaten und wird nicht müde, Nachzügler zu brandmarken. Russland, so die Warschauer Sicht, muss möglichst dauerhaft angriffsunfähig gemacht werden. Genauso denkt man in Washington.

Dass Biden zum zweiten Mal seit März 2022 nach Polen flog, ohne in Berlin zwischenzulanden, gibt zu denken. Man darf davon ausgehen, dass seine klaren Warschauer Botschaften auch an die unzähligen deutschen Bedenkenträger, Zauderer, Bremser, Russlandversteher und Russlandeinbinder, Kreml-Dialogbeschwörer, Putins Telefonpartner und Friedensstifter auf Kosten der Ukraine gerichtet waren. Haltungen, deren Konsequenzen die Ukraine tragen muss.

Es ist nicht vorstellbar, dass Joe Biden seine klaren Botschaften vor dem Berliner Schloss, am Lustgarten, hätte verkünden können, ohne wütende Proteste und gellende Pfeifkonzerte zu ernten. In der Frontstadt Westberlin war John F. Kennedy noch „ein Berliner“. Im Frontstaat Polen ist Joe Biden ein Warschauer. So ändern sich die Zeiten.

RdP




Polens Frauen. An der Schwelle zur Lohngerechtigkeit

Einkommensgefälle gering. EU-weit die meisten Frauen in Führungspositionen.

Aus den neuesten Daten des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) geht hervor, dass das polnische Lohngefälle, d. h. der Unterschied zwischen dem Verdienst von Männern und Frauen, mit 4,5 Prozent eines der niedrigsten in Europa ist. Der EU-Durchschnitt liegt bei 13 Prozent.

Von den 27 Mitgliedsstaaten weisen acht geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede von weniger als 10 Prozent aus. Dabei stehen nur vier Länder besser da als Polen auf, nämlich: Luxemburg (0,7 Prozent), Rumänien (2,4 Prozent), Slowenien (3,1 Prozent) und Italien (4,2 Prozent). Die größten geschlechtsspezifischen Verdienstunterschiede gibt es in Lettland (22,3 Prozent), Estland (21,1 Prozent), Österreich (18,9 Prozent) und Deutschland (18,3 Prozent). Zwischen 2015 und 2022 verringerte sich dieser Unterschied in Polen von 7,3 auf 4,5 Prozent, während er in der EU insgesamt von 15,5 auf 13 Prozent sank.

Im Jahr 2022 betrug der Wert in Polen nach Altersgruppen:

bis 25 Jahre – 8,2 Prozent,

25 bis 34 Jahre – 7,2 Prozent,

35 bis 44 Jahre – 9,4 Prozent,

45 bis 54 Jahre – 5,5 Prozent.

In der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre besteht ein Lohngefälle zugunsten der Frauen. Es beträgt 6,8 Prozent.

Letzteres hängt mit dem niedrigeren gesetzlichen Renteneintrittsalter für Frauen (60 Jahre) zusammen. Das Renteneintrittsalter für Männer beträgt in Polen 65 Jahre. Frauen mit geringerer Qualifikation und Entlohnung, die oft körperlich schwer arbeiten müssen, neigen dazu, schnellstmöglich in Rente zu gehen. Damit tauchen sie in der Eurostat-Statistik nicht mehr auf. Frauen in höheren, gut bezahlten Positionen hingegen verlassen den Arbeitsmarkt deutlich später.

Unterschied zwischen dem Verdienst von Männern und Frauen in den 27 EU-Mitgliedsstaaten 2022. Bitte ggf. vergrößern.

Fortschritt ohne Vorschriften

„In Polen ist das Lohngefälle im Vergleich zu anderen EU-Ländern relativ gering. Ich erinnere mich an die Zeiten, als es im Durchschnitt 7 Prozent betrug. Es ist erwähnenswert, dass wir in Polen keine besonderen Vorschriften in dieser Hinsicht haben, wie es in den meisten EU-Ländern der Fall ist. Wenn es irgendwo ein ernstes Problem gibt, werden Vorschriften eingeführt, um negative Erscheinungen zu verhindern. In Polen werden keine zusätzlichen Vorschriften benötigt“, sagt Piotr Soroczyński, Chefökonom der polnischen Handelskammer. „Die größere Kluft in den westeuropäischen Ländern ist beispielsweise darauf zurückzuführen, dass Frauen häufiger als Männer in Teilzeit arbeiten, wodurch sich das Lohngefälle vergrößert. In Polen ist Teilzeitarbeit viel weniger verbreitet“, fügt der Experte hinzu.

„Die Forderung, die Lohnlücke zu schließen, ist absolut richtig. Unabhängig vom Geschlecht sollte gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt werden. Allerdings gibt es nirgendwo eine ideale Situation. Wenn wir uns die EU-Länder ansehen, steht Polen an der Spitze der Länder mit dem geringsten Lohngefälle“, sagt Barbara Socha, stellvertretende Ministerin für Familien- und Sozialpolitik. „In den westeuropäischen Ländern, die wir als weiter entwickelt betrachten, ist dieser Abstand viel größer als in Polen. In diesen Ländern ist auch die Erwerbsquote der Frauen niedriger. In Polen ist dieser Unterschied in einigen Branchen sogar negativ, d. h. Frauen verdienen mehr als Männer“, erklärt Socha.

Das ist zum Beispiel im öffentlichen Sektor (Verwaltung, Justizwesen, Bildung, Gesundheitswesen, Polizei, Armee) der Fall, wo der Gehaltsunterschied zwischen den Geschlechtern im Jahr 2022 zugunsten der Frauen ausfiel und 0,6 Prozent betrug. Anders ist es in der Wirtschaft. Hier liegt das Lohngefälle der Nachteil der Frauen bei 13 Prozent.

„Die Lücke in der Wirtschaft könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Frauen dort häufiger in Teilzeit arbeiten, während es im öffentlichen Sektor wesentlich üblicher ist, Vollzeit zu arbeiten. Wenn das der Grund ist, dann sehe ich kein Problem. Wären es andere Gründe, d. h. wäre die Lücke auf eine bewusste Politik der Unternehmen zurückzuführen, dann müsste man eingreifen. Ich beobachte den Arbeitsmarkt jedoch schon seit Langem und kann keine bewusste Negativpolitik der Arbeitgeber erkennen. Im Gegenteil. Als ich in Entscheidungspositionen tätig war und intern gebeten wurde, zu prüfen, ob es ein Lohngefälle gibt, stellte sich heraus, dass es in den Unternehmen, für die ich tätig war, überhaupt keinen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen in denselben Positionen gab. Der Anteil von Frauen und Männern in Führungspositionen war gleich groß. In Polen ist der Anteil der Frauen in Führungspositionen recht hoch“, berichtet Piotr Soroczyński.

Beinahe jeder zweite Chef ist eine Frau

Das wird durch die Daten von Eurostat bestätigt, die zeigen, dass 2022 der Frauenanteil in Führungspositionen (im Alter zwischen 20 und 64 Jahren) in Polen mit 43,7 Prozent den höchsten Wert in der EU erreichte. Der EU-Durchschnitt liegt bei 35,6 Prozent. Nach Polen wurden die besten Ergebnisse in Bulgarien (43,4 Prozent), Lettland (43,1 Prozent) und Schweden (42,6 Prozent) verzeichnet. Am schlechtesten schnitten Kroatien (24,4 Prozent), Zypern (25,3 Prozent) und die Tschechische Republik (27,4 Prozent) ab.

Die Lohnunterschiede in Polen sind von Branche zu Branche unterschiedlich. Im Baugewerbe z. B. verdienen Frauen im Durchschnitt 9,6 Prozent mehr als Männer. Letztere verrichten auf den Baustellen die geringer bezahlten, schweren körperlichen Arbeiten. Frauen arbeiten im Baugewerbe hingegen fast ausschließlich in höheren Positionen, die spezifische und besser bezahlte Qualifikationen erfordern, z. B. als Ingenieure, Konstrukteure, Architekten, Logistiker, Verwaltungsangestellte.

Auf dem anderen Ende der Skala befindet sich die von Männern beherrschte polnische Informations- und Kommunikationsbranche, wo ein Auseinanderdriften der Gehälter von 27 Prozent zu Ungunsten der Frauen besorgniserregend ist.

„Polnische Frauen sind hochgebildet, fleißig und unternehmerisch denkend. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Kassandrarufe der turboliberalen Ökonomen und Politiker, die Einführung des 500+ Programms (500 Zloty monatlich für jedes Kind bis 18 Jahren) durch die nationalkonservative Regierung werde die Frauen vom Arbeiten abhalten, haben sich nicht bewahrheitet. Das genaue Gegenteil ist eingetreten“, sagt Barbara Socha, die stellvertretende Ministerin für Familie und Soziales.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Statistiken. Laut der Arbeitskräfteerhebung (AKE) von Eurostat lag in 2022 die Erwerbsquote von Frauen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren in Polen bei 72,3 Prozent, während der EU-Durchschnitt 74,1 Prozent betrug. Die Wachstumsrate der weiblichen Erwerbsquote in Polen war in den letzten sieben Jahren viel höher als im EU-Durchschnitt. Im Vergleich zu 2015 (64,7 Prozent) stieg sie in Polen um 7,6 Prozentpunkte. Der EU-Durchschnitt wuchs in dieser Zeit um 4 Prozent.

In den letzten zehn Kalenderjahren erhöhte sich die Beschäftigungsquote von Frauen (20-64 Jahre) in allen Bildungsgruppen. Am stärksten war der Zuwachs bei polnischen Frauen mit Hochschulabschluss: 7,9 Prozent. Im Jahr 2022 waren 87,9 Prozent berufstätig. Im Vergleich dazu, lag die Beschäftigungsquote von Frauen mit Hochschulabschluss in der gesamten EU in der gleichen Zeit bei 83,7 Prozent (am höchsten in Litauen mit 91,3 Prozent, am niedrigsten in Griechenland mit 74,9 Prozent).

© RdP




11.02.2023. Andrzej Poczobut. Weissrussland und die Macht eines ohnmächtigen Polen

Im weißrussischen Grodno wurde dieser Tage der polnische Journalist und weißrussische Staatsbürger Andrzej Poczobut zu acht Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt. Auf Fotos aus dem Gerichtssaal wirkte er gealtert und abgemagert. Immerhin gingen dem Spruch zwei Jahre Untersuchungshaft voraus, in denen Poczobut es ablehnte, sich gegen politische Auflagen und ein Schuldeingeständnis freizukaufen.

Allen war klar, dass das Urteil von Alexander Lukaschenkos Schreibtisch aus diktiert worden war und dass es, dank Richter Dimitrij Bubentschik, der bereits in vielen Prozessen gegen Oppositionelle den Vorsitz führte, garantiert dem Willen des Diktators entsprach. Im Gerichtssaal waren Poczobuts Ehefrau, seine Tochter und seine Eltern anwesend. Wie sein Vater Stanisław berichtete, durfte die Familie nicht mit dem Häftling sprechen. „Ich bin 80, meine Frau ist 79. Wir werden unseren Sohn wahrscheinlich nie wiedersehen.“

Seit den letzten, offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen vom August 2020 sitzen in weißrussischen Gefängnissen etwa 1.300 verurteilte politische Häftlinge ein. Einige Hundert weitere warten auf ihren Prozess. Zu beiden Gruppen gehören gut einhundert weißrussische Polen.

Die polnische Minderheit, etwa 5 Prozent der knapp 10 Millionen zählenden Bevölkerung Weißrusslands, ist schon seit Jahren Gegenstand einer entfesselten Willkür und brachialer Repressalien des Regimes. Sie steht unter dem Generalverdacht des „Landesverrats“.

Dabei gesellt sich seit einigen Monaten zur Delegalisierung des Verbandes der Polen, zu Schließungen von polnischen Schulen und der Beschlagnahmung von Kultureinrichtungen, zu Verhaftungen und massiven polizeilichen Einschüchterungen in Form von Hausdurchsuchungen, ständiger Polizeibeobachtung, Vorladungen zu Verhören, kurzfristigen Festnahmen, eine neue barbarische Maßnahme. Es ist die Zerstörung von Gräbern und Friedhofsdenkmälern polnischer Soldaten aus dem Jahr 1939, die diese damals polnischen Gebiete gegen den Einmarsch der Sowjets verteidigt haben. Dasselbe gewaltsame Vorgehen richtet sich gegen Gräber von Soldaten der Partisaneneinheiten der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa). Vierzehn solcher Orte wurden bisher, zumeist bei Nacht, mit Bulldozern plattgewalzt.

Der heute 49-jährige Poczobut erlebte seit 2011 drei Verhaftungen, einmal wurde er zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Stets wurde ihm zum Vorwurf gemacht, er unterziehe, auf weißrussischen Internetseiten und in seiner Berichterstattung für polnische Medien, das Funktionieren des weißrussischen Systems gut belegten, wohldurchdachten und zugleich schonungslosen Analysen. Seine vielgelesenen und vielzitierten Betrachtungen trafen das Regime ins Mark.

Poczobuts Haltung ruft Bewunderung und großen Respekt hervor. Die verschärften Haftbedingungen werden seinen Willen nicht brechen, aber sie können ihn, und darauf zielen sie letztendlich ab, in einen Krüppel verwandeln. Der Kampf um Poczobuts Freiheit ist vor allem ein Kampf um sein Leben.

Trotz aller Kritik und aller Proteste scheint das weißrussische Regime seit mittlerweile knapp dreißig Jahren, seit dem Amtsantritt Lukaschenkos im Juli 1994, unbezwingbar zu sein. Sein schamloses Fortbestehen und dreistes Agieren verschlagen den Menschen in Weißrussland die Sprache und rauben ihnen oft jede Hoffnung.

Auch ihnen ist Václav Havels berühmtes Essay „Die Macht der Ohnmächtigen“ gewidmet, geschrieben 1978 in der Finsternis der kommunistischen Nacht. Der spätere tschechische Staatspräsident, der damals, wie Andrzej Poczobut heute, aus der Gesellschaft ausgeschlossen war und sein Leben als Heizer fristete, vertrat die Ansicht, dass das totalitäre Regime nicht durch Gewalt, sondern durch das Gewicht der Wahrheit und der Meinungsfreiheit zu Fall kommen würde.

Fünfundvierzig Jahre später können wir sagen: Poczobut ist einer, der in dieser Hinsicht sehr viel unternommen hat und einen hohen Preis dafür zahlt. Nichts ist ewig. Regime, wie das von Lukaschenko, brechen manchmal über Nacht zusammen. Erinnern wir uns nur an Ceaușescus Rumänien. Es muss alles dafür getan werden, dass in dem Wettlauf, wer früher das Zeitliche segnet, Andrzej Poczobut nicht unterliegt.

RdP




18.01.2023. Leo bleibt nicht in Lodz

Es gibt die Logik der Schützengräben und es gibt die Logik der politischen Kabinette. Nur manchmal, für eine gewisse Zeit, gelingt es, sie miteinander in Einklang zu bringen.

Es geschah am 1. März 2022. Wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, hat eine ukrainische Aktivistin den damaligen britischen Premierminister Boris Johnson auf einer Pressekonferenz in Warschau zur Rede gestellt. Sie warf ihm vor, er habe Angst nach Kiew zu fahren, wo Bomben auf ukrainische Kinder fallen. Und die Nato wolle nicht für die Verteidigung der Ukraine kämpfen oder wenigstens ein Flugverbot für den ukrainischen Luftraum verhängen, um den Dritten Weltkrieg nicht herauszufordern.

Die Erwartung, die Nato würde sich auf einen Krieg mit der Atommacht Russland einlassen, galt sogar für die größten Freunde der angegriffenen Ukraine als unzumutbar. Außerdem ereignete sich der Zwischenfall in Warschau bereits einige Wochen vor der Entdeckung der russischen Kriegsverbrechen, die durch Butscha symbolisiert werden. Danach änderte sich im Westen die Einstellung zum Krieg. Boris Johnson reiste als einer der ersten westlichen Politiker nach Kiew, und sein Land wurde zu einem der wichtigsten Verbündeten der Ukraine, auch in Sachen Waffenlieferungen.

Eines hat sich sicherlich nicht geändert: Niemand im Westen, auch nicht Polen, will den Dritten Weltkrieg. Und das ist verständlich. Auch die Errichtung einer Flugverbotszone ist nach wie vor unmöglich.

Ansonsten ist es aber schon zur Regel geworden, dass die öffentliche Meinung den Politikern in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine stets deutlich voraus ist. Unter ihrem Druck verschiebt sich die Grenze dessen, was den Ukrainern gegeben werden kann, darf und soll. Leider geschieht das viel zu langsam, auch wenn die Angst vor Putins nuklearer Vergeltung mit jeder überschrittenen Schwelle abnimmt.

Nach fast einem Jahr des Krieges ist man bei Panzern aus westlicher Produktion angelangt. Wir in Polen überlegen nur noch, wie wir unsere Leopardpanzer am schnellsten den Ukrainern zukommen lassen können. Derweil grübeln die Deutschen darüber nach, ob sie sie aus eigenen Beständen abgeben und den anderen, so auch uns, erlauben sollen, diese Panzer bereitzustellen. Als Hersteller der Leos hat Deutschland das letzte Wort.

Die Logik des Zauderns prallt wieder einmal mit der Logik der Schützengräben und der in Kälte, Dunkelheit und Ruinen ausharrenden Ukrainer zusammen: „Lasst uns die Angreifer vertreiben und ihnen die Möglichkeit nehmen, Raketen auf unsere Köpfe abzuschießen. So bald wie möglich!“.

Jeder Tag, an dem in Berlin beraten wird, bedeutet weitere tote Soldaten und Zivilisten, mehr Waisen, mehr Menschen, die für ihr Leben traumatisiert sind, und solche, die sich entschließen zu flüchten.

Die Logiken der Kabinette und der Schützengräben können miteinander in Einklang gebracht werden. Was noch im Wege steht, ist der Widerstand des deutschen Bundeskanzlers, der von Polen, Frankreich, Holland, Norwegen, dem Vereinigten Königreich, anderen Verbündeten und deutschen Politikern, auch aus seiner eigenen Regierung, unter Druck gesetzt wird. Am Ende seines schon zum Ritual gewordenen Zauderns wird Olaf Scholz nachgeben müssen.

Doch machen wir uns nichts vor. Dieser Einklang wird von kurzer Dauer sein und es wird so kommen, wie schon oft zuvor. In Anbetracht der Größe des ukrainischen Kriegsschauplatzes werden es zu wenige Panzer sein, und sie werden spät, vielleicht sogar zu spät kommen.

Der Verschleiß an Waffen und Munition ist auf der ukrainischen Seite gewaltig. Um den Sieg davontragen zu können, werden uns die Ukrainer schon bald um Kampfhubschrauber und Flugzeuge, um noch weiter reichende Kanonen und Raketenabschussvorrichtungen, womöglich gar um Kriegsschiffe bitten. So gesehen, blickt das deutsche Zaudern, Schwanken und Innehalten in eine große Zukunft.

RdP




4.01.2023. Was uns in Polen an Joseph Ratzinger so sehr gefiel

Da reibt man sich die Augen und traut seinen Ohren nicht, aber offensichtlich geht es doch. Dieselben deutschsprachigen Medien, die den verstorbenen Papst Benedikt XVI. zu Lebzeiten auf das Gröbste in Verruf gebracht haben, üben sich jetzt in ihren Nachrufen in Zurückhaltung. Auch wenn sie ihm weiterhin ablehnend gegenüberstehen wägen sie ab, versuchen sein Denken und Handeln für ihre Abnehmer nachvollziehbar zu machen. Immerhin, sie haben die rhetorischen Knüppel und Keulen beisetegelegt.

Wo die Gründe für dieses späte Bemühen um elementare Fairness zu suchen sind, ob in den schlechten Gewissen oder in der späten Einsicht, dass es trotz allem einen herausragenden Deutschen zu verabschieden gilt, sei hier dahingestellt.

Denn Ratzinger war ein brillanter Denker, auch wenn sein Gedankengut heutzutage wenig Applaus finden mag. Es hat ihm dennoch viele Ehrungen, Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden und Mitgliedschaften eingebracht. Der nach seinem eigenen Bekunden „religiös unmusikalische“ Philosoph Jürgen Habermas, setzte sich eingehend mit Ratzingers Denken auseinander. Im Jahr 2005 veröffentlichten die beiden gemeinsam das Buch „Dialektik der Säkularisierung“, das nach den vorpolitischen, ethischen Grundlagen des modernen Rechtstaates und seiner Macht fragt.

Nach seinem Tod tut man so, als wäre nichts gewesen, dabei war Joseph Ratzinger jahrzehntelang, gerade in Deutschland, Opfer einer medialen Lynchjustiz die ihresgleichen sucht.

Es sind sehr oft dieselben Redakteure, die ihn heute immerhin einen „herausragenden Theologen“ nennen, „einen Meister des geschriebenen Wortes“, dessen Tod „ein langes wie denkwürdiges Kapitel katholischer Kirchengeschichte beschließt“ usw., usf., und sich vorher im Ausdenken von brutal einprägsamen Spott- und Schmähnamen geradezu überboten: „Hardliner“, „Panzerkardinal“, „Großinquisitor“, „Spielball finsterer Mächte im Vatikanstaat“, reaktionär, weltfremd. Er sollte in der Öffentlichkeit als dogmatischer Finsterling erscheinen, als fundamentalistischer Gegner des Fortschritts, der den Menschen von heute nichts zu sagen hat.

Im Zusammenhang mit einem Missbrauchsfalll aus seiner Zeit als Erzbischof von München (1977-1982) sprachen ihn die Medien jüngst, knapp vierzig Jahre später, wegen Lüge und Vertuschung schuldig, ohne einen einzigen glaubwürdigen Beweis und ohne Gerichtsverfahren, nur anhand eines Gutachtens einer Rechtsanwalskanzlei. In Wahrheit führte Benedikt XVI. den Kampf gegen Missbrauch in der Kirche so rigoros und systematisch wie kein Papst vor ihm.

Im Kern ging es bei den Kampagnen gegen seine Person um den Versuch, seinen Charakter öffentlich hinzurichten. Man wollte sein theologisches Werk dauerhaft beschädigen und künftigen Generationen verleiden. Sein Denken wurde diffamiert, weil er nicht dazu bereit gewesen ist, das Wesen des katholischen Glaubens den wechselnden Moden einer postchristlichen Wohlstandsgesellschaft zu unterwerfen, so fortschrittlich sich diese auch geben mochte.

Ging es um philosophische oder wissenschaftliche Fragen, vertrat er die Überzeugung, dass Vernunft und Offenbarung zusammengehören, so, wie das Erforschen der Welt und das Vertrauen in die Schöpfung. Die reine Vernunft ohne Glauben werde kalt und herzlos, wie umgekehrt der Glaube ohne Vernunft blind und fanatisch werde. „Wenn es nicht das Maß des wahren Gottes gibt, zerstört sich der Mensch selbst.“

Der Theologe Ratzinger gewichtete ein hörendes Herz in Richtung Gott und ein demütiges Mitgehen mit der katholischen Tradition stets höher als weltliche Sinnangebote, die Weisheit der Bibel und der Kirchenväter höher als Technik und Wissenschaft, Sanftmut und Gebet höher als politische Programme.

Er hat weder an die Kraft eines atheistischen Humanismus noch an eine sittlich verbesserte Menschheit durch Technik und Wissenschaft geglaubt. Er setzte die Anwesenheit des Heiligen ganz selbstverständlich voraus und weigerte sich, das menschliche Dasein aufgehen zu lassen in der Banalität von Leistung, Konsum und Karriere. Die Sakramente der Kirche waren für ihn unverrückbar.

Ratzinger sah die Kirche als die einzige wirkliche Gegenkraft zu der immer weiter um sich greifenden Zivilisation des Todes, die „das Recht“ auf Euthanasie und „das Recht“ auf Abtötung des ungeborenen menschlichen Lebens auf ihren Fahnen trägt, und als die Gegenkraft zu den neuen Formen der modernen Tyrannei, die im Gewand des radikalen Genderismus, Ökologismus und vieler anderer utopischer „Ismen“ daherkommen.

Bescheiden und liebenswürdig im Umgang, blieb er unnachgiebig in der Sache. Seit 1981, als Präfekt der Glaubenskongregation, hatte er eine ganze Kette sehr schwieriger Auseinandersetzungen geführt, was ihm den Vorwurf der Intoleranz und des Mangels an geistigem Denkhorizont eingebracht hat. Er scheute keine Konflikte mit Hans Küng, Ernesto Cardenal, Leonardo Boff, Eugen Drewermann, Gotthold Hasenhuttl und anderen bekannten „Reformtheologen“.

Hinter Ratzinger stand der engagierte, aus den Sakramenten lebende, von der Tradition gestärkte Katholizismus, stand die Ordnung in der Lehre, der Liturgie und die Kirchendisziplin, die er aufrechterhielt, um den Zerfall und das Herüberwechseln der katholischen Kirche ins Protestantische zu verhindern. Die tiefe Krise des Protestantismus, der alle von der katholischen Kirche geforderten Reformen längst umgesetzt hat, gab ihm zusätzlich recht.

Theologen, gegen deren Lehren die Glaubenskongregation Einwände erhob, unternahmen alles, um die Medien und die öffentliche Meinung gegen den Präfekten aufzubringen. Fast jedes Mal versuchte die Presse zu beweisen, dass die Aktivitäten des von Kardinal Ratzinger geleiteten Amtes unter den Katholiken in der ganzen Welt angeblich kritische Stimmen provozieren würden.

Sie schrieben über den im Vatikan herrschenden „Geist der Arroganz“ und die „Diktatur Ratzingers“. Der schmächtige Kardinal und spätere Papst erinnerte daraufhin immer wieder daran, dass „die Freiheit der Theologie sich nicht in der Fantasie über Gott ausdrückt, sondern innerhalb des großen Rahmens bleiben muss, den das Wort Gottes vorgibt“.

Das alles machte Benedikt XVI. zu einem „Ärgernis“. Umso mehr, als er sich nicht beeindrucken ließ vom öffentlichen Druck gegen seine Person, vom Liebesentzug einer Gesellschaft, die als obersten Maßstab nur sich selber anerkennt.

Die Polen haben ihn in ihre Herzen geschlossen. Einen Deutschen, den mit dem polnischen Papst eine tiefe Freundschaft verband. Einen Deutschen der sich noch im hohen Alter die Mühe machte Polnisch zu lernen, um die Gläubigen bei seinem Besuch in Polen im Mai 2006 und bei den Generalaudienzen in Rom direkt ansprechen zu können. Einen Deutschen, der ihrem Gottvetrauen stets höchsten Respekt zollte. Einen Deutschen, den man einfach uneingeschränkt gern haben konnte. Uns wird er sehr fehlen.

RdP




Genosse Kosmonaut

Am 12. Dezember 2022 starb Mirosław Hermaszewski.

Er war der erste und wird wahrscheinlich noch lange der einzige Pole bleiben, der ins All flog. Hermaszewski gab sich stets bescheiden, beherrscht, ein hochprofessioneller Militärpilot, der charmant sein konnte und dem das Kosmonautsein nicht zu Kopf gestiegen war. Das nahm sehr viele Polen für ihn ein.

Doch wenn man im Kommunismus ganz nach oben wollte, reichten auch die größten Fähigkeiten allein nicht aus. So gesehen waren Hermaszewskis exzellentes fliegerisches Können, seine extreme körperliche Belastbarkeit allein wertlos. Folglich gab es, neben der leuchtenden, auch die dunkle Seite seines Tuns: sein reges kommunistisches Engagement, das er im Nachhinein beharrlich ausblendete, und seine geheime Tätigkeit als Zuträger der militärischen Staatssicherheit, die wenige Jahre vor seinem Tod, anhand von Aktenfunden, aufgedeckt wurde.

Hermaszewski hatte ein Janusgesicht oder, der Vergleich ist in seinem Fall durchaus angebracht, er war wie der Mond, dem er bei seinen 126 Erdumrundungen so nah wie kein anderer Pole kam. Schließlich, so Mark Twain, ist „jeder Mensch ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.“

Mit kommunistischen Reliquien ins All

Am 27. Juni 1978, um 17:27 Uhr Warschauer Zeit, startete das Raumschiff Sojus 30 mit Major Mirosław Hermaszewski, dem ersten „Polen im Kosmos“, und dem sowjetischen Kosmonauten Oberst Piotr Klimuk an Bord vom Weltraumbahnhof Baikonur im damals sowjetischen Kasachstan. Klimuk flog bereits zum dritten Mal ins All.

Hermaszewski an Bord der Raumstation Saljut 6.

Mit an Bord waren kommunistische Reliquien: Porträts der KP-Chefs Breschnew und Gierek, der Text des sogenannten PKWN-Manifests, des Gründungsaktes des kommunistischen Polens aus dem Jahr 1944, die Verfassung der Volksrepublik Polen, Wimpel mit Emblemen der herrschenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, des staatlichen Veteranenverbandes, der Gesellschaft für Polnisch-Sowjetische Freundschaft u. e. m.

Am Folgetag dockte Sojus 30 an die Raumstation Saljut 6 an, die zu diesem Zeitpunkt mit zwei sowjetischen Kosmonauten bemannt war. Hermaszewski beteiligte sich an wissenschaftlichen Experimenten, die das Verhalten des menschlichen Körpers in der Schwerelosigkeit ergründen sollten, führte Beobachtungen der Polarlichter und Fernerkundungsarbeiten durch. Nach einer Woche zu viert in der Raumstation kehrten Klimuk und Hermaszewski am 5. Juli 1978 zur Erde zurück.

Kurz nach der Landung. Der Medienrummel beginnt. L. i. B. Hermaszewski, i. d. M. Pjotr Klimuk.

Hörbar bewegt rief der Sonderberichterstatter des Polnischen Rundfunks ins Mikrofon: „Es ist 19:30 Uhr Ortszeit, 16:30 Uhr Moskauer Zeit, die Kapsel taucht als ein winziger Punkt unter den Wolken auf. Plötzlich entfaltet sich die Kappe des Fallschirms hinter ihr. Langsam, sehr langsam schweben die Kosmonauten aus dem Weltraum zurück“. Die Rückkehrkapsel setzte sicher in der kasachischen Steppe, dreihundert Kilometer entfernt von Zelinograd, der heutigen Hauptstadt Astana, auf.

„Ich bin gesund, ich fühle mich gut, nur meine Beine sind etwas wackelig und mir ist ein bisschen schwindlig“, sagte Hermaszewski kurz nach der Landung.

Polnischer Held der Sowjetunion

Viel Zeit, zu sich zu kommen, hatte er nicht. Nach den ersten Routineuntersuchungen wurden die beiden Rückkehrer am Morgen darauf ins Flugzeug gesetzt und nach Moskau gebracht, wo sie ein feierlicher Empfang im Kreml erwartete. Leonid Breschnew, der Generalsekretär der KPdSU, gab sich persönlich die Ehre.

„Liebe Genossen, mit freudigen Gefühlen begrüßen wir alle Pjotr Klimuk und Mirosław Hermaszewski, die gerade aus dem Weltall gekommen sind. Sie führten äußerst interessante Experimente und Forschungen durch. Der Flug war insofern bemerkenswert, als der Stab der von Juri Gagarin gestarteten Staffel mittlerweile von internationalen sozialistischen Besatzungen übernommen wird. Der Sohn der Heimat von Kopernikus war im Weltraum, das ist wunderbar, das ist etwas, worauf man stolz sein kann“, sagte Breschnew und verlieh Hermaszewski den Lenin-Orden, den Titel des Helden der Sowjetunion und den dazu gehörenden, 21,5 Gramm schweren Goldenen Stern aus echtem 950-Karat Gold.

„Polonez“-Limousine.

In Polen gab es etliche weitere Ehrungen und als Geschenk ein Auto aus der heimischen Produktion. Einen „Polonez“ in der Farbe Steppengrün, damals eine Rarität und Gipfel der Träume eines jeden Autoliebhabers.

Begrüßung in Warschau am 20. Juli 1978.

Einen solchen Autogrammwunsch kann man nicht abschlagen.

Hermaszewski absolvierte auf Anweisung eine ausgedehnte Jubel-Rundreise durch Polen: Festakte und Feierstunden, Ehrenbürgerwürden, Gedenkbäume pflanzen, Blumensträuße entgegennehmen, Autogrammwünsche erfüllen, bis der Kugelschreiber aus der schmerzenden Hand fiel, und überall Menschenmassen dicht an dicht.

Hermaszewski mit Verteidigungsminister Wojciech Jaruzelski (l. i. B.) und Parteichef Edward Gierek. R i. B. der zweite Flugkandidat Leutnant Zenon Jankowski, der letztendlich am Boden bleiben musste.

Hermaszewski-Briefmarke von 1978.

Das schwer angeschlagene Regime von Parteichef Edward Gierek wollte die vom ständigen Schlangestehen, ob nach Lebensmitteln, Waschpulver, Möbeln oder Benzin, tief frustrierten und zunehmend aufgebrachten Polen so auf andere Gedanken bringen. Zwei Jahre später, im Sommer 1980, wurden Gierek und die Seinen durch eine mächtige Streikwelle, an deren Ende Solidarność entstand, weggefegt und durch die Jaruzelski-Riege ersetzt.

Als Säugling beinahe ermordet

Der knapp vierzigjährige, zum Oberstleutnant beförderte Hermaszewski befand sich im Zenit der Popularität. Um Haaresbreite hätte sein Weg dorthin im Alter von nur knapp zwei Jahren geendet. Im September 1941 im damaligen, zuerst von den Sowjets (September 1939 bis Juni 1941) und dann von den Deutschen besetzten Ostpolen geboren, überlebte er wie durch ein Wunder die schrecklichen Massaker, die Banden ukrainischer Nationalisten, unter deutscher Schirmherrschaft, an der polnischen Bevölkerung verübten. Es war ein von langer Hand vorbereiteter Völkermord, dem etwa 100.000 Polen zum Opfer fielen.

Hermaszewskis Geburtsort Lipniki auf der Landkarte Polens von vor dem Zweiten Weltkrieg.

Die Nationalistenführer: Stepan Bandera, Roman Schuchewytsch, Dmytro Kljatschkiwskyj, Mykola Lebed und andere wollten eine Polen- und Judenfreie Ukraine. Der Hauptschauplatz der Massenmorde war Wolhynien. Dort, in der Ortschaft Lipniki, unweit der Stadt Równe/Riwne, wirtschaftete die Familie Hermaszewski, Vater Roman, Mutter Kamila und ihre sieben Kinder auf einem 25 Hektar großen Bauernhof.

Woiwodschaft Wolhynien im Vorkriegspolen.

Wolhynien im heutigen polnisch-ukrainischen Grenzbereich.

„Wir lebten ein friedliches, harmonisches und wohlhabendes Leben“, schreibt Hermaszewski in seinen Erinnerungen „Ciężar nieważkości“ (fonetisch: Tsenschar njewaschkostsi -„Die Last der Schwerelosigkeit“).

„Die Idylle wurde in der Nacht vom 25. auf den 26. März 1943 zerstört. Eine wilde Horde ukrainischer Raubmörder, darunter auch einige Freunde und Nachbarn der polnischen Einwohner von Lipniki, bewaffnet mit Knüppeln, Äxten, Heugabeln, Sensen, Ketten, Schusswaffen und allem anderen, was nicht nur töten, sondern auch möglichst viel Leid zufügen konnte, umstellte und überfiel das friedlich schlafende Dorf. Sie zündeten die Gebäude an und begannen mit dem Gemetzel. Menschen jeden Alters und Geschlechts wurden auf grausame Weise ermordet und deren Besitz geplündert. In dieser denkwürdigen und schrecklichen Nacht starben 182 Einwohner meines Dorfes Lipniki. Der jüngste war weniger als ein Jahr, der älteste war 90 Jahre alt. Mein Großvater Sylwester starb, mehrfach durchbohrt von einem Bajonett.

Mein Vater, der am Dorfrand mit einigen anderen Männern Wache hielt, stürmte mit dem Jagdgewehr in der Hand ins Haus und rief meiner Mutter zu: „Lauft weg“, dann verschwand er in der Dunkelheit“, so Hermaszewski.

Nach dem ukrainischen Massaker von Lipniki.

Draußen spielten sich schreckliche Szenen ab. Das Stöhnen und die Todesschreie der Überfallenen vermischten sich mit dem lauten Knistern und Krachen der Feuersbrunst, dem herzzerreißenden Muhen und Quieken des versengten Viehs, dem Gebrüll der Mörder. Sechs Kinder der Hermaszewskis zerstreuten sich in dem Chaos und konnten sich retten. Die Mutter rannte mit dem Jüngsten, Mirosław, auf dem Arm los. Einer der Angreifer holte sie ein und hielt ihr das Gewehr an den Kopf. Der Schuss durchschlug ihr Ohr und streifte die Schläfe. Betäubt und blutüberströmt stürzte sie zu Boden, verlor das Bewusstsein und blieb regungslos liegen. Überzeugt, sie tödlich getroffen zu haben, kehrte der Verfolger um. Später, aus der Bewusstlosigkeit erwacht, rannte sie im Schockzustand ins sechs Kilometer entfernte Nachbardorf.

„Als die Morgendämmerung einsetzte“, berichtet Hermaszewski, „eilten einige mutige Männer nach Lipniki. Schon von Weitem war das Ausmaß der Tragödie zu erkennen: Häuser, von denen noch der Rauch aufstieg, Vieh, verstümmelt oder versengt, irrte umher. Je näher man kam, desto größer wurden Chaos, Zerstörung und das schwer zu beschreibende Grauen. Nur wenige Dorfbewohner waren durch Kugeln gefallen, einige waren enthauptet, ohne Gliedmaßen, mit Heugabeln erstochen, mit Stangen erschlagen. Kinder wurden in Brunnen gefunden oder bei lebendigem Leib auf Zaunpfählen aufgespießt und zerrissen.

Unter den Suchenden waren auch mein Vater und mein Bruder Władysław. Unser Haus war nur noch eine qualmende Ruine. Nicht weit entfernt, auf einem gefrorenen Feld, entdeckte mein Vater unerwartet die markante karierte Decke, auf der ich blutbeschmiert und regungslos lag. Papa war sich sicher, dass ich tot war, aber als er mich schüttelte, öffnete ich die Augen.“

Ein halbes Jahr später, im August 1943, war auch Mirosławs Vater tot. Um die weit weg von Lipniki in einem Stall kampierende, hungernde Flüchtlingsfamilie zu ernähren, wagte er es, auf seine Felder zurückzukehren, um wenigstens etwas zu ernten. Er wurde von einem ukrainischen Trupp entdeckt. Ein Schuss ins Herz beendete sein Leben.

Begabter Flieger, aufrichtiger Stasi-Zuträger

Unter unsäglichen Mühen gelang es der Witwe, sich und die sieben Kinder mit Putzen, Nähen und Feldarbeit bis Kriegsende durchzubringen. 1945 sollte Ostpolen endgültig an die Sowjetunion fallen. Jetzt, nach knapp sechs Jahren Krieg und Vernichtung, zwangen die Sowjets mit Drohungen und Repressalien die übriggebliebenen Polen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Nach einer wochenlangen Fahrt mit unzähligen Unterbrechungen gelangte der Güterwagen-Evakuierungszug mit den Hermaszewskis ins polnisch gewordene Niederschlesien, nach Wołów/Wohlau, einer Kleinstadt die damals weitgehend in Ruinen lag.

Mirosław und Władysław (r. i. B.). Fachsimpeln zweier Kampfflieger-Brüder.

Als der ältere Bruder Władysław 1948 seine Ausbildung als Militärflieger begann, war für den gerade siebenjährigen Mirosław klar, dass auch er diesen Weg beschreiten will. Glaubt man seinen Erinnerungen, wurde das Fliegen zu seiner Leidenschaft, lange bevor er das erste Mal ein Cockpit bestieg. In der Stadtbibliothek verschlang er alles, was mit dem Fliegen zu tun hatte: Romane, Jugendhefte mit Flugzeugbeschreibungen und die Zeitschrift „Skrzydlata Polska“ („Geflügeltes Polen“). Keiner in der Schule konnte mit ihm im Modellbau und beim Drachensteigenlassen mithalten.

Segelflieger Mirosław Hermaszewski (im Cockpit).

Im Jahr 1960 begann sein Segelfliegen, knapp zwei Jahre später startete der gerade 21-Jährige zum ersten Mal ein Sportflugzeug. Kurz darauf begann seine Ausbildung zum Militärpiloten. Das war der Start einer Militärkarriere, die Hermaszewski, bevor er Kosmonaut wurde, über viele Zwischenetappen, bis auf den hohen Posten des Kommandeurs des 11. Jagdfliegerregiments in Wrocław/Breslau führte.

Kommandeur des 11. Jagdfliegerregiments.

Begabung und Können waren beim kommunistischen Militär wichtig, aber sie mussten gepaart sein mit ideologischer Unbedenklichkeit. Um diese vorzuweisen, trat Hermaszewski schon im Gymnasium in Wołów, als einer von wenigen in seiner Klasse, in den kommunistischen Jugendverband ein und gleich im ersten Semester in der Militärfliegerschule in Dęblin (120 Kilometer südöstlich von Warschau) stellte er den Antrag zur Aufnahme in die kommunistische Partei, dem 1964 stattgegeben wurde.

Hermaszewskis Militär-Stasiakte.

Sein Fleiß, sein fliegerisches Talent und sein ideologisches Engagement wurden durch die geheime Zusammenarbeit mit der militärischen Staatssicherheit „abgerundet“. Jetzt konnte es an seiner Verlässlichkeit keinen Zweifel mehr geben. Die Anwerbung von Hermaszewski erfolgte am 9. Februar 1962. Der neue IM „Długi“ („Der Lange“) verfasste eine handschriftliche Erklärung, in der er sich bereit erklärte, die Behörde „im Kampf gegen feindliche Aktivitäten“ zu unterstützen. Konkret ging es darum, regelmäßig Bericht darüber zu erstatten, was sich unter den Kadetten außerhalb des Dienstes abspielte.

Hermaszewskis Führungsoffizier, Hauptmann Janusz Wijak.

Die Militär-Stasi entfernte 1989 oder 1990 aus Hermaszewskis IM-Akte, die erst 2018 gefunden wurde, seine Spitzelberichte. Wir wissen nicht, wem er wie geschadet hat. Im März 1964 wurde die Zusammenarbeit mit IM „Długi“ beendet, weil er in die kommunistische Partei aufgenommen wurde. Bis zur Selbstauflösung 1990 blieb er in deren Reihen. KP-Mitglieder wurden grundsätzlich nicht als Spitzel engagiert. Hermaszewskis 1964 erstellte Schlussbeurteilung endet jedenfalls mit der vielsagenden Feststellung: „IM „Długi“ erwies sich als ein aufrichtiger und wahrheitsgetreuer Mitarbeiter“.

Auf dem Weg ins All

Im Juli 1976 wurde in Moskau ein Protokoll unterzeichnet, das die Beteiligung von Kosmonauten aus Satellitenländern an sowjetischen Raumflügen im Rahmen des Interkosmos-Programms vorsah. Auf diese Weise gelangten, außer Hermaszewski, jeweils ein Tscheche, ein Ungar, ein Rumäne, ein DDR-Bürger, ein Bulgare, ein Mongole, ein Kubaner und als Letzter, im August 1988, ein Afghane auf die Erdumlaufbahn.

Emblem des Interkosmos-Programms.

Der damalige Verteidigungsminister Wojciech Jaruzelski überredete Parteichef Edward Gierek, den Sowjets einen Vorschlag für die Ausbildung künftiger polnischer Kosmonauten in der UdSSR zu unterbreiten. Aus einer Gruppe von 71 Luftwaffenoffizieren wählte das Verteidigungsministerium gemeinsam mit den Sowjets zwei Kandidaten aus: Major Hermaszewski und Leutnant Zenon Jankowski. Die Sowjets genehmigten beide Anwärter, brachten sie in ihre geheimen Ausbildungszentren und teilten im Mai 1978 Warschau mit, dass sie sich für Hermaszewski entschieden hatten, weil er bessere Ausbildungsergebnisse erzielt hatte.

Bei der Absprache in Moskau 1976 wurde nicht festgelegt, in welcher Reihenfolge die einzelnen Kosmonauten mitfliegen sollten. Die natürlichen Kandidaten für den ersten und zweiten Flug waren die Tschechoslowakei und die DDR, die technologisch am weitesten fortgeschritten waren und den größten Beitrag zum Interkosmos-Programm leisteten. Der Staatschef der DDR, Erich Honecker, drängte darauf, seinem Land den Vorrang zu geben, denn auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs war damals der westdeutsche Physiker Ulf Merbold als erster nicht-amerikanischer Astronautenkandidat vorgesehen, und Honecker wollte, dass ein Ostdeutscher als erster Deutscher auf die Erdumlaufbahn gelangte. Hinter den Kulissen spielte sich monatelang ein regelrechter Wettbewerb um die Gunst der Sowjets ab. Am Ende entschied Moskau, dass als erster ein Tschechoslowake und als zweiter ein Pole fliegen sollten.

Jaruzelski interessierte sich persönlich für den Fortschritt der Ausbildung der ausgewählten Piloten, widmete ihnen sogar während seines Urlaubs seine Zeit, ermutigte, dekorierte, belohnte sie und protegierte sie bei den Sowjets. Das ganze Vorhaben war „sein Baby“ und „sein Erfolg“, daraus hat der General mit der dunklen Brille, so Zeitzeugen, machtintern nie ein Hehl gemacht.

Erretter der Nation

Vom kommunistischen Propaganda- und Parteiapparat ohne Unterlass herumgereicht und präsentiert, bat der erschöpfte Hermaszewski 1979 darum, ihn zum Studium an die Akademie des Generalstabes der Sowjetischen Streitkräfte in Moskau zu schicken. Jaruzelski gab die Erlaubnis.

Als Hermaszewski Ende des Sommers samt Ehefrau und den beiden Kindern in Moskau eintraf, begannen in Polen die bewegten sechzehn Solidarność-Monate. Die erste freie Gewerkschaft im Ostblock stellte die kommunistische Partei, der die Mitglieder massenweise davonliefen, und den kommunistischen Staatsapparat in den Schatten. Die Versorgungslage war desaströs, das kommunistische Meinungsmonopol wich der Meinungsfreiheit, die alte Ordnung geriet aus den Fugen. Allein die seit Jahrzehnten ideologisch an der kurzen Leine gehaltene Armee blieb übrig, um dem „Spuk“ ein Ende zu bereiten.

Militärrat der Nationalen Errettung. L. i. B. Oberstleutnant Hermaszewski .

General Jaruzelski, der neue starke Mann Polens, der inzwischen die Ämter des Verteidigungsministers, des Ministerpräsidenten und des Parteichefs auf sich vereinigen konnte, verhängte am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht und stellte sich an die Spitze einer Junta, die sich den Namen Militärrat der Nationalen Errettung gab. Unter lauter Generälen fand sich auch Oberstleutnant Hermaszewski hier wieder. Eine weitere peinliche Episode, die er in seinen Erinnerungen einfach weglässt.

Keine Entschuldigung, kein Wort des Bedauerns

Hermaszewski behauptete stets, es sei ohne sein Zutun geschehen. Er wurde aus Moskau nach Warschau befohlen und fand sich in dem obersten Kriegsrechtsgremium wieder. „Der erste Pole im Kosmos“ war zweifellos als ein Sympathie erzeugendes Dekorationselement gedacht, das die ansonsten aus griesgrämigen kommunistischen Militärapparatschiks bestehende Junta etwas freundlicher erscheinen lassen sollte.

Sie existierte vom 13. Dezember 1981 bis 21. Juli 1983, als das Kriegsrecht formell aufgehoben wurde, was am Zustand der kommunistischen Unfreiheit rein gar nichts änderte. Hermaszewski, auch wenn er bald wieder nach Moskau zum Studieren zurückkehren durfte, stand während der ganzen Zeit auf der Liste der 22 Juntamitglieder. Auf deren Konto gingen tausendfache Internierungen, Verhaftungen und drakonische Gefängnisstrafen, die Prügelorgien der Bereitschaftspolizei ZOMO, erschossene Bergleute in der Grube „Wujek“, sowie Demonstranten in Lubin und in Nowa Huta, Berufsverbote, erzwungene Emigrationen.

Hermaszewski fand nicht den Mut, aus der Junta auszutreten, also zeichnete auch er wissentlich mit seinem Namen für all diese Repressalien verantwortlich. Zudem galt sein Mitgefühl bis zuletzt nicht den Opfern, sondern sich selbst, dem angeblich hinters Licht geführten, zu Propagandazwecken missbrauchten, ahnungslosen und aufrechten Soldaten.

Aushängeschild des Kommunismus.

Brav ließ er sich bis zum letzten Atemzug des Kommunismus 1989 als dessen Aushängeschild benutzen. Genosse Hermaszewski war Delegierter des 8. (1980) und 10. (1986) Parteitages der herrschenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, Ehrengast des 9. Außerordentlichen Parteitages (1981), stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Polnisch-Sowjetische Freundschaft, wurde 1982 zum Oberst und 1988 zum Brigadegeneral befördert. Vom Kommunisten wurde er zum Postkommunisten und trat 2005, als Pensionär, der Allianz der Demokratischen Linken bei, einer Partei der roten Nostalgiker und grauhaarigen Waisenkinder des Sozialismus.

Auf dem anderen Blatt standen, neben dem Flug ins All, gut zweitausend Stunden im Cockpit, 3.473 Starts und Landungen eines zweifelsohne begabten Piloten, der es bis zum Generalinspekteur der polnischen Luftwaffe gebracht hat, bevor er im Jahr 2001 pensioniert wurde.

Er war ein mutiger Eroberer der Lüfte und ein Hasenfuß am Boden, der sich einst zum Weichspülen des Kommunismus benutzen ließ und danach so tat, als wäre nichts gewesen.

@ RdP




30.12.2022. Polnischer Warnruf auf deutschen Irrwegen

Mut stand 2022 sehr hoch im Kurs. Gefragt waren in diesem vom Krieg geprägten „annus horribilis“ beherzte Politiker, Soldaten und Helfer, aber nicht nur. Am Jahresende sei hier an einen weitgehend verschwiegenen Akt christlichen Mutes erinnert und zwar an den Brief, den der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki (fonetisch: Gondetski) im Februar 2022 „Aus brüderlicher Sorge“ an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, den „Lieben Bruder im Bischofsamt“, Georg Bätzing, gerichtet hat.

Was Erzbischof Gądecki schrieb erforderte Mut, weil es sich eindeutig gegen den vorherrschenden Zeitgeist richtet. Wer seine Treue zum Evangelium mit einer solchen Deutlichkeit öffentlich bekundet, der setzt sich unweigerlich tausendfach wiederholten Vorwürfen und Schmähungen aus, er sei frauenfeindlich, homophob u.s.w. „In der modernen Welt wird Gleichheit oft missverstanden und mit Uniformität gleichgesetzt. Jeder Unterschied wird als ein Zeichen von Diskriminierung behandelt“, stellt Erzbischof Gądecki dazu fest.

Dem Briefautor ging es um den sogenannten Synodalen Weg, auf den sich, dem Zeitgeist huldigend, die katholische Kirche in Deutschland auf der Suche nach Erneuerung begeben hat. Die Verwirklichung der Reformpläne käme einer so weitgehenden Abkehr von der katholischen Lehre gleich, dass am Ende eine Kirchenspaltung und der Einzug der deutschen Reformer in das Lager des liberalen Protestantismus stünden.

Dieser Gefahr galt „Die brüderliche Sorge“ des Metropoliten von Poznań. Er gliederte seinen Brief in fünf Teile, von denen jeder eine Warnung vor den Versuchungen enthält, denen nicht nur deutsche Katholiken von heute ausgesetzt sind.

Die erste Versuchung besteht darin, die Fülle der Wahrheit außerhalb des Evangeliums zu suchen. Das widerfährt gerade den deutschen „Reformkatholiken“. So etwas, schreibt Erzbischof Gądecki, ist im Laufe der Geschichte immer wieder geschehen.

Man denke nur an die sogenannte Jefferson-Bibel. Der dritte amerikanische Präsident, hauptsächlicher Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und einer der einflussreichsten Staatstheoretiker der Vereinigten Staaten, behauptete, dass die Evangelien Passagen enthielten, die sehr weise und erhaben seien, und sicherlich direkt von Jesus stammen, aber auch törichte und triviale Stellen, die, so gesehen, von ungebildeten Aposteln stammen müssten.

In der Überzeugung, dass er über die Kenntnis verfüge, die einzelnen Aussagen nach diesen Kriterien trennen zu können, beschloss Jefferson, das mit einer Schere zu tun. So schuf er einen „moderneren“ Bibel-Text, der nach seiner Ansicht besser als das Original war. Doch gerade in den nach seiner Auffassung „weniger“ anspruchsvollen Abschnitten der Bibel, die unter die „Jefferson-Schere“ fielen, befand sich das proprium christianum – das, was allein dem Christentum eigen ist.

Die zweite Versuchung äußert sich im Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft. Wer ihr erliegt, konfrontiert die Lehre Jesu ständig mit den neuesten Entwicklungen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Wenn etwas im Evangelium nicht mit dem aktuellen Wissensstand übereinstimmt, versucht er das Evangelium zu „aktualisieren“, in dem Irrglauben Jesus davor schützen zu müssen, sich in den Augen der Zeitgenossen zu blamieren.

Die Versuchung, sich zu „modernisieren“, betrifft inzwischen insbesondere den Bereich der sexuellen Identität. Dabei wird jedoch vergessen, dass sich der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse oft ändert, manchmal sogar dramatisch. Man braucht nur die einst durchaus vorherrschenden wissenschaftlichen Theorien wie Rassismus oder Eugenik zu erwähnen.

Die dritte Versuchung ergibt sich daraus, dass die Katholiken von heute, so Erzbischof Gądecki, unter dem enormen Druck der öffentlichen Meinung leben, was bei vielen von ihnen Scham und Minderwertigkeitskomplexe hervorruft. Der Glaube ist heute kein selbstverständlicher Bestandteil des allgemeinen Lebens mehr, sondern wird oft geleugnet, an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht. Daraus ergeben sich die Relativierung und das Verbergen der eigenen christlichen Identität und der religiösen Überzeugungen angesichts eines zunehmend glaubensfeindlichen öffentlichen Lebens.

„Getreu der Lehre der Kirche dürfen wir nicht dem Druck der Welt oder den Modellen der gerade vorherrschenden Kultur nachgeben, weil das zur moralischen und geistigen Bestechlichkeit führt. Es gilt die Wiederholung abgedroschener Slogans und Standardforderungen wie die Abschaffung des Zölibats, das Priestertum der Frauen, die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene oder die Segnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu vermeiden. So ist die „Aktualisierung“ der Begriffsbestimmung der Ehe in der EU-Grundrechtecharta lange noch kein Grund, das Evangelium zu verzerren“, schreibt Erzbischof Gądecki.

Die vierte Versuchung besteht darin, das gesellschaftliche Leben zu kopieren. „Ich bin mir bewusst, dass die Kirche in Deutschland kontinuierlich Gläubige verliert und dass die Zahl der Priester von Jahr zu Jahr abnimmt. Die Kirche steht in dieser Hinsicht vor der Gefahr eines korporativen Denkens: »Es gibt einen Personalmangel, wir sollten die Einstellungskriterien senken«. Daher die Forderung, die Verpflichtung zum priesterlichen Zölibat aufzuheben, Frauen ins Priesteramt zu berufen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu segnen“.

Und schließlich die fünfte Versuchung, sich dem Druck zu beugen. Hierzu stellt der polnische Oberhirte unter anderem fest: „Trotz Empörung, Ächtung und Unpopularität, kann die Katholische Kirche, die der Wahrheit des Evangeliums treu ist und gleichzeitig von der Liebe zu jedem Menschen angetrieben wird, nicht schweigen und diesem falschen Menschenbild zustimmen, geschweige denn es segnen oder fördern.“

Das wohldurchdachte, mit vielen starken Argumenten versehene Schreiben von Erzbischof Gądecki, das hier nur fragmentarisch wiedergegeben werden konnte, hat in Deutschland keine Diskussion ausgelöst. Nur einige kurze Notizen in kircheninternen Zeitschriften waren ihm gewidmet. Im Grunde wurde es totgeschwiegen.

Darüber hinaus wiesen deutsche Bischöfe, die am Veränderungsprozess am aktivsten beteiligt sind (Bischof Bätzing ist einer von ihnen), mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig ist, darauf hin, dass Erzbischof Gądecki den Brief nur in seinem eigenen Namen und nicht im Namen des polnischen Episkopats geschrieben habe.

Das ist richtig, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass der Brief den Kern des Problems trifft. Er umschreibt sehr präzise die Versuchungen, denen die Katholiken in Deutschland ausgesetzt sind und die Situation in vielen anderen Ländern, darunter, leider, teilweise auch die Lage der Kirche in Polen.

Ist Erzbischof Stanisław Gądecki ein einsamer Rufer in der Wüste? Zum Glück noch nicht, und außerdem, wie man sieht, wer dem Evangelium vertraut, hat nicht auf Sand gebaut.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 3. Oktober bis 24. Dezember 2022

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Polens Energiesituation: Anlass beunruhigt zu sein gibt es nicht. ♦ Parlamentswahlen im Herbst 2023. Der Vorwahlkampf hat begonnen. Kommt es zu einem Machtwechsel? Trends, Prognosen, Aussichten ♦ Deutscher Führungsanspruch versus deutsches Versagen. Warum  eigentlich soll sich Polen von Deutschland führen lassen?




22.12.2022. Wintertest. Russland ist entbehrlich geworden

Die Kältewelle, die im Dezember 2022 über Europa hinwegfegte, hatte auch politische Folgen, und zwar von epochaler Bedeutung. Es ist nämlich klar geworden, dass Russland es nicht geschafft hat, Europa mit seinen Energiewaffen in die Knie zu zwingen. Die europäischen Energieversorgungssysteme haben zwar geächzt, aber sie sind nicht zusammengebrochen:

Die Lichter blieben an. Die Fabriken arbeiteten. Die Einkaufszentren waren geöffnet, und die Wohnungen wurden beheizt, auch wenn das alles viel mehr gekostet hat als noch vor einem Jahr.

Es geschah während die beiden Nord Stream-Gasleitungen außer Betrieb sind, die russischen Gaslieferungen durch Sanktionen auf ein winziges Rinnsal gestutzt wurden und die EU-Staaten sich auf einen Höchstpreis für russisches Erdgas festgelegt haben.

Europa wurde durch zusätzliche Flüssiggaslieferungen aus den USA und Katar und durch die ersten Transporte von den neuen Gasfeldern vor der Küste Mosambiks, einer sehr vielversprechenden Versorgungsquelle, gerettet. Zudem schaffte es der Westen, seinen Energieverbrauch zu drosseln.

Jetzt deutet alles darauf hin, dass unser Kontinent durch den Winter kommen wird, ohne in eine katastrophale Energienotlage zu geraten. Wir haben noch den Januar und den Februar vor uns, die beiden kältesten Monate des Jahres, aber es ist bereits klar, dass das neue System funktioniert. Der erste und wichtigste Test ist bestanden.

Für Russland gleicht das einer Katastrophe. Offensichtlich hat Putin den freien Markt unterschätzt. Gewiss, der freie Markt ist nicht perfekt, aber eins muss man ihm lassen: Er ist sehr flexibel. Höhere Preise generieren zusätzliche Lieferungen aus anderen Quellen.

Die Energiekarte in der Hand, wollte Putin den Westen zwingen, seine Unterstützung für die kämpfende Ukraine zurückzuziehen. Doch er konnte diese Karte nur einmal ausspielen. Jetzt kann er den Westen nicht mehr mit der Drohung einschüchtern, die Energielieferungen zu unterbrechen. Die Drohung hat sich als leer erwiesen.

Zudem hat Putin im Zuge dieser Inszenierung seine eigene Wirtschaft zerstört. Warum? Weil Russland, abgesehen von Gas und Öl, nichts produziert, was für die Außenwelt von existenzieller Bedeutung wäre. Und inzwischen gehören die Zeiten, in denen Russland ein großer Energieexporteur war, der Vergangenheit an.

Außer den Atomwaffen hat Russland alles in die Waagschale geworfen, was es besitzt. Vergeblich. Wenn der Westen den ersten Winter übersteht, wird er auch in den darauffolgenden Wintern Herr der Lage sein und umso besser ohne russische Importe auskommen. Er wird auch die Inflation in den Griff bekommen, die Europa und den Vereinigten Staaten so sehr zu schaffen macht.

Diese Gesamtentwicklung zeichnet sich immer deutlicher ab und sie wird sich durchsetzen, freilich unter einer Bedingung: Es werden mit Putin keine faulen Kompromisse geschlossen.

RdP