1.05.2022. Es gibt ein Leben ohne russisches Gas in Polen

Das bis vor Kurzem Unvorstellbare hat sich ereignet und nichts ist passiert. Weder die polnische Industrie, noch die Haushalte merken etwas davon, dass Russland Polen am 27. April 2022 den Gashahn zugedreht hat. Das Land ist gut gewappnet. Wie war das möglich?

Lange hieß es, die russophoben Polen haben geradezu einen Narren an der Energieunabhängigkeit ihres Landes vom großen Nachbarn gefressen. Und man weiß ja nicht erst seit heute, dass jedem Narren seine Kappe gefällt. Also ernteten die Polen jahrelang das selbstgefällig-süffisante Lächeln deutscher Politiker, das man gemeinhin nur keck auftretenden Kleinkindern zuteilwerden lässt.

Das Mitleid galt ausdrücklich Polens „hinterwäldlerischen“ Nationalkonservativen, die sich der Energieunabhängigkeit von Russland restlos verschrieben haben. Der 2010 tödlich verunglückte Staatspräsident Lech Kaczyński hatte diesbezüglich bereits versucht, gemeinsame Projekte mit Litauen, Aserbaidschan, der Türkei und der Ukraine einzufädeln.

Doch Frau Merkels politischer Ziehsohn und Günstling Donald Tusk, zwischen 2007 und 2014 polnischer Ministerpräsident, und seine Mannschaft fielen dem polnischen Staatsoberhaupt immer wieder in den Arm. Sie steuerten, wie ihre geistige Heimat Deutschland, kräftig dagegen, in Richtung Abhängigkeit von Russland.

Der 2006 von der Regierung Jarosław Kaczyński begonnene Bau des Flüssiggas-Terminals in Świnoujście/Swinemünde wurde nach dem Machtwechsel 2007 zu Tusk als nicht vorrangig betrachtet und bis 2015 verschleppt. Im Jahr 2010 unterschrieb die Tusk-Regierung zudem einen preislich äußerst ungünstigen Gasvertrag mit Russland, der ursprünglich bis 2037 gelten sollte. Nach heftigen Protesten im Land und dem Einspruch der EU-Kommission wurde er vonTusk, notgedrungen, auf Ende 2022 verkürzt.

In seiner unverbrüchlichen Treue zu Frau Merkel handelte Tusk, nicht nur in diesem Fall, gegen lebenswichtige Interessen Polens. Brav sein war oberstes Gebot. Als „antirussischer Störenfried“ hätte Tusk 2014 keine Chance gehabt, von Frau Merkel für seinen langersehnten Traumjob als EU-Ratspräsident protegiert zu werden. Hätte Putin Polen damals den Gashahn zugedreht, wäre die Panik in Polen riesengroß gewesen. Das Land war auf russische Gaslieferungen angewiesen.

Das zu ändern war, wie wir heute sehen, für Polen überlebenswichtig. Deswegen drückten die regierenden Nationalkonservativen 2015, nach ihren Siegen in den Staatspräsidenten- und Parlamentswahlen, in Sachen Energieunabhängigkeit aufs Gaspedal.

Endlich wurde das Flüssiggas-Terminal in Świnoujście in Betrieb genommen. Es deckt heute, durch Tankerlieferungen aus Katar, den USA, Norwegen und Nigeria, ein Drittel des polnischen Gasbedarfs, der sich auf 20 Milliarden Kubikmeter jährlich beläuft. Die Lieferungen aus Norwegen kommen von Gasfeldern vor der Küste des Landes, die Polen gekauft hat und die der staatliche polnische Mineralölkonzern Orlen betreibt.

Das wichtigste Projekt jedoch ist die Baltic Pipe, eine Erdgasleitung, die von Norwegen über Dänemark durch die Ostsee bis nach Polen reicht. Im Oktober 2022, genau zu Beginn der Wintersaison, soll die Baltische Röhre in Betrieb genommen werden. Durch sie sollen bis zu 10 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Polen gepumpt werden, was der Hälfte des polnischen Bedarfs entspricht.

Zudem achten die Behörden seit einigen Jahren penibel darauf, dass die Gaslager stets gut gefüllt sind. Während die Gasspeicher in der EU im Durchschnitt nur zu 30 Prozent voll sind, beträgt der entsprechende Wert in Polen 78 Prozent – Tendenz steigend. Mit den 4 Milliarden Kubikmetern jährlicher Eigenförderung reicht das aus, um den laufenden Verbrauch zu decken.

Zudem entstehen jetzt zusätzliche Gasleitungen nach Deutschland, Litauen und in die Slowakei, um im Ernstfall auch von dort Gas zu beziehen oder umgekehrt von Polen aus in diese Länder zu liefern. Wenn demnächst ein weiteres Flüssiggas-Terminal in Danzig betriebsbereit sein wird, soll Polen zu einem der größten Erdgas-Exporteure innerhalb der EU aufsteigen.

Haben ist allemal besser als brauchen.

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RdP